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Titel
Ist das Erfahrungswissen zu pflanzlichen Vielstoffgemischen fit für die Zukunft?
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25. Schweizerische Tagung für Phytotherapie
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1983
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25. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 25. NOVEMBER 2010
Ist das Erfahrungswissen zu pflanzlichen Vielstoffgemischen fit für die Zukunft?

Herbert Schwabl
Die Phytotherapie als moderne erfahrungsmedizinische Methode
Erfahrungswissen, bezogen auf die Phytotherapie, ist das akkumulierte, wissenschaftlich aufgearbeitete Wissen über das therapeutische Potenzial einer Pflanze oder eines Pflanzengemischs. Schon seit den Anfängen der Menschheit berichten bildliche Darstellungen und schriftliche Quellen über die medizinische Nutzung von Pflanzen. Viele grosse Namen in der Entwicklung der Medizin sind eng mit der Phytotherapie verbunden. Zu nennen sind etwa der persische Arzt Avicenna (arab. Ibn Sina, 980–1037), die bedeutendste Vertreterin der Klostermedizin, Hildegard von Bingen (1098–1179), oder der reisefreudige Paracelsus (geboren in Egg bei Einsiedeln, 1493–1541). Es ist klar, dass sich dieses Wissen nicht auf einzelne Gebiete oder Kontinente beschränkt, seit je wurde in sämtlichen Gegenden der Welt die umgebende Pflanzenwelt zu Heilzwecken gebraucht. So sind neben den europäischen Varianten der Phytotherapie viele weitere regionale Medizinsysteme entstanden, die das Heilwissen über Pflanzen integrierten und über Generationen tradierten. Nimmt man zu den regionalen Varianten noch das Wissen um die Aufbereitung von Pflanzen hinzu und erweitert es um die Kenntnis des Mischens von verschiedenen Pflanzen sowie die Kombination mit anderen natürlichen Stoffen, so entsteht ein reichhaltiges Wissensgebiet. Eine derart erweiterte Phytotherapie nimmt heute eine herausragende Stellung unter den erfahrungsmedizinischen Methoden ein.

Vom Empirismus zur modernen Wissenschaft
Zu Beginn der wissenschaftlichen Revolution wurde das Erfahrungswissen, also die Empirie, noch sehr hoch bewertet, stand sie doch im Gegensatz zum damals weitverbreiteten Dogmatismus. Es ging in den Anfangszeiten der Wissenschaft um die Techniken des genauen Beobachtens und der Introspektion. Diese Methoden erweiterten anfangs das Spektrum der Phytotherapie, etwa durch Naturbeobachtung oder naturkundliche Forschungsreisen. Erst im Lauf der Zeit verlagerte sich die wissenschaftliche Methode von der Empirie hin zur experimentellen Beweisführung, verbunden mit der Anwendung statistischer Methoden. Insbesondere seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts wurde Wissenschaftlichkeit mit den Schlagworten Positivismus, Reduktionismus und Evidenz verbunden. Die Entwicklung der analytischen Methoden in Verbindung mit der kausal-analytischen Modellbildung brachte grosse Erfolge mit sich. Die Pharmazie wurde etwa durch das Prinzip der Monosubstanzen revolutioniert, und noch heute zeigen die Erfolge der chemisch-pharmazeutischen Industrie das Anwendungspotenzial dieser linear-kausalen Methode. Erst in letzter Zeit konnte durch den Einsatz weiter entwickelter Techniken und durch den konzeptionellen Rahmen der Systemtheorie ein Weg hin zu nicht linear vernetzten Modellen gezeigt werden. Die Anwendung dieser Modelle im Bereich der Medizin steht allerdings erst in ihren Anfängen. Insgesamt ist es also nicht verwunderlich, dass heute mancherorts dem Ausdruck «Erfahrungswissen» mit einer gewissen Skepsis begegnet wird. Dies wohl in der Meinung, Erfahrungswissen sei überholt, da es in der Vergangenheit aufgebaut wurde. Es stammt sozusagen aus einem

