Transkript
PRAXISTIPP
Frau Ying Lee, die Ferien und das Eisen ...
Oder: Wie viele Thalassämien verpasse ich in meiner Praxis – und warum?
Die Thalassämie tritt nicht nur
in den Ländern des Mittel-
meerraums auf. Immer häufi-
ger wird die Krankheit, sicher-
lich begünstigt durch die
Zuwanderung aus dem Süden,
auch bei uns diagnostiziert.
Was muss ich tun, um eine
Thalassämie nicht zu verpas-
sen?
Martin F. Hagen
Freitagabend, kurz vor Praxisschluss, morgen gehts in die Ferien: Frau Ying Lee, eine zierliche 40-jährige Frau, klagt über zunehmende Müdigkeit und Lustlosigkeit. Ihre Familie habe sie fast gezwungen, heute noch schnell zum Hausarzt zu gehen. Etwas blass sieht sie schon aus, doch der Entscheid, das Hämatologiegerät nochmals einzustellen, braucht schon Überwindung; aber schliesslich will ich mit gutem Gewissen verreisen! Rasch kommt das Resultat: Hämoglobin 10,5 g/%, Leukozyten 11 000, Thrombozyten 151 000. Die kürzliche Investition in ein neues Hämatologiegerät macht sich nun auch bezahlt, die Indizes folgen ebenso rasch: MCV 69 fl, MCH 29,6 pg, MCHC 33,0 g/%. Damit ist die Diagnose klar: mikrozytäre, hypochrome Anämie einer jüngeren Frau – also bis zum Beweis des Gegenteils eine Eisenmangelanämie!
Sie habe seit einer Weile viel Stress am Arbeitsplatz, meint die Patientin, weshalb ich noch frage, ob sie in letzter Zeit schwarzen Stuhl gehabt hätte. Sie verneint. Da heute ohnehin mein letzter Tag vor den Sommerferien ist, lasse ich die sonst vielleicht noch übliche Serumeisenbestimmung weg (das Laborresultat sehe ich ja doch erst in 3 Wochen) und gebe ihr ein Eisenpräparat. Das gleiche Medikament habe sie letztes Jahr schon von ihrem Gynäkologen erhalten. Ob das wirklich nötig sei, fragt Frau Ying. Damals sei sie fast einen Monat lang verstopft gewesen, hätte schwarzen Stuhl gehabt und einen unangenehmen metallischen Geschmack im Mund. Genützt habe es auch nicht viel. Ich erkläre ihr, dass die Eisentabletten nur wirken, wenn sie am Morgen nüchtern eingenommen werden, und dass man diesmal wohl etwas länger behandeln müsse. Dann endlich: Anrufbeantworter einstellen, Praxistüre abschliessen ... Warum ist diese Diagnose nun leider falsch und muss Frau Ying Lee auch dieses Jahr wieder sinnlos Eisentabletten schlucken? Am neuen Gerät liegts nicht! Vielleicht an der Vorferieