Transkript
21. Schweizerische Tagung für Phytotherapie, Baden, 23. November 2006
Ex oriente lux: Weihrauch, Myrrhe, Ingwer und Opium in der onkologischen
Palliativ- und Supportivmedizin
Günther Spahn
Einleitung
Die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen, die an Krebs erkrankt sind, und die Abmilderung von Nebenwirkungen der tumorspezifischen Therapien wie Chemo- und Strahlentherapie sind in den letzten Jahren auch zunehmend in den Blickpunkt des Faches getreten, welches sich klinisch und wissenschaftlich im letzten Jahrzehnt besonders schnell entwickelt: die Onkologie. Insbesondere die Molekularbiologie, Immunologie und die genetische Forschung haben zu einer Vielzahl von neuen Therapien geführt, die für eine bedeutende Zahl an Patienten eine spürbare Verlängerung des Überlebens mit einer Krebserkrankung herbeiführen. Einige wenige Krebsentitäten, vor allem Leukämien, Lymphome und Hodentumoren, manche Sarkome und früh erkannte solide Tumore, sind mit modernen Therapiestrategien heilbar. Dennoch ist die Onkologie auch das klinische Fach, welches in der Palliativ- und Supportivmedizin chronisch und unheilbar kranker Menschen seinen Beitrag leisten muss, um Krankheitssymptome zu lindern, Lebensqualität zu verbessern und um Menschen in der terminalen Lebensphase adäquat zu begleiten.
Im Rahmen einer supportiven Krebstherapie kann heute am Anfang des 21. Jahrhunderts auf eine Vielzahl synthetischer Stoffe zurückgegriffen werden, die geeignet sind, Nebenwirkungen von Chemo- oder Strahlentherapien zu mildern oder krankheitsbedingte Symptome der Krebserkrankung zu lindern. Dazu gehören zum Beispiel Wachstumsstoffe, moderne Antiemetika und für eine Vielzahl krebsbedingter Symptome auch Kortison. Alle diese Substanzen haben einen Einzelwirkstoff und weisen einige, manchmal auch gravierende Nebenwirkungen auf.
Der Einsatz von Phytotherapeutika, das heisst pflanzlichen Vielstoffgemi-
schen, hat in der onkologischen Supportivmedizin kaum mehr Raum, oder die Indikationsbereiche der Phytotherapeutika sind unklar. Dies trifft inzwischen auch für die bewährte Tinctura opii zu. Dazu kommen Fragen nach Wechselwirkungen mit synthetischen Arzneimitteln. Freilich ist es auch eine Tatsache, dass angesichts eines ständig wachsenden Marktes an synthetischen Onkologika Phytotherapeutika nur noch einen marginalen Stellenwert in den onkologischen Versorgungszentren und Praxen haben.
Im folgenden Beitrag sollen vier Phytotherapeutika näher beschrieben werden, für die als Vielstoffgemische ausreichende klinische und wissenschaftliche Daten vorliegen, um ihren Einsatz in der erweiterten Palliativund Supportivmedizin für onkologische Patienten gutzuheissen.
Weihrauch (Olibanum)
Der Weihrauchbaum gehört zur Familie der Balsamgewächse, sein Verbreitungsgebiet ist auf einen sehr kleinen Bereich in Somalia, in Oman und Jemen sowie Indien begrenzt. Insgesamt werden 18 Gattungen unterschieden, die wichtigsten sind Boswellia carteri (= sacra aus Arabien), Boswellia serrata (Indien) sowie B. frereana (Somalia). Lange Zeit war das Verbreitungsgebiet des Weihrauchbaumes nicht bekannt, die damit handelnden Araber hüteten es im Altertum als ihr Geheimnis (und vermehrten damit die «Kostbarkeit»).
Bereits die Königin von Saba (das sabäische Reich währte tausend Jahre von ca. 1200 bis 200 v. Chr) offerierte dem König Salomo des Alten Testaments (1. Buch der Könige, 10) die kostbare Spezerei. Gut tausend Jahre später berichtet der Evangelist Matthäus von einem Sterndeuter, der dem neugeborenen Messias Weihrauch darbringt. Ägypter, Römer und Griechen verwendeten Weihrauch als Balsam und Räucherwerk, später – und heute noch – findet er so noch weltweit Verwendung
in der katholischen und orthodoxen Kirche.