«goldenen Zeitalter», vor dem Eindringen der experimentellen Wissenschaft; es sei in diesem abgeschlossenen Raum museal konserviert und nur in alten Folianten und Büchern anzutreffen.
Moderne Herausforderungen
Die Kenntnisse der Heilwirkung von Pflanzen haben sich als moderne Phytotherapie zu einem wissenschaftlich abgestützten, medizinisch-pharmazeutischen Wissensgebiet entwickelt. Davon zeugt unter anderem die steigende Zahl der Publikationen (die Datenbank Medline listet im Herbst 2010 etwa 31 000 Publikationen zum Thema «Herbal»). Auch bei optimistischer Betrachtung ist zu erkennen, dass die Menschheit vor grossen Herausforderungen steht. Diese zukünftigen Problemfelder, seien sie ökologischer, ökonomischer oder biologisch-medizinischer Art, verlangen nach verschiedenen Lösungsansätzen. Die Systemforschung konnte zeigen, dass vernetzte Systeme in realen Situationen erfolgreicher agieren als einfach aufgebaute, hierarchische Systeme mit wenigen Verbindungen (Eagle N. et al. Science 2010; 328: 1029–31). Überträgt man diese Erkenntnis auf die heutige Wissenschaft, insbesondere die Medizin, so kann man daraus folgern, dass unsere Gesellschaft zukünftigen Herausforderungen umso besser gewachsen ist, je breiter das Methodenspektrum aufgebaut ist. Diese Überlegung stützt auch die zentralen Forderungen der Komplementärmedizin nach Therapiewahlfreiheit und Therapiefreiheit. Zitat aus dem Forderungskatalog der Initiative «Ja zur Komplementärmedizin» 2006: «Die Menschen begreifen den Umgang mit Gesundheit und Krankheit neben der unvermeidlichen Schicksalshaftigkeit auch als Teilnahme an einem aktiven Prozess der Lebensgestaltung und des Gesundheitsma-

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nagements. Besonders trifft dies für Familien mit Kindern, chronisch Kranke oder Behinderte zu. Die eigenverantwortliche Therapiewahlfreiheit ist eine grundlegende Voraussetzung hierzu: Therapiewahlfreiheit ist die Freiheit, aus einem breiten Angebot verlässlicher Möglichkeiten verantwortungs- und kostenbewusst wählen zu können. Therapiewahlfreiheit setzt die aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten sowie Verantwortung für die eigene Gesundheit voraus. Aus der Therapiewahlfreiheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger ergibt sich zwangsläufig die Therapiefreiheit qualifizierter Fachpersonen.»
Insbesondere in der Medizin zeichnet sich ab, dass neben teuren, hochtechnischen Verfahren auch technologisch einfachere Lösungsansätze gefragt sein werden. So etwa im Bereich Selbstmedikation oder bei chronischen Krankheiten. Hier bieten sich besonders «natürliche» Lösungen an, nämlich die Besinnung auf das Erfahrungswissen der pflanzlichen Vielstoffgemische. Kurz: In einer realistischen Zukunftsvorstellung wird der Schatz des Erfahrungswissens unverzichtbar bleiben. Der Raum der Erfahrungswissenschaft ist zudem nicht abgeschlossen. Ständig kondensiert durch die Auseinandersetzung mit der uns umgebenden Natur neue Erfahrung und erweitert damit den empirischen Horizont. Die Phytotherapie steht ja am Schnittpunkt der therapeutischen Interaktion Pflanze-Mensch. Die Frage stellt sich: Wo tut sich Neues auf, wo ist noch Unerkanntes zu entdecken?
Aspekte einer Phytotherapie der Zukunft
Die im Titel gestellte Frage ist eigentlich unmöglich zu beantworten, denn wer kann schon in die Zukunft schauen? Ausgehend von bereits heute sichtbaren Tendenzen möchte ich drei Bereiche zukünftiger Herausforderungen aufzeigen, die mit den Schlagworten Arzneimittelzulassung, Wissenschaft und Globalisierung umschrieben werden können. Meiner Ansicht nach werden derartige Trends die Phytotherapie der Zukunft prägen. 1. Bestehendes Erfahrungswissen wird
heute von der Zulassungsbehörde Swissmedic – im Einklang mit der EUGesetzgebung – unter dem Label «traditionell» anerkannt. Ein Blick in die Schweizer Phyto-Anleitung (Swissmedic:

