Metainformationen


Titel
«In ein Fass voll Tobakslauge Tunkt man ihn mit Haut und Haar»
Untertitel
-
Lead
-
Datum
Autoren
-
Rubrik
25. Schweizerische Tagung für Phytotherapie
Schlagworte
-
Artikel-ID
1985
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/1985
Download

Transkript


25. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 25. NOVEMBER 2010
«In ein Fass voll Tobakslauge Tunkt man ihn mit Haut und Haar»
Geschichte und Zukunft der Phytotherapie in der Tierheilkunde

Johann Schäffer

Status praesens
Die Phytotherapie in der Tierheilkunde hat ihre glanzvolle Zeit längst hinter sich. Mit der 18. Auflage des von Eugen Fröhner im Jahr 1888 begründeten «Lehrbuchs der Arzneimittellehre für Tierärzte», die 1950 von dem Leipziger Pharmakologen Richard Reinhardt in seither steter Aktualisierung verfasst worden ist, hat sich die Veterinärmedizin sukzessive von Phytopharmaka zugunsten isolierter oder chemisch-synthetischer Arzneistoffe verabschiedet. Auch die im Vorwort euphorisch formulierte Feststellung «Interessant war mir die Mitteilung, dass das Lehrbuch im medizinischen und pharmakologischen Schrifttum sehr häufig als Quelle für phytotherapeutische Funde erwähnt wird», konnte die Entwicklung nicht aufhalten. Im Zuge der «Bio-Welle» ab Anfang der 1980-er Jahre vollzog sich in der Gesellschaft zwar eine allgemeine Renaissance der Pflanzenheilkunde, auf die überwiegend ökonomisch ausgerichtete Veterinärmedizin dieser Zeit konnte die Welle aber kaum überschwappen. Für die Studierenden war das Fach Botanik (Prüfung im Vorphysikum) ausserdem zu stark theoriebelastet und viel zu stark auf Pflanzenmorphologie und -physiologie ausgerichtet und nicht auf den späteren Einsatz von Phytopharmaka in der kurativen Praxis fokussiert. So ging – und dies im wörtlichen Sinn – eine ganze Lebensgeneration von Tierärzten am Thema Phytotherapie vorbei, und diese Generation fehlt heute im Sektor der Forschung und Lehre.
Überblick der Entwicklung
Wie die Schlaglichter aufzeigende Zeittafel zur Geschichte der Phytotherapie zeigt (siehe S. 13), basierte die Tierheilkunde seit

Bekämpfung von Ektoparasiten (aus Wilhelm Busch, Pater Filucius, 1872)

Jahrtausenden neben geburtshilflichen und chirurgischen Eingriffen an Tieren auf der empirisch begründeten äusser- und innerlichen Anwendung von Heilpflanzen. Nur ein Beispiel: Die älteste Rezeptesammlung für die Behandlung von Pferden aus griechisch-römischer Zeit, die in der byzantinischen Hippiatrika-Sammlung aus dem 9. Jahrhundert erhalten geblieben ist, enthält rund 253 verschiedene vegetabilische, 45 mineralische und 28 animalische Arzneikomponenten. Aber auch bei Tieren galt und gilt: Contra vim mortis, non herba est in hortis (1). Sieht man von den nach humanmedizinischen Kriterien verfassten Kräuterbüchern von Otto Brunfels (1530), Hieronymus Bock (1539), Leonhart Fuchs (1542) und vieler weiterer Gelehrter ab, so bildeten sogenannte Rossarznei-Sammlungen in handschriftlicher oder gedruckter Form bis in die Gründungszeit der erstenTierarzneischulen (Lyon 1761, Alfort 1765, Hannover 1778) die Grundlage tierheilkundlicher Tätigkeit schlechthin. Tiermedizin war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in erster Linie Pferdemedizin. Die Quellenanalyse und fachhistorische Interpretation dieser in der Regel reinen Rezeptesammlungen aus der Feder von Stallmeistern oder Hufschmieden sind Gegen-

