Transkript
21. Schweizerische Tagung für Phytotherapie, Baden, 23. November 2006
Palliative Care
Gestern wohlbekannt – heute neu entdeckt – morgen selbstverständlich
Eva Waldmann
Sterben und Tod im Wandel
Der französische Historiker Phillippe Ariès hat in seiner legendären «Geschichte des Todes» die Einstellung der Menschen zum Tod über den Lauf der Jahrhunderte hinweg am genausten untersucht, und ich halte mich in den folgenden Ausführungen an seine wichtigsten Ergebnisse.
Der gezähmte Tod Die Einstellung des abendländischen
Menschen zum eigenen Sterben blieb fast zweitausend Jahre lang (von Homer bis Tolstoi) unverändert. Bis ins hohe Mittelalter verstehen sich Menschen als Teil einer Solidargemeinschaft, die in einem ständigen Kampf gegen die dunklen Mächte der Natur steht.
Mit der Sexualität trotzen sie der Natur Leben ab, mit dem Tod holt sich die Natur das «gestohlene» Leben wieder zurück. Man kann den Tod nicht aufhalten, aber man kann ihn zähmen, durch Riten und vor allem durch die Solidarität der Gemeinschaft. Der «alte» Tod ist nicht vereinsamt, er ist ein soziales Ereignis.
Mit der Verankerung des christlichen Glaubens verändert sich die Einstellung zum Tod. Der Tod ist immer noch ein unabwendbares Unglück. Verantwortlich dafür ist jedoch nicht mehr die Macht der Natur, sondern die Erbsünde. Ein Fluch, den Christus durch die Verheissung seiner Auferstehung abgemildert hat.
Der Tod wird jetzt als Wartezustand begriffen, als Schlaf der Gerechten, bis der jüngste Tag anbricht, an dem alle Gläubigen mit ihrem Körper wiederauferstehen.
Der eigene Tod Seit dem hohen Mittelalter beginnen
die Menschen, sich nicht nur als unbedeutender Teil einer Gemeinschaft zu begreifen, sondern als Individuum. Man hat das Recht, sein Leben zu gestalten, und somit auch die Verantwortung für das Diesseits – und das Jenseits.
An die körperliche Auferstehung glauben die meisten Menschen jetzt nicht mehr, aber an eine unsterbliche Seele. Und ob die in den Himmel kommt oder in der Hölle schmort, hängt ganz allein von den eigenen Taten ab.
Die Angst vor dem Tod wächst. Und diese Angst gilt es einzufangen. Wer immer es sich erlauben kann, lässt Messen lesen, kauft Ablässe und finanziert Stiftungen. So will man sich den Himmel verdienen. Aber die Furcht vor der Hölle bleibt.
Der Tod erscheint jetzt so schrecklich, dass man ihm nicht ins Auge sehen möchte. Die Toten werden verhüllt, zuerst mit einem Tuch, dann mit einem Sarg.
Der Tod des Anderen Mit dem Aufkommen der Romantik
wird auch die Einstellung zum Tod romantisch. Nicht der Tod wird beklagt, sondern die Trennung vom Verstorbenen, die durch den Tod ausgelöst wird. Das führt Ariès vor allem auf die zunehmende Tendenz hin, in einer Kernfamilie zu leben und sich gegenüber der grösseren Gemeinschaft abzuschotten. Die Bande zu den eigenen Angehörigen werden enger. Wenn der Tod die Liebsten entreisst, ist das eine Tragödie. In dieser Zeit werden parkähnliche Friedhöfe angelegt, und die Grabkunst erfährt eine eigentliche Hochblüte.
Die Menschen glauben ganz fest daran, dass sie ihre Verwandten und Freunde im Himmel wiedersehen und dann noch glücklicher zusammenleben werden. Der Tod ist ein Abschied, der zu einem schöneren Wiedersehen führt, und so wird er nicht betrauert, sondern zu einem erhabenen Ereignis verklärt.