Medizinische Verwendung findet Weihrauch bislang vor allem in der ayurvedischen Medizin. Dort als Sallaki bezeichnet wird er in den ayurvedischen Schriften der Chakara-Samitha im 7. Jahrhundert v. Chr. als Heilmittel bei Asthma, Gicht, rheumatischen Erkrankungen und Erkrankungen des Nervensystems beschrieben und im Rahmen des «Tri-Doshas»-Konzeptes als Kapha-Pitta reduzierend eingeordnet.
Das Weihrauchharz wird durch Anritzen der Baumrinde gewonnen. Das Harz von Boswellia serrata (indischem Weihrauch, Indian Frankincense) enthält 7,5 bis 9 Prozent ätherisches Öl, etwa 56 Prozent Reinharz und 23 Prozent Schleim. Von medizinischem Interesse sind insbesondere die Bestandteile des Reinharzes: darunter Triterpensäuren, die bis zu 60 Prozent und mehr ausmachen. Im Weihrauchharz sind es vor allem die pentazyklischen Boswelliasäuren, die wiederum in ␣- und -Boswelliasäuren unterteilt werden. Chemisch am besten charakterisiert sind die beiden Boswelliasäuren 11-keto--Boswelliasäure (KBA) und Acetyl-11-keto--Boswelliasäure (AKBA). Diese beiden Boswelliasäuren sind auch die (bislang bekannten) therapeutisch wichtigsten Inhaltsstoffe des Weihrauchharzes. Ihr Gehalt ist unterschiedlich hoch bei den unterschiedlichen Weihraucharten, so enthält B. serrata KBA und AKBA im Verhältnis 1:1, während B. carteri einen Gehalt von 1: 3–8 aufweist.
KBA und AKBA sind potente Hemmstoffe eines Schlüsselenzyms in der Entzündungskaskade der Leukotriene, nämlich der 5-Lipoxygenase (LOX). So konnte in aktuellen klinischen Studien vor allem bei chronisch entzündlichen Erkrankungen (M. Crohn, Osteoarthritis, Asthma) eine Wirksamkeit des Weihrauchharzes nachgewiesen werden. Auf die COX-2-abhängigen Entzündungswege hat Weihrauch keinen Einfluss.
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Ver wendung von Boswellia
serrata in der onkologischen
Palliativmedizin
Antientzündliche und antiangiogenetische Therapiestrategien sind neue Ansätze in der modernen Onkologie, die zytostatische Therapie zu ergänzen. Weihrauch wurde bereits von arabischen Ärzten im Altertum in der Behandlung von Geschwülsten eingesetzt, eine medizinisch-wissenschaftliche Erforschung der Pharmakologie und Wirkweise der wahrscheinlich wichtigsten Weihrauchinhaltsstoffe, der Boswelliasäuren, hat im Bereich der Phytopharmakologie erst vor etwa 20 Jahren begonnen und steht in der Onkologie an ihrem Anfang. Die wenigen klinischen Studiendaten wurden mit dem Produkt H15 der indischen Firma Gufic (Mumbai) gewonnen. Aufgrund der angestrebten nationalen Arzneimittelregelungen in der Schweiz wird dieses Produkt Ende 2007 voraussichtlich nicht mehr zugelassen sein. Bislang ist H15 im Kanton Appenzell registriert. Möglicherweise wird es in Deutschland in Zukunft ein arzneimittelrechtlich zugelassenes Weihrauchprodukt geben, ansonsten muss auf eine Magistralrezeptur ausgewichen werden (vgl. Kasten 1).
Boswelliasäuren sind potente Hemmstoffe der 5Lipoxygenase, eines Schlüsselenzyms in der Bildung der Leukotriene. Diese entstehen in der Entzündungskaskade aus Arachidonsäure vor allem in Zellen des Immunsystems (Neutrophile, Monozyten, Mastzellen), aber auch in den Organen Lunge, Milz, Gehirn und Herz.
Leukotriene sowie andere immunologische Botenstoffe (u.a. Interleukine) sind im Rahmen maligner Erkrankungen vielfach erhöht. Leukotriene sind sehr wahrscheinlich für das peritumorale Entzündungsgeschehen bei Hirntumoren beziehungsweise Hirnmetastasen verantwortlich.
In mehreren onkologischen Fallstudien wurde ein Rückgang peritumoraler Hirnödeme durch die Einnahme von Boswellia serrata beschrieben, ein wichtiger Fallbericht ist im August 2006 in der Zeitschrift «Journal of Neurooncology» erschienen. Geschildert wird die Krankheitsgeschichte einer 39jährigen Patientin, welche an einem zerebral metastasierten HER2-Neu-positiven Mammakarzinom leidet (Flavin DF, J Neurooncol 2006).
Fallberichte: Patienten mit
zerebralen Metastasen
Die Patientin (vgl. DF Flavin, J. Neurooncol 2006) war mit 38 Jahren an einem HER2-Neu-positiven Mammakarzinom ohne Nachweis von Lymphknoten- oder Organmetastasen erkrankt. Ein Jahr später entwickelte sie Kopfschmerzen und Nausea, und es wurden multiple Hirnmetastasen diagnostiziert. Die Patientin erhielt ein orales Zytostatikum (Capecitabine®), und es wurde eine Ganzhirnradiatio mit
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Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen mit einem zerebral metastasierten Mammakarzinom liegt nach Schädelradiato bei ungefähr 6 bis 8 Monaten. Die zerebrale Metastasierungsrate bei HER2-Neu-positiven Mammakarzinomen liegt sehr hoch – sie tritt bei etwa einem Drittel der betroffenen Frauen im Krankheitsverlauf auf.
Im eigenen Patientengut (G.S., Klinik Susenberg) initiierten wir bei einer 55-jährigen Frau mit ebenfalls HER2Neu-positivem zerebral metastasiertem Mammakarzinom eine Boswellia-Therapie mit 3-mal täglich 800 mg. Die Erstdiagnose des Mammakarzinoms ging auf das Jahr 1996 zurück, als die Patientin 46-jährig war. Lokoregionäre Metastasen und ossäre Metastasen wurden 2003 festgestellt, eine isolierte Kleinhirnmetastase wurde im November 2004 mittels Gamma-knife behandelt, die im Oktober 2005 festgestellte diffuse Hirnmetastasierung wurde mit einer Ganzhirnbestrahlung (30 Gy) bis November 2005 behandelt.
Klinisch führend bei Aufnahme der Patientin im Dezember 2005 waren ein komplettes Hemisyndrom rechts mit motorischer Aphasie sowie Schwindel und Verschwommensehen. Während des stationären Aufenthalts konnten unter ergotherapeutischen, logopädischen und physiotherapeutischen Massnahmen eine Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und ein Erlernen des Rollstuhltransfers erzielt werden. Es bestand eine fortgeschrittene Knochenmarkinsuffizienz (Thrombozyten um 90 Gpt/l, Hb um 11,5 g/dl) im Rahmen der ossären Metastasierung. Die Patientin wurde auf eigenen Wunsch zur Palliative Care an Weihnachten 2005 nach Hause entlassen, die Therapie mit reduziertem Dexamethason 4 mg und Boswellia serrata
Kasten 1:
Wie rezeptieren?
(nach Vorschrift von Beat Meier, Wädenswil) Apotheken können die Herstellungsvorschrift von Weihrauchkapseln bei der Hochschule Wädenswil, Abteilung Phytopharmazie (b.meier@hsw.ch) anfordern.