Anleitung zum Einreichen von Zulassungsgesuchen für pflanzliche Arzneimittel der Humanmedizin vom 1. Oktober 2006) zeigt folgende Anforderung: «Bei traditionell verwendeten pflanzlichen Arzneimitteln, welche die nachfolgenden Bedingungen kumulativ erfüllen, können die Untersuchungen über die therapeutische Wirksamkeit und Sicherheit (klinische Prüfungen) durch eine spezielle bibliografische Dokumentation ersetzt werden, wonach das beziehungsweise ein vergleichbares Arzneimittel nachweislich seit mindestens 30 Jahren in der beanspruchten Indikation, Dosierung und Anwendungsart medizinische Verwendung findet; wobei eine mindestens 15-jährige Anwendung im westlich-europäischen Kulturkreis dokumentiert sein muss.»
Für die Komplementärmedizin ist dieser Passus über traditionelle Arzneimittel besonders wichtig. Er weist aber gleichzeitig auf ein eklatantes Problem hin: Wie kann neues Erfahrungswissen in die Praxis umgesetzt werden, wenn aktuelles (d.h. jünger als 30 Jahre) Erfahrungswissen über Pflanzen oder Anwendungsgebiete als «neu» klassiert wird? Und konkret in der Phytotherapie:Wie soll die Produktpipeline in Zukunft gefüllt werden, wenn bereits von Anfang an eine langjährige Anwendung bekannt sein muss? Hier muss nach Lösungen gesucht werden, die es ermöglichen, phytotherapeutische Weiterentwicklungen als Heilmittel zu registrieren, ohne dass sie gleich auf die unendlich aufwändige Registrierungsschiene der NewChemical-Entity gesetzt werden. Gelingt es nicht, die Hürden für die Registrierung pflanzlicher Arzneimittel adäquat anzupassen, wird ein verstärktes Abwandern hin zu Nahrungsergänzungen die Folge sein. In diese Richtung sind bereits erste Tendenzen wahrzunehmen. 2. Durch neue wissenschaftliche Techni-
ken und Verfahren kommen stets neue Impulse für das bestehende Wissen. Ich möchte hier nur zwei Ansätze erwähnen: In der Systembiologie wird die Wirkung von Pflanzen auf Zellen und Organsysteme durch das neue Methodenspektrum der «omics»-Techniken (Genomik, Proteomik, Metabolomik etc.) erforscht. Es zeigt sich bereits, dass unser Wissen über die biologisch-medizinische Wirkung von Stoffen, und damit auch von Pflanzen, einer komplet-