Der Tod als Niederlage Ab dem 20. Jahrhundert, im Zuge
der zunehmend leistungsorientierten Gesellschaft, wird der Tod systematisch aus dem Leben ausgebürgert und als schmutzig und peinlich empfunden.
Anstelle von Religion und Ritualen übernimmt die Medizin die Aufgabe, den Tod zu zähmen. Gleichzeitig wachsen Anspruch und Illusion, ihn zu besiegen.
Der Tod wird als Niederlage, als eigenes Unvermögen empfunden. Man schämt sich. Und mit der Scham kommt der Ekel. Man will nicht mit dem Sterben in Berührung kommen.
In den westlichen Industriegesellschaften wird der Tod zumeist nicht «geteilt», sondern degradiert zu einem individuellen «Unglück». Der «einsame Tod» trifft seine Kunden bevorzugt in der Sterilität des Krankenhauses, dessen Aufgabe es ja nicht ist, sterben zu lassen, sondern zu «heilen». Wenn keine Aussicht auf Lebensverlängerung mehr besteht, dann wird der Patient für die Institution Krankenhaus uninteressant. Er wird aufgegeben, und das eigentliche Bedürfnis des Sterbenden nach Nähe, Kommunikation, Teilen von Angst und Schmerz und spiritueller Begleitung bleibt oft unerfüllt.
Ende eines Tabus? Und doch scheint der Höhepunkt
der Tabuisierung und Abschiebung des Todes in westlichen Industrienationen bereits überschritten. Ausgelöst durch die Hospizbewegung in den Sechzigerjahren wachsen die Akzeptanz der Tatsache, dass wir alle vergänglich sind, und die Versöhnung mit diesem Fakt. Vergänglichkeit wird als Teil eines jeden menschlichen Lebens begriffen. Der Wunsch, die «Kunst des Sterbens» wieder zu erlernen und ihr Raum zuzugestehen, lässt sich vielerorts ausmachen. Auf diesem Boden wachsen auch die Bedeutung und Akzeptanz von Palliative Care. Wie im Referattitel angesprochen, ist palliative Medizin eigentlich die älteste Form der Medizin, die jedoch im Zuge des technischen Fortschrittes im 20. Jahrhundert beinahe in Vergessenheit geraten ist, nun jedoch wieder an Bedeutung zunimmt.
Palliative Care als Haltung
und Behandlungskonzept
Kernanliegen von Palliative Care sind: Die Multiprofessionalität
Palliative Care geht davon aus, dass Menschen auf mehreren Ebenen Bedürfnisse haben: Neben körperlicher
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21. Schweizerische Tagung für Phytotherapie, Baden, 23. November 2006
Die Entwicklung von Palliative Care in der Schweiz
1970
Krankenschwester Rosette Poletti beginnt mit der Sensibilisierung für Pallia-
tive Care an der Ecole du Bon Secour in Genf.
1979
Dr. Charles-Henri Rapin und Anne-Marie Panosetti beginnen mit der Um-
setzung der palliativen Medizin, Pflege und Begleitung am Centre des Soins
Continus in Collonge – Bellerive, GE.
1988
Erste schweizerische Zeitschrift für Palliative Care InfoKara (französisch,
später auch mit deutschsprachigen Beiträgen).
1988
Eröffnung der Fondation Rive Neuve, erstes freistehendes Hospiz in der
Schweiz.
1988
Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege
und Begleitung (SGPMP).
1988
Gründung der Europäischen Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und
Begleitung (EAPC).
1990
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Palliative Care.
1990
Beginn des Hospice Ticino, Palliative-Care-Hauspflegeprogramm im Kanton
Tessin.
1991
Eröffnung der Palliativstation im Kantonsspital St. Gallen.
1992
Erste interdisziplinäre Weiterbildung in Palliative Care in der Schweiz.
1995
Beginn der Umsetzung von Palliative Care in Einrichtungen der Stadt
Zürich.