Granulat: Rp Olibanum indicum pulvis Ph Eur 46 g
m.f. granulatum aquosae Ad capsulae CXX (Kapselgrösse 0) 4 x 1–2 Kps täglich
(Zusatzinfo: Füllmenge 358 mg/Kapsel)
Pulver:
Rp
Olibanum indicum pulvis Ph Eur 41,500 g
Aerosil
0,215 g
Magnesiumstearat
1,300 g
m. f. pulvis
Ad capsulae CXX (Kapselgrösse 0)
4 x 2–3 Kps täglich
(Zusatzinfo: Füllmenge 259 mg/Kapsel)
Kasten 2:
Studien mit Weihrauchextrakten ausserhalb der onkologischen Palliativmedizin
Rheumatoide Arthritis ● v. Keudell et al., Z. Rheumatol. 53, 361, 1994 ● Kimmatkar et al., Phytomedicine 10, 3–7, 2003
Colitis ulcerosa ● Gupta et al., Eur. J. Med. Res. 2, 1–7, 1997
Morbus Crohn ● Gerhardt et al., Z. Gastroenterol. 39, 11–17, 2001
Asthma bronchiale ● Gupta et al., Eur. J. Med. Res. 3, 511–514, 1998
2400 mg/Tag fortgesetzt. Die Prognose wurde unsererseits als sehr kurz eingeschätzt, auf etwa 6 Wochen. Frau W. lebte jedoch noch weitere 8 Monate, wurde von ihrer Familie, der Spitex und ihrer Hausärztin versorgt. Sie war bis zuletzt orientiert und ansprechbar.
Eine andere Patientin, 76-jährig, wurde uns nach Abbruch der Chemotherapie bei schweren Nebenwirkungen bettlägerig zur terminalen Palliative Care im Oktober 2006 zugewiesen. Bei ihr lag seit März 2005 ein verschleimendes Adenokarzinom der Lunge vor, der Befund war in beiden Lungen sehr ausgedehnt. Die Therapie war mit Carboplatin/Navelbine® und zuletzt mit einem Angiogenese-Inhibitor (Tarceva®) durchgeführt worden. Die Patientin litt unter starker Ruhedyspnoe, hatte viel Gewicht verloren und war immobil. In der Vorgeschichte fanden sich ein Asthma bronchiale seit der Kindheit und eine starke Refluxsymptomatik (unter dauerhafter Therapie mit PPI). Der
Allgemeinzustand und die pulmonale Symptomatik besserten sich unter MST 2-mal täglich 10 mg, Dihydrocodein 2-mal täglich 5 mg, Boswellia serrata 3-mal täglich 800 mg und einer Kurzzeittherapie mit Prednison derart, dass die Patientin zimmermobil am 15.11.2006 für 5 Wochen nach Hause gehen konnte. Frau Z. verstarb friedlich im Januar 2007 in unserer Klinik.
Fallbericht:
Patient mit Glioblastom
Boswellia serrata wird in mehreren schweizerischen und deutschen Kliniken für Neurochirurgie adjuvant bei Patienten mit Hirntumoren eingesetzt. In Glioblastomen (aber auch in Meningeomen) wurde ein erhöhter LOX-Gehalt festgestellt, ebenso im umgebenden peritumoralen Ödem am ehesten aufgrund der Makrophagen/Monozyten-Infiltration. Hierdurch wird ein antientzündlicher Effekt von Boswellia serrata auch bei primären Hirntumo-
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ren erklärbar. Die Arbeitsgruppe von R. Saller (Universitätsspital Zürich) hat darüber hinaus einen Apoptose-induzierenden Effekt unter anderem in Zelllinien von Leukämiezellen und Hirntumoren durch Boswelliasäuren nachgewiesen. Diese Befunde wurden von mehreren Arbeitsgruppen bestätigt und erweitert, unter anderem führt die Hemmung von LOX zur Herunterregulation von bcl-2, einem Antiapoptose-Gen. Weiter wurde nachgewiesen, dass Boswelliasäuren dosisabhängig die Topoisomerasen I und II hemmen sowie eine hemmende Funktion im NFkB-Signaling spielen. Da diese Signalwege einen wesentlichen Einfluss auf die Genese und die Stoffwechselaktivität in einer Reihe maligner Tumoren haben, ist zu vermuten, dass Boswelliasäuren neben der antientzündlichen Aktivität einen direkten Anti-Tumor-Effekt aufweisen.