ten Erneuerung unterzogen wird. Insbesondere die Genetik lernte in den letzten Jahren viel dazu: Wurde anfangs noch mit dem linearen Muster «ein Gen – eine Krankheit» gearbeitet, steht man heute vor einem neuen Paradigma. Die Epigenetik zeigt die ungemein verschachtelte Information, die in unserem Genom gespeichert ist. Interessanterweise zeigen die «omics»-Wissenschaften wenig Scheu, sich mit dem Vielstoffkonzept der Phytotherapie auseinanderzusetzen, wodurch viele neue und spannende Forschungsansätze entstehen. Ein weiterer Wissenszweig, von dem Erneuerungen zu erwarten sind, ist die Ökosystemforschung. Hier wird unter anderem das Agieren von einzelnen Organismen und Sozietäten in einem ökologischen Netzwerk untersucht. Es ist zu erwarten, dass durch besseres Verständnis der Rolle von Pflanzen in Ökosystemen auch die biologische Funktionalität der Inhaltsstoffe neu bewertet wird. Des Weiteren stellt sich nach wie vor die pragmatische Frage, wie das Erfahrungswissen in die experimentelle Forschung übergeführt werden kann. An dieser Schnittstelle ergeben sich weitere Herausforderungen, mitunter ganz praktischer Natur. So geht es um die Verteilung von Forschungsgeldern, Stichwort Forschungsförderung. Auch ist das Verschwinden der Professuren für Pharmakognosie zu beklagen, ein Blick auf das Departement für Pharmazie an der ETH Zürich zeigt, dass den Pflanzen bei Forschung und Lehre explizit keine Bedeutung mehr zugemessen wird. Ein weiteres Hindernis ist die zögerliche Beurteilung von phytotherapeutischen Forschungsansätzen durch die kantonalen und regionalen Ethikkommissionen, in manchen Kantonen ein schwieriges bis unmögliches Unterfangen. Hier ist die Forderung der SMGP nach einer einheitlichen Ethikkommission für Phytotherapie zu begrüssen. 3. Die Merkmale der globalisierten Welt, zum Beispiel die zunehmende Mobilität durch Tourismus oder Migration, eröffnen ständig Quellen für neues Erfahrungswissen. Wir können heute davon ausgehen, dass in den Ländern Europas ein wachsender Anteil der Bevölkerung Kenntnisse mitbringt, die aus nahezu sämtlichen Weltgegenden stammen. Parallel dazu ist die europäische Bevölkerung bereit, sei es als Touristen oder

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als Konsumenten global verfügbarer Handelswaren, ihr Repertoire an angewendeten Produkten stets zu erweitern. Es gilt, dieses neue Alltagwissen zu inventarisieren und die Veränderungen im Konsumverhalten zu studieren. Wer hätte noch vor Jahren zum Beispiel an den massenhaften kulinarischen Gebrauch einer derartigen Varietät von damals «exotischen», heute aber alltäglichen Gewürzen und Früchten gedacht. Jedoch werden die neu definierten, globalisierten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dazu führen, dass wir uns in Europa auch im Bereich der Phytotherapie in verstärktem Mass mit der Phytotherapie anderer Kontinente auseinandersetzen müssen. Und hier sind nicht nur die ideellen Konzepte, sondern letztlich auch die real produzierten phytopharmazeutischen Waren gemeint. Die derzeitige Welle von über das Internet angebotenen pharmazeutischen Produkten aller Art mag als ein Vorbote gelten. Auch ist anzumerken, dass Warnungen vor Fälschungen und Qualitätsmängeln nicht allein die Phytoprodukte betreffen, diese Probleme sind leider für den gesamten Pharmamarkt charakteristisch. In einer gemeinsamen Anstrengung gilt es, darauf zu achten, dass die über die Jahre in Europa erarbeiteten Qualitätsstandards der Phytotherapie nicht unterlaufen oder gar ignoriert werden.

Fit für die Zukunft

Im Heute wird der Grundstein für die Lö-

sungen der Zukunft gelegt. Gelebtes Erfah-

rungswissen ist stets auf der Höhe der Zeit.

Wir müssen es aber pflegen und vermeh-

ren. Das Erreichte gilt es mit modernen

wissenschaftlichen Methoden zu vereinen,

und zwar ohne Scheuklappen.

Ein derart gestärktes phytotherapeuti-

sches Erfahrungswissen wird auch in Zu-

kunft fit und aktuell bleiben.

Anschrift des Referenten: Dr. Herbert Schwabl Schweizerischer Verband für komplementärmedizinische Heilmittel SVKH Amthausgasse 18 3011 Bern
und Padma AG Wiesenstrasse 5 8603 Schwerzenbach h.schwabl@padma.ch

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