1996
Eröffnung eines palliativmedizinischen Konsiliardienstes am Universitätsspi-
tal Lausanne.
1997
1. Europäischer Forschungskongress zu Palliative Care in Berlin.
ab 1998 In der Westschweiz entstehen verschiedene Palliative-Care-Bettenstationen
in Spitälern und Heimen.
1999
Bestandesaufnahme Palliative Care in der Schweiz, erhoben durch die
SGPMP und die Krebsliga Schweiz (KLS).
2000
Gründung von Palliative Care – NETZWERK ZÜRICH.
2001
Konsensustagung organisiert durch SGPM und KLS, Annahme und Publi-
kation des Freiburger Manifests (Richtlinien für die Entwicklung von Pallia-
tive Care in der Schweiz in den nächsten 5 Jahren).
2002
Beschluss, an den medizinischen Fakultäten der Universitäten Lausanne und
Genf einen Lehrstuhl für Palliative Care zu errichten.
2002
Gründung des Palliative-Care-Council (Lenkungsgruppe für die Aktivitäten im
Bereich Palliative Care für die nächsten 5 Jahre). Einsitznahme: KLS, SGPMP,
Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW).
2002
Die SGPMP erarbeitet Richtlinien für die Aus- und Weiterbildung sowie Qua-
litätsstandards in Palliative Care.
2002
Der Grosse Rat des Kantons Waadt beschliesst ein kantonales Konzept für
Palliative Care.
2003
Gründung einer Subkommission des Palliative-Care-Councils zur Erarbei-
tung von medizinethischen Richtlinien und Empfehlungen für Palliative Care.
2003
Gründung von palliative-ch, der dreisprachigen schweizerischen Fachzeit-
schrift.
2000–2006 Gründung von weiteren acht regionalen resp. kantonalen Sektionen der
SGPMP und Schaffung von folgenden Arbeitsgruppen auf nationaler
Ebene: AG Weiterbildung, AG Qualitätssicherung, AG Forschung
2006
Besetzung des 1. Lehrstuhls für Palliative Care an der Universität Lausanne
durch Prof. Dr. José Pereira.
2006
Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich stellt ein Konzept zur Umset-
zung von Palliative Care im Kanton Zürich vor.
2006
Genehmigung der medizinethischen Richtlinien «Palliative Care» durch den
Senat der SAMW. Jahrestagung 2006 der SGPMP gemeinsam mit der
SAMW.
Hinweise www.palliative.ch (SGPMP), www.pallnetz.ch (Sektion Zürich),
www.samw.ch (Bestellung der Richtlinien)
Behandlung und Pflege brauchen Patientinnen und Patienten auch psychische, soziale oder spirituelle Begleitung.
Erst die Zusammenarbeit von Fachpersonen aus verschiedenen Berufen macht dies möglich. Die Stärke eines multiprofessionellen Teams liegt in der Vielfalt der Fachkenntnisse und Begabungen. Diese können in jeder einzelnen Patientensituation gezielt nutzbar gemacht werden.
Der Mensch steht im Zentrum Bei Palliative Care steht die Patien-
tin/der Patient als Mensch im Zentrum. Ihre/seine Bedürfnisse und Prioritäten leiten die Fachleute. Die Patientin/der Patient wird unterstützt, die Verantwortung für das eigene Leben bis zum Schluss, soweit wie möglich, zu behalten.
Dazu bedarf es klarer und umfassender Informationen über die Krankheit, das Aufzeigen von Möglichkeiten der Behandlung und deren Grenzen. Vorund Nachteile der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten müssen aufgezeigt und erklärt werden.
Die Nächsten gehören dazu Palliative Care versucht, wo immer
das möglich und gewünscht ist, Angehörige und Bezugspersonen in das Pflege- und Betreuungssystem des kranken Menschen einzubinden.