Auch hierzu ein Beispiel eines Patienten aus dem eigenen Patientengut: Bei einem 26-jährigen Mann wurde 2002 im Rahmen epileptischer Anfälle ein Glioblastom diagnostiziert. Aufgrund des ausgedehnten Befundes konnten nur eine Tumorteilexstirpation und eine Ventrikeldrainage erfolgen. Herr G., von Beruf Informatiker, blieb jedoch arbeitsfähig bis 2006, er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Juni 2006 wurde ein grosser Rezidivtumor frontoparietal mit Mittellinienverlagerung diagnostiziert. Es erfolgte eine Re-Operation an der Klinik für Neurochirurgie Zürich und anschliessend eine kombinierte Radiochemotherapie mit Temodal®.
Die Einweisung in die Klinik Susenberg Ende Oktober 2006 erfolgte zur Rehabilitation und Fortführung der Chemotherapie. Bei Eintritt bestanden eine ausgeprägte Fatigue, ein linksseitiger Neglect sowie eine leichte Hemisymptomatik links. Herr G. wies eine Zeitgitterstörung auf, das semantische, episodische und prospektive Gedächtnis waren stark gestört, die Psychomotorik deutlich verlangsamt. Bei allgemein hypotonem Muskeltonus bestand eine Gangunsicherheit, ausserdem ein erhebliches Defizit im Planen und der sequenziellen motorischen Ausführung. Das ihm sonst vertraute Notebook war ein Gegenstand, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste.
Es erfolgte eine interdisziplinäre Behandlung mit Gedächtnistraining, Physiotherapie und einer ergänzenden Therapie mit 3200 mg Boswellia serrata/Tag unter Reduktion der Dexamethason-Dosis auf 4 mg/die. Hierunter zeigte sich klinisch nach 2 Wochen eine deutliche Verbesserung der Psychomotorik, des Gedächtnisses, der Gangunsicherheit und des Zeitempfindens. Herr G. begann wieder mit seinem Notebook zu arbeiten.
Die Chemotherapie mit Temodozolid wurde fortgesetzt und gut vertragen. Nach zwei weiteren Zyklen und nach insgesamt sechswöchiger Boswellia-Therapie wurde im Dezember 2006 ein MRI des Schädels durchgeführt. Dies zeigte im Vergleich zur Voruntersuchung von September 2006 eine
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etwa 40-prozentige Tumorregredienz nach OP, kombinierter Radiochemotherapie, fortgesetzter Temodozolid- und Boswellia-Therapie. Der Patient wird ambulant medizinisch und ergotherapeutisch weiterbetreut und ist an eine wohnortnahe psychiatrische Tagesklinik angeschlossen (activities of daily life).
Dieses Beispiel verdeutlicht den Erfolg eines integrativen Behandlungsplanes (unter Einschluss von OP, Chemotherapie, Strahlentherapie, Phytotherapie und Rehabilitations-Massnahmen) bei einem jungen Tumorpatienten mit einem Glioblastom-Grad IV, dessen Prognose nach einem massiven Tumorrezidiv im Juni 2006 als ausserordentlich ernst einzuschätzen war.
Das National Cancer Institute in Washington hat im März 2006 eine Phase-II-Studie eröffnet, die die Wirksamkeit von Boswellia serrata bei neu diagnostiziertem Glioblastoma multiforme untersucht. Nähere Informationen unter: www.clinicaltrials.gov/show/ nct00243022
Pharmakokinetik von
Boswellia serrata
Interessante Daten zur Pharmakokinetik von B. serrata wurden 2004 veröffentlicht (Sharma S et al. Phytomedicine 2004; Sterk V et al., Planta med 2004).
Spitzenkonzentrationen von Boswelliasäuren im Plasma werden nach 4,5 Stunden erreicht, die mittlere Eliminations-Halbwertszeit liegt bei 6 Stunden, die Plasmaclearance bei ungefähr 300 ml/min, das steady state wird nach etwa 30 Stunden erreicht. Die besonders lesenswerte Veröffentlichung aus der Arbeitsgruppe von Prof. Simmet aus Ulm in Planta Medica (2004) beschreibt eine deutlich erhöhte Bioverfügbarkeit von Boswellia serrata bei der Einnahme fettreicher Mahlzeiten. In einer klinischpharmakologischen Untersuchung wurden Freiwillige gebeten, die Einnahme ihrer Weihrauchpräparate regelmässig mit Butter, Speck und Spiegelei zu kombinieren!
