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23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008
Leber und Galle im Zentrum ganzheitlicher Behandlung
Im Gegensatz zu den Einsichten der konventionellen Medizin spielen Leber und Galle besonders im funktionellen Sinn eine zentrale Rolle, so-
Tabelle 1:
Saft Blut gelbe Galle schwarze Galle Schleim
Element Luft Feuer Erde Wasser
Farbe rot gelb schwarz weiss
Eigenschaft heiter kühn trotzig träge
Temperament Sanguiniker Choleriker Melancholiker Phlegmatiker
wohl in der Betrachtung als
auch in der ganzheitlichen
Behandlung diverser, vor al-
lem chronischer Krankheiten.
Cesar Winnicki
Leber und Galle in der Geschichte der Medizin
Die Grundlage der Traditionellen Chinesischen Medizin bildet die Fünf-ElementenLehre, welche vor fast 4000 Jahren formuliert wurde. Demnach werden Leber und Galle in der Wandlungsphase Holz vor allem mit Aufbau, Regeneration und Bewegung in Verbindung gebracht. Die weiteren Attribute dieser Wandlungsphase sind Frühling, Wind als Auslöser sowie die Elemente Feuer und Wasser. Die Wandlungsphase Holz hat mit organischen Problemen im Bereich der Sehnen und des Auges sowie mit psychischen Eigenschaften wie Zorn und Wut zu tun. Der Verlauf des Gallen-Blasen-Meridians, vor allem im Kopfbereich, impliziert die möglichen therapeutischen Ansätze insbesondere bei Neuralgien, Migräne, Kopfschmerzen sowie Schwindel. All diesen Krankheitsbildern gemeinsam sind der einschiessende, blitzartige Schmerzcharakter sowie die Wind- und Zugluftabhängigkeit.
Hippokrates (460 bis 375 v. Chr.), Urvater der modernen europäischen Medizin, sah die Gesundheit als eine ausgewogene Mischung der vier Körpersäfte: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Diesen vier Körpersäften wurden entsprechende Elemente, Farben, psychische Eigenschaften sowie Temperamente zugeordnet (Tabelle 1). Deshalb wurde das cholerische Temperament der Gallenblasenfunktion und das melancholische der Leberfunktion zugeordnet. Die positiven psychischen Eigenschaften eines Cholerikers wie Ehrgeiz, Mut, Selbstbewusstsein können im krankhaften Prozess in Ungeduld, Sturheit und Arbeitssucht münden. Diese psychopathologische Entwicklung bildet die Grundlage für die heute so häufigen psychosomatischen Leiden wie Burnout, Neurosen oder Angstsyndrome. Der sensible, zuverlässige, genaue aber nachdenkliche Melancholiker kann unter ungünstigen Umständen zu einem launischen, kleinlichen, kritischen und pessimistischen Menschen werden. Endstadium dieser negativen Entwicklung stellt die Depression dar. Dieser für die moderne Psychiatrie etwas abstrakte Aspekt müsste in einer ganzheitlichen Behandlung von Depression oder Burn-out mit berücksichtigt werden. Der Kern des medizinischen Systems von Paracelsus (1493–1541) bildete die ständige Wechselwirkung zwischen dem Mikrokosmos (Mensch) und dem Makrokosmos (Na-
Tabelle 2:
Planet Saturn Jupiter Mars Sonne Venus Merkur Mond
Metall Blei Zinn Eisen Gold Kupfer Quecksilber Silber
Organ Milz Leber Galle Herz Niere Lymphe Blase
tur, Umfeld). Sowohl die Ursache als auch die adäquate Behandlung sollen laut paracelsischer Lehre im direkten Umfeld des Betroffenen gesucht werden. Inspiriert durch die damals sehr populäre Alchemie behauptete Paracelsus, dass der Mensch unter dem Einfluss von sieben Planeten steht. Das materielle Korrelat für diese kosmische Einwirkung sollten im menschlichen Körper die sieben Metalle und die ihnen zugeordneten Organe darstellen (Tabelle 2). In dieser Theorie wurde das Organ Leber mit Jupiter und Zinn, die Galle mit Mars und Eisen verbunden. Der Planet Jupiter, der in der griechischen Mythologie mit Gott Zeus in Beziehung stand, bildete die Basis für Eigenschaften wie Vernunft, Würde und Durchsetzungsvermögen. Die pathologische Veränderung dieser Anlagen führt zu Grössenwahnsinn und Destruktion, was wiederum in der paracelsischen Lehre klinisch zu neurodegenerativen Krankheiten führt.