Palliative Care bietet Angehörigen oder Bezugspersonen Unterstützung, wenn sie sich aktiv an der Pflege und Betreuung beteiligen möchten.
Angehörige brauchen Begleitung, Anteilnahme, Information und Begleitung über den Tod des Kranken hinaus.
Freiwillige sind unentbehrlich Wie in den vorangegangenen Aus-
führungen bereits angesprochen, waren es die Freiwilligen, die in der Hospizbewegung in den Sechzigerjahren massgeblich beteiligt waren, dass das Thema Sterben wieder einen Platz im Leben erhalten hat. Sie, als VertreterInnen der Gesellschaft, die sich einem fremden, sterbenden Menschen zuwenden, ihm Zeit und Aufmerksamkeit schenken, bekunden durch diesen Akt, dass sterbende, kranke Menschen immer noch wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sind. Vieles in Palliative Care wäre ohne die Freiwilligen undenkbar. Freiwillige verdienen es, für ihre unbezahlte Arbeit wertgeschätzt und nicht als kostensparende Massnahme genutzt zu werden.
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Schmerz – kein Schicksal Palliative Care widerlegt den Glau-
ben, dass Schmerzen unabänderlich zu einer schweren Krankheit gehören. Den meisten Leidenden kann geholfen werden.
Viele Schwerkranke leiden an Schmerzen – oder der Angst davor! Doch mit Schmerzen kann umgegangen werden.
Schmerzmanagement in Palliative Care erfolgt nach ganz bestimmten Regeln:
Wir müssen über Schmerzen sprechen und ihre Entstehung sowie ihre Auswirkungen verstehen. Psychotherapie, Seelsorge, Familiengespräche, Musiktherapie, Kunst- und Ausdruckstherapie, aber auch das Aufarbeiten von materiellen Sorgen können nebst der medikamentösen Behandlung eine wichtige Rolle spielen, um das Leiden zu lindern.
Scheinbar nicht beeinflussbare Schmerzen fordern eine berufs- oder institutionsübergreifende Beratung.
Optimale
Schmerzbehandlung
braucht Sorgfalt, laufend angepasste
Beurteilung und vor allem eine Hal-
tung, die die Patientin/den Patienten
ernst nimmt.
Das Sterben gehört zum Leben Palliative Care versteht das Sterben
als einen natürlichen Teil des Lebens und versucht, weder den Tod um jeden Preis hinauszuzögern, noch ihn willentlich herbeizuführen.
Die Themen Sterben und Tod werden mit kranken Menschen behutsam immer wieder angesprochen.
Vorausschauende Planung Fortlaufende Planung und daraus
resultierende Anpassungen von Vereinbarungen und Patientenverfügungen sind wichtig. Der Wunsch, zu Hause zu sterben, geht vielfach nicht in Erfüllung. Nicht nur, weil die persönliche Situation dies verunmöglicht, oft hat es damit zu tun, dass nicht ausreichend geplant wurde. Werden mögliche Kom-
plikationen nicht angesprochen oder
voraussehbare Konsequenzen nicht dis-
kutiert, können Begleitende plötzlich
mit Situationen konfrontiert werden,
die sie überfordern. Notfälle ereignen
sich fast immer in der Nacht oder am
Wochenende. Meist wird dann ein Not-
arzt gerufen, und eine Spitaleinweisung
ist unumgänglich. Wer weiss, was auf ihn
zukommen könnte und was dann zu tun
ist, wird einer schwierigen Situation an-
ders begegnen können.
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Anschrift der Referentin: Eva Waldmann M.A. CO-Präsidentin palliative care – NETZWERK ZÜRICH Seebahnstrasse 231 8004 Zürich E-Mail: eva.waldmann@pallnetz.ch
Empfohlene Literatur:
Den letzten Mantel mache ich selbst – Über Möglichkeiten und Grenzen von Palliative Care, S. Porchet, V. Stolba, E. Waldmann, Schwabe 2005.
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