Fazit aus der pharmakokinetischen Forschung: Die Einnahme von Boswellia serrata sollte alle sechs Stunden zusammen mit einer fettreichen Mahlzeit erfolgen.
Aus den bisherigen Daten lässt sich ausserdem ableiten, dass ein antiödematöser Effekt von Boswellia serrata in einer Dosierung von 1200 mg–2400 mg nach 48 h eintritt, ein Anti-TumorEffekt tritt möglicherweise nach Tagen/
Wochen unter einer Dosierung mit 1600–3200 mg auf.
Myrrhe (Commiphora molmol)
Auch die Myrrhe kommt aus dem Nahen Osten und hat eine ähnlich lange Heiltradition wie der Weihrauch, sie war auch im alten Ägypten bekannt. Sie ist auch dabei, als der neu geborene Messias in Bethlehem begrüsst wird, und sie gilt als Symbol der ärztlichen Heilkunst. In Markus 15 berichtet der Evangelist, dass Wein mit Myrrhe vermischt Jesus vor der Kreuzigung angeboten wird. Aus dem Kontext erschliesst sich der palliativmedizinische Zweck der Gabe: Linderung der Schmerzen. Doch Jesus lehnt ab.
Der Name der Droge leitet sich von arabisch mur = bitter ab. Auch die Myrrhe ist ein Harz, nämlich des MyrrheBaumes (Burseraceae), der als etwa 3 m hohes Gewächs im Nordosten Arabiens, in Äthiopien, Somalia und im Sudan vorkommt. Das Harz tritt spontan aus der Baumrinde aus und verbreitet einen charakteristischen aromatischen Duft, sodass es auch für die Herstellung von Parfums Verwendung findet.
Das traditionelle medizinische Hauptanwendungsgebiet von Myrrhe sind lokale Entzündungen, vor allem der Mundschleimhaut (Stomatitis, Gingivitis, Pharyngitis, Aphthen). Früher wurde sie auch als Wurmmittel verwendet und als Sekretionshemmer bei schleimiger Bronchitis. Als Mundspülung verwendet, ist ihre Wirkrichtung nicht nur adstringierend und desinfizierend (wie z.B. Salbei), sondern auch lokal schmerzstillend und granulationsfördernd. Die desinfizierende und antiinflammatorische (antibakterielle und antimykotische) Wirkung wird vor allem den Triterpenen, die schmerzstillende Wirkung dem Curzerenon zugeschrieben. Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass Curzerenon analgetische Effekte zeigte, die durch Naloxon aufgehoben werden, und es somit Hinweise gibt, dass die Substanz mit zentralen Opioidrezeptoren reagiert. Weitere Befunde sprechen dafür, dass andere Bestandteile der Myrrhe eine Herunterregulation von ACTH und Cortisol bewirken und Il-1 und Il-6 modulieren. Ausserdem ist ein modulierender Einfluss auf wichtige Neuropeptide wie die Endorphine und Enkephaline bekannt, die als Schmerzbotenstoffe fungieren.
Dieses Wirkspektrum prädestiniert die Myrrhe als Tinktur für eine Mund-
spüllösung bei schmerzhaften, schwer entzündlichen Mukositiden, wie wir sie vor allem nach Radiatio von Tumoren im HNO-Bereich sehen. Bei zum Teil sehr hohen Strahlendosen bis 70 Gy (unter kurativer Zielsetzung) sind schwere Mukositiden mit Ulzera (Grad IV) immer vorhanden. Die Patienten müssen wochenlang parenteral ernährt werden, und die starken enoralen Schmerzen sind häufig mit Schluckschmerzen verbunden und erfordern den Einsatz systemischer Opiate. Die Myrrhentinktur ist uns hier ein verlässlicher Partner in der lokalen antiinflammatorischen und schmerzstillenden Behandlung. Auch bei Mukositiden anderer Genese (z.B. durch 5-FU induziert) wenden wir sie an. Inwiefern Myrrhe einen prophylaktischen Stellenwert im Rahmen der onkologischen Behandlung haben könnte, ist nicht bekannt. Bei blutiger Mukositis wenden wir alternierend zur Myrrhentinktur Tormentilla rhizoma (Blutwurz) an. Bei starkem enoralem Pilzbefall oder systemischen bakteriellen Entzündungen müssen Amphomoronal lokal, gegebenenfalls Fluconazol und Antibiotika eingesetzt werden.