thema PHYTOTHERAPIE
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23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008
Tabelle 3:
Wesensglied Ich Astralleib Ätherleib physischer Leib
Element Wärme Luft Wasser Erde
Der Planet Mars war Symbol für den Kriegsgott und stand für sogenannte martialische Anlagen wie Mut, Kampf und Tatkraft. Die Kehrseite dieser Anlage umfasste Aggression, Zorn und Streitsucht. Demnach war die Gallenfunktion ursächlich für Erschöpfung, Kreislaufschwäche und Atonie der Muskeln verantwortlich. Vom Gründer der anthroposophischen Medizin, Rudolf Steiner (1861–1925), wurde die Leber als Willensorgan definiert. «Die Leber vermittelt immer das Umsetzen der vorgenommenen Ideen in die durch Gliedmassen durchgeführten Handlungen», so Rudolf Steiner. In der viergliedrigen Menschenkunde stand die Leber in Verbindung mit dem Ätherleib. Die postulierte Aufgabe des Ätherleibes war, die rein physikalischen Prozesse zum Leben zu befähigen. Eine
Tabelle 4: Leber-Gallen-Behandlung Direkte Indikation (Gastroenterologie):
◆ Lebererkrankungen: Viren, Toxine, Autoimmunprozesse
◆ Gallenblase: Steine, Dyskinesien ◆ Magen: GERD, Dyspepsie ◆ Darm: Obstipation, Colon irritabile
Tabelle 5: Leber-Gallen-Behandlung Indirekte Indikation (ganzheitlicher Ansatz):
◆ Dermatologie: Akne, Psoriasis, Neurodermitis
◆ Migräne, Kopfschmerzen ◆ Chronische Schmerzen: Neuralgie,
HWS, LWS ◆ Schlafstörungen ◆ Depressionen, Burn-out, Erschöpfung ◆ Stoffwechselprobleme:
Dyslipoproteinämie, Adipositas ◆ Entgiftung: Onkologie, Entzug
Organ Herz Niere Leber Lunge
Funktion Bewusstsein Emotionen Leben chemische Prozesse
lang zurückreichende Spur dieser Annahme widerspiegelt sich im Namen dieses Organs: Leber – Leben (Tabelle 3). Gemäss der anthroposophischen Medizin stellen Leber und Galle eine sinnvolle Polarität dar. Die Leber – vor allem als Nachtorgan – ist für den Aufbau und die anabolen Funktionen zuständig, die Galle – wiederum im zirkadianen Rhythmus eher tagsüber tätig – bildet die Grundlage für den Abbau und die katabolen Funktionen. Die ausgewogene Wechselwirkung beider Organe gewährt dem Menschenkörper einen intakten Schlaf-Wach-Rhythmus.