stand zahlreicher Dissertationen und Aufsätze, die noch einer kritischen Gesamtauswertung harren (siehe www.vethis.de).
Haustiere im Dienst der Humanmedizin
Im 17. und 18. Jahrhundert waren es fast ausschliesslich Humanärzte, die in grösserem Umfang die Wirkung von Pflanzen und Arzneimitteln an Tieren, vor allem an Hunden, untersuchten. Ein Pionier war Johann Jakob Wepfer in Schaffhausen mit seiner «Geschichte und Gifte des Wasserschierlings» (1669). Standen bei diesen Tierexperimenten toxikologische Fragestellungen noch deutlich im Vordergrund, so begann mit Gerard van Swieten (1700–1772) in Wien durch die Erprobung von Phytopharmaka zunächst im Tierversuch und dann durch die klinische Anwendung am Menschen (zum Beispiel Bärentraube, Stechapfel, Bilsenkraut, Herbstzeitlose) ein Umdenkprozess. Er forderte eine Abkehr von der Polypragmasie und dem allgegenwärtigen Theriak und postulierte als therapeutisches Ziel eine pharmakologisch begründete «Medicina simplex», die gekennzeichnet ist von Einfachheit, Wirtschaftlichkeit und gesicherter Wirksamkeit (2).

thema12

PHYTOTHERAPIE

1/2011

25. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 25. NOVEMBER 2010

Cheiron und sein Schüler Asklepios

Aufklärung und Schulengründung
Seit Gründung tierärztlicher Ausbildungsstätten (ab 1761) bemühten sich auch Tierärzte um die Erforschung der botanischen und pharmakologischen Grundlagen der Phytotherapie und ihrer praktischen Anwendung an Haustieren. Nach dem «Handbuch der Naturlehre für Thierärzte» von Peter Christian Abildgaard und Erik Viborg in Kopenhagen (1800), das 1802 in deutscher Übersetzung erschien und sich mehr der Chemie und Physik verpflichtet sah als der Botanik, stellte aber auch das zweiteilige, 1801 und 1803 publizierte «Handbuch der Zoopharmakologie für Thierärzte» des Apothekers und Lehrers an der Berliner Tierarzneischule, Christian Ratzeburg, noch keinen wesentlichen Fortschritt in der Tierarzneimittellehre dar. Erst der 1813 von Emanuel Veith an der Tierarzneischule Wien (!) herausgegebene «Abriss der Kräuterkunde für Thierärzte und Oekonomen» ist als erstes botanisches Lehrbuch speziell für Tiermediziner in deutscher Sprache anzusehen. Im Jahr 1840 setzte dann Joseph

«Veterinär»papyrus aus Lahun (um 1850. v. Chr.)
Plank in München mit seinem «Grundriss der Veterinär-Botanik oder ThierarzneyPflanzenkunde» und 1870 Eduard Vogel in Stuttgart mit seinem «Taschenbuch der thierärztlichen Arzneimittellehre» den Massstab bis zur Erstauflage von Reinhard Fröhners «Lehrbuch der Arzneimittellehre für Thierärzte» von 1888. (3) «In ein Fass voll Tobakslauge / Tunkt man ihn mit Haut und Haar, / Ob er gleich sich heftig sträubte / Und durchaus dagegen war. // Drauf so wird in einem Stalle / Er mit Vorsicht interniert, / Bis, was man zu tadeln findet, / So allmählich sich verliert. //» Wilhelm Busch (1872): Pater Filucius. – Bis zu diesem Jahr, in dem die Gewerbeordnung des Deutschen Reichs in Kraft trat, war der Titel «Tierarzt» in Deutschland nicht geschützt.
Ausblick
Ein Sprung über die Zeit, ins Jahr 2010: Die Mensch-Tier-Beziehung in den urbanen Gesellschaften des Westens hat sich

grundlegend gewandelt. Der Heim- und Hobbytiersektor, in dem sogar Mini-Pigs vom Versuchstier zum Partnerersatz mutierten, boomt unaufhaltsam weiter, und die Tierhalter fordern immer häufiger human-adäquate Behandlungsmethoden. Die Veterinärmedizin sollte flexibel reagieren und die «Grundlagen der Phytotherapie» wieder im tierärztlichen Curriculum verankern. Nur so kann auch die Forschung stimuliert und intensiviert werden. Auf diesem Weg der Rückbesinnung muss sich die Veterinärmedizin aber auch von Lehrinhalten einer abstrakt vermittelten Botanik lösen, die bereits Ludwig Bojanus 1805 in seinem Buch «Über den Zweck und die Organisation der Thierarzneischulen» als «prunkende Vielwisserei» kritisierte und treffend beschrieb:

Erste Rossarzneisammlung in deutscher Sprache von Meister Albrant (13. Jh.)

Arzneieingabe mittels Trichter (16. Jh.)

1/2011

thema PHYTOTHERAPIE

13

25. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 25. NOVEMBER 2010

«In allem sollte hauptsächlich der theoretische – oder, wie man es nannte, rationelle – Weg eingeschlagen werden, und man gieng darin so weit, dass man die Schüler nöthigte, selbst solche Dinge, die einer unmittelbaren Anschauung bedürfen, in Worten und Beschreibungen aufzufassen, und sie zum Beispiel von einem Hammer lieber die Definition auswendig lernen, als damit hämmern liess (S. 7).» An der Tierärztlichen Hochschule Hannover wird ein Erfolg versprechender Weg beschritten. Die Dozentin Dr. Sabine Aboling bemüht sich in der Vorlesung um einen praxisnahen (Fallberichte), historisch (Futter- und Medizinalpflanzen in der Neuzeit), und pharmakologisch (gezielter Einsatz von Inhaltsstoffen) fundierten Unterricht, der von praktischen Bestimmungsübungen und Exkursionen zur Lehrwiese begleitet wird. Auch im Vorphysikum stehen Praxiskenntnisse im Vordergrund: In einem Pilotprojekt wurden am Ende des Sommersemesters 2010 im hochschuleigenen Heilund Giftpflanzengarten tierärztlich relevante Kenntnisse als E-Prüfung – am Beet mit Laptop in der Hand – abgenommen.
Zeittafel
?: Cheiron: Der in der griechischen Mythologie einzige unsterbliche Kentaur soll der Heilkunst kundig gewesen sein und im Peliongebirge (Thessalien) Heilkräuter gesammelt und angewendet haben. Er gilt als legendärer Begründer der Tierheilkunde und wurde Lehrmeister unter anderem des Asklepios. Das Primat der Tierheilkunde gegenüber der Humanmedizin ist ein mythologisches Faktum. Um 1850 v. Chr.: Der sogenannte Veterinärpapyrus von El-Lahun – das älteste Schriftzeugnis der Tierheilkunde – belegt, dass in Altägypten Heilpflanzen unter anderem für Einreibungen und Räucherungen bei Rindern verwendet wurden. 1400–1200 v. Chr.: Die ältesten Texte über Pferdeheilkunde, überliefert auf vier Tontafeln aus Ugarit (Nordsyrien), umfassen Vorschriften zur Auswahl von Heilpflanzen (z.B. Lattich) nach Qualitätskriterien und Anweisungen zum Zubereiten der Arzneien. Ab 2. Jh. v. Chr.: In den lateinischen Büchern «Über den Landbau» von Cato, Varro und Columella nimmt die Behandlung kranker Haustiere mit volkstümlichen Heilpflanzen, die in der Regel von den Hirten durchgeführt wurde, einen breiten Raum ein.

Medizinische Versorgung der Jagdhunde nach Gaston Phoebus (Ms. fr. 616, 1410)

4. u. 5. Jh. n. Chr.: Es entsteht eine eigenständige pferdeheilkundliche Fachliteratur in griechischer Sprache durch Apsyrtos, Theomnestos und Hierokles sowie in lateinischer Sprache durch Pelagonius, «Chiron» (ein Pseudonym) und Vegetius. Der Arzneischatz auf der Basis von Heilpflanzen, die äusserlich in Salben, Pflastern und Umschlägen sowie innerlich in Tränken, Eingüssen und Einläufen verwendet werden, ist für die Anwendung bei Pferden kaum geringer als beim Menschen. Um 1250–1750: In der sogenannten Stallmeisterzeit sind die Vorsteher der Marställe Hauptträger der literarischen Überlieferung. Über Pferdeheilkunde Bescheid zu wissen, war Berufspflicht. Dazu zählte auch die Kenntnis der Heilpflanzen und der Zubereitung von Arzneien. Ab 1250: Meister Albrant, ein Schmied am Hof des Stauferkaisers Friedrich II., verfasst das erste Rossarzneibüchlein in deutscher Sprache (= älteste deutsche Fachprosa überhaupt). Es enthält nur 36 kurze Rezepte, wird aber in den folgenden Jahrhunderten in einer Fülle von an Umfang zunehmenden Abschriften in ganz Europa verbreitet. Pflanzliche Heilmittel wie Rettich, Ingwer, Knoblauch sowie verschiedene Pflanzenöle wurden in der Stallapotheke vorrätig gehalten.

Ende 13. Jh.: Theoderich von Cervia empfiehlt zur Ruhigstellung von Pferden erstmals Einschläferungstränke auf der Basis von Bilsenkrautsamen. Laurentius Rusius verwendet ein Jahrhundert später ausserdem noch Mohnsamen. Ende 14. Jh.: In Jagdbüchern, unter anderem im «Livre de Chasse» von Gaston Phoebus, Graf von Foix (Gascogne), wird die Behandlung auf der Jagd verletzter Hunde unter anderem mit Pflastern und Salben beschrieben. Die pflanzlichen Zutaten der Arzneien, auch für die innerliche Anwendung, sollte der Jäger in der Apotheke kaufen. Ab 1500: Die Erfindung des Buchdrucks verhilft der Renaissance auch in der Tierheilkunde zum Durchbruch. Landessprachliche Übersetzungen der spätantiken Texte über Pferdeheilkunde wie der Mulomedicina (= Maultiermedizin) des Vegetius (deutsch 1532) oder der griechischen Hippiatrika-Sammlung (deutsch 1575) mit ihrer Fülle an pflanzlichen Heilmitteln sind mitbestimmend für die «Schultiermedizin» bis Ende des 18. Jahrhunderts. 17. und 18. Jh.: Auch zur Prophylaxe und Therapie von Tierseuchen werden immer wieder altüberlieferte pflanzliche Rezepturen verwendet.Wie wir heute wissen, beruhigten viele dieser «Remedia» lediglich die

thema14

PHYTOTHERAPIE

1/2011

25. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 25. NOVEMBER 2010

1928: Pharmazeutische Übungen
2010: Unterricht in Botanik Psyche der Menschen. Zum Schutz vor dem Angriff und dem Biss tollwütiger Hunde führte man auf Reisen zum Beispiel Walburgisöl mit sich. 1703: In seinem Traktat von der «Stuterey oder Fohlen-Zucht» empfiehlt Georg Si-

mon Winter von Adlersflügel, beim Bau eines Gestütes Gärten anzulegen, «in welchen keine Bäume / sondern gute Kraeuter / Wurtzeln und Saamen sollen gepflanzt werden / welche man bey einer Stuterey vonnoethen ...» (1703). In der Gestütsapotheke sollten Heilpflanzen von A wie Andorn bis Z wie Zaunrübe zur Verfügung stehen. Ab 1761: In den Lehrplänen der in rascher Folge gegründeten Tierarzneischulen am Ende des 18. Jahrhunderts ist von Anbeginn auch der Unterricht in Botanik verankert. Schwerpunkt bildete dabei die Arznei- und Giftpflanzenkunde. 1778: Der Lehrplan der Ross-Arzney-Schule Hannover schreibt im Sommersemester vor, dass «den Schülern die in der Thierarznei nützlichen Hülfsmittel angezeigt, auch ihre Wirkung und Zubereitung bekannt gemacht werden, wozu die in der Schule befindliche Apotheke, auch die gepflanzten Kräuter zur Anleitung dienen sollen». Seit ca. 1980: Alte Naturheilverfahren werden auch in der Veterinärmedizin wiederentdeckt. Die Phytotherapie erlebt dadurch zwar eine gewisse Renaissance, wird aber nicht wieder Gegenstand der tierärztlichen Ausbildung, sondern bleibt auf den

Fortbildungssektor im Bereich der Komple-

mentärmedizin beschränkt, und in diesem

Sektor gilt bis heute: «Jedermann darf je-

dermanns Tiere behandeln (4).»

Univ.-Prof. Dr. Dr. Johann Schäffer Tierärztliche Hochschule Hannover Fachgebiet Geschichte, Museum, Archiv Bischofsholer Damm 15 (Haus 120) D-30173 Hannover johann.schaeffer@tiho-hannover.de www.vethis.de

1. Zum Überblick: Schäffer, Johann (1987): Das Corpus Hippiatricorum Graecorum – ein umstrittenes Erbe. In: Sudhoffs Archiv 71 (2), 217–229. – Weitere Literatur auf www.vethis.de.
2. Stille, Günther (2004): Kräuter, Geister, Rezepturen. Eine Kulturgeschichte der Arznei. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 106–108.
3. Papadopoulos, Daphne (2002):Transkription und Besprechung einer Handschrift über «Terminologie et Physiologie der Botanik» nach J. F. W. Blank (1806). Hannover, Tierärztliche Hochschule, Diss., 171–178.
4. Schäffer, Johann (Hrsg. 2010): «Tierheilkundige» in Geschichte und Gegenwart / «Animal Healers» – past and present. (= Bericht der 15. Jahrestagung des Fachgebiets Geschichte der TiHo Hannover und der Fachgruppe Geschichte der DVG). Verlag der DVG Service GmbH, Giessen, 238 pp.

1/2011

thema PHYTOTHERAPIE

15