Myrrhentinktur: 1 Teil Myrrhe, 5 Teile Ethanol 70 Prozent. Zum Spülen oder Gurgeln 5 bis 10 Tropfen auf ein Glas Wasser geben. Entzündete Stellen mit der unverdünnten Tinktur betupfen.
Ingwer (Zingiber officinalis)
Das Indikationsgebiet Chemotherapie-assoziierte akute Nausea und Emesis ist durch hochwirksame Antiemetika in der Onkologie gut besetzt. Dazu gehören vor allem die 5-HT-3-Rezeptorenblocker, das Cortison und neuere Substanzen wie das Emend®. Verzögerte und antizipatorische Nausea sind immer noch schwieriger zu behandeln, für die verzögerte Nausea wird vor allem Metoclopramid eingesetzt, bei der antizipatorischen ist ein Versuch mit einem Benzodiazepin gerechtfertigt. In der Palliativsituation (z.B. bei chronischem Ileus) ist der Einsatz von Haldol® sinnvoll. Bei dieser Fülle von Arzneimitteln stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch einen Bedarf für pflanzliche Antiemetika gibt und: Wie wirksam sind sie?
Ingwer ist eine tropische Pflanze (Hauptanbau: Indien, China, Jamaika), deren Rhizom traditionellerweise in der Küche Südasiens Verwendung findet. Ingwer (lat. Zingiber, engl. Ginger) leitet seinen Namen aus dem arabi-
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schen «zindschabil = Wurzel» ab. Medizinisch wird Ingwer seit Jahrtausenden traditionell bei Dyspepsie und Übelkeit, rheumatoider Arthritis und Osteoarthritis angewendet. Das weitere, inzwischen nachgewiesene pharmakologische Wirkungsspektrum ist gross: Ingwer weist neben antiinflammatorischen und antipyretischen auch antimikrobielle, antischistosomale, hepatoprotektive, diuretische, antihypertensive und Blutdruck- sowie Cholesterinsenkende Eigenschaften auf. Neuere Arbeiten schreiben dem Ingwer auch eine antiangiogenetische, antioxidative und proliferationshemmende Wirksamkeit bei Präkanzerosen zu, sodass er von manchen Autoren als Nahrungsmittel in der Krebsprävention empfohlen wird.
Ein systematischer Review von Ernst und Pittler (2000) bestätigt die Wirksamkeit von Ingwer für die Indikationen: morgendliche Übelkeit in der Schwangerschaft, akute Reise-/Seekrankheit, Chemotherapie-assoziierte Übelkeit.
Bestimmte Inhaltsstoffe des Ingwers, allen voran die Gingerole und das Galanolacton, scheinen hier eine wichtige Rolle zu spielen. Sie haben einen schwachen blockierenden Effekt am 5-HT3-Rezeptor und wirken somit zentral antiemetisch, darüber hinaus wirken sie auch prokinetisch am MagenDarm-Trakt.
Ergänzend zu einer Standard-Antiemese verordnen wir Ingwer im Rahmen der Chemotherapie wie folgt: Zintona® Kapseln zwei Tage vor und nach der Chemotherapie 3 x 2 oder alternativ einen Teeaufguss mit 2 bis 4 g frischer Wurzel über den Zeitraum von fünf Tagen täglich frisch. Höchstdosis 4 g/Tag. Da Ingwer eine wärmende, zum Teil brennende Qualität hat, kann der frische Teeaufguss mit Honig gemildert werden, gelegentlich muss wegen dyspeptischer Beschwerden eine Therapie abgebrochen werden. Selten sind allergische Reaktionen.
Opium (Papaver somniferum)
Die Palliativmedizin wäre ohne die Entdeckung des Morphins durch Sertüner nicht denkbar.
Morphin stellt die Leitsubstanz von ungefähr 40 Alkaloiden des Opiums dar, welches aus den Kapseln des Schlafmohns (Papaver somniferum) gewonnen wird. Wichtige weitere Alkaloide sind Codein, Papaverin, Noscapin und Thebain. Morphine werden zur Palliation starker und stärkster Schmer-
zen eingesetzt, darüber hinaus sind sie wichtige Arzneimittel zur Linderung von Dyspnoe. Sie unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz.
Opiatgaben gehen stets mit einer Nebenwirkung einher: Obstipation. Diese ist bedingt durch eine über OpioidRezeptoren vermittelte Tonuserhöhung der glatten Muskulatur.
Mit der Gabe normierter OpiumTinktur, eines komplexen Alkaloidgemisches des Natur-Opiums, wird die Nebenwirkung zur Hauptwirkung: Opium-Tinktur stellt ein ausgezeichnetes Antidiarrhoikum dar. Insbesondere die Schnelligkeit des Wirkungseintritts ist unübertroffen. Opium enthält je nach Herkunftsland 10 bis 15 Prozent Morphin. Die Tinctura opii enthält zwischen 0,95 und 1,05 Prozent Morphin und mindestens 0,2 Prozent Codein (Pharmacopoea Helvetica 10). Die antidiarrhoische Wirkung der Opiumtinktur beruht auf der überadditiven Wirkung der Nebenalkaloide: während Morphin die Darmpassagezeit von 14 auf 39 Stunden verlängert, geht eine Opiumgabe mit gleichem Morphingehalt mit einer Verlängerung der Passagezeit auf 61 Stunden einher.
Die Verwendung von Tinctura opii ergibt sich in der Palliativmedizin vor allem bei Kurzdarmsydromen, wie wir sie häufiger nach ausgedehnten Darmresektionen unter Einschluss des Dünndarmes sehen. Aber auch Durchfälle als Folge von chemotherapeutischer Behandlung lassen sich mit Tinctura opii effizient lindern.
Im Folgenden eine kurze klinische Darstellung.
Opiumtinktur bei
Kurzdarmsyndrom
Eine 65-jährige Frau wurde zur Rehabilitation und Weiterführung der Chemotherapie bei Ovarialkarzinom überwiesen. Die Erstdiagnose (FIGO IV) war im Juni 2005 erfolgt, im Juni 2006 entwickelte Frau G. ein peritoneales Rezidiv. Bei mechanischem Ileus mussten eine Laparatomie und eine Dünndarmsegmentresektion durchgeführt werden. Im August 2006 wurde eine palliative Chemotherapie mit liposomalem Doxorubicin (Caelyx®) gestartet. Kurze Zeit später entwickelte die Patientin flüssige starke Diarrhö mit 6–12 Stühlen/Tag. Der Allgemeinzustand drohte sich zu verschlechtern.
Wir begannen eine Therapie mit Tinctura opii (5 gtt 1–3-mal tgl.) sowie 2 g Colestyramin (Quantalan®). Die Be-
handlung zeigte mit 1 bis 2 breiigen Stühlen/Tag prompten Erfolg. Es wurde ausserdem eine spezifische Ernährungstherapie bei Kurzdarmsyndrom verordnet. Auch bei der letzten Nachkontrolle (Dez. 06) wendet die Patientin Tinctura opii bei intermittierenden Durchfällen erfolgreich an.
Danksagung
Palliative Care ist Teamwork. Ich
danke allen Mitarbeitern der Klinik
Susenberg für die engagierte Mitbe-
treuung der Patienten – ohne sie
wären die medizinischen Erfolge nicht
denkbar.
■
Anschrift des Referenten: Dr. med. Günther Spahn Lehrbeauftragter für Palliativmedizin der Universität Zürich Klinik Susenberg Schreberweg 9 8044 Zürich
Literatur:
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