Leber und Galle im integrativen klinischen Einsatz
Die 1990 gegründete Aeskulap-Klinik in Brunnen, Schwyz, setzt sich als Ziel, die konventionelle Medizin (Schulmedizin) mit den bewährten Methoden der Komplementärmedizin im Sinne eines individuellen Ansatzes harmonisch zu verbinden. Die phytotherapeutische Unterstützung der LeberGallen-Funktion wird in allen Kerngebieten der Klinik wie integrative Onkologie, Schmerztherapie, Behandlung von chronischen Leiden sowie Psychosomatik regelmässig angewandt. Gestützt auf diese Erfahrung lässt sich die Leber-Gallen-Behandlung in zwei Indikationsbereiche unterteilen. Die direkte Indikation bezieht sich auf diverse gastrointestinale, vor allem chronische Probleme im Bereich der Leber, der Galle, des Magens und des Darms (Tabelle 4). Beim ganzheitlichen therapeutischen Ansatz (indirekte Indikation) kristallisierten sich durch die langjährige Erfahrung der Komplementärmedizin folgende klinische Indikationen heraus: Dermatologie, Migräne und Kopfschmerzen, chronische Schmerzen, Schlafstörungen, psychosomatische Leiden (Depression, Burn-out), Stoffwechselprobleme sowie die begleitende Behandlung bei onkologischen Standardtherapien (Tabelle 5). Obwohl zu der feinstofflichen Beziehung
zwischen Leber, Galle und den oben erwähnten Krankheitsbildern weder klinische Studien noch eindeutige pathophysiologische Erklärungen existieren, zwingen die umfangreiche, langjährige Erfahrung der Komplementärmedizin sowie die unzähligen auf diese Weise von ihren Leiden befreiten Patienten zu einer vorurteilsfreien, kritischen Betrachtung dieser Zusammenhänge. Folgende Kasuistik erläutert den praktischen Ansatz.
Ganzheitlicher Ansatz erfolgreich bei Psoriasis
Der 1940 geborene Patient litt seit seinem 50. Lebensjahr an einer Psoriasis mit Befall von Ellbogen, Knie, beider Knöchel sowie Sakralregion. Im März 2005 kam es infolge eines Skiunfalls mit Prellungen und Muskelriss zu einer akuten Exazerbation der Psoriasis sowohl mit Ausdehnung des Befalls als auch mit Zunahme der lokalen Beschwerden vor allem im Unterschenkelund Sakralbereich. Bei der Erstkonsultation im August 2005 waren beide distalen Unterschenkel und Füsse mit einem starken licheninfizierten, nässenden und schuppenden Hautausschlag bedeckt. Der Hautbefall ging mit einem unerträglichen, vorwiegend nächtlichen Juckreiz einher. Aufgrund der invalidisierenden Exazerbation erhielt der Patient von seinem behandelnden Dermatologen eine intensive topische Standardbehandlung inklusive Daivonex® und kortisonhaltige Salben sowie Antihistaminika, ohne
Abbildung 1
Abbildung 2
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23. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR
PHYTOTHERAPIE, BADEN, 20. NOVEMBER 2008
dass es zu einer klinischen Besserung kam (Abbildung 1). In der komplementärmedizinischen Behandlung beschränkten wir uns auf drei Massnahmen: ◆ orale Behandlung mit Nachtkerzenöl
(Efamol®) ◆ Leber-Gallen-Unterstützung mit dem
Weleda-Präparat Chelidonium/Curcuma comp. (3 x 1 Tabl. tägl.) ◆ probiotische Therapie der Darmflora mit der Symbioflor®-Reihe. Obwohl wir die dermatologischen Externa absetzten, kam es innert Tagen zu einem deutlichen Nachlassen des Pruritus. Im weiteren Verlauf bildeten sich alle Hautausschläge allmählich vollständig zurück, sodass nach zirka einem Jahr das gesamte Integument des Patienten keine psoriatischen Effloreszenzen mehr zeigte (Abbildung 2). Für die besondere Wirksamkeit des ganzheitlichen Ansatzes spricht das Ausbleiben von weiteren Exazerbationen – der Follow-up beträgt zurzeit 21/2 Jahre. ◆
Anschrift des Referenten: Dr. Cesar Winnicki Chefarzt Aeskulap-Klinik Gersauerstrasse 8 6440 Brunnen cesar.winnicki@aeskulap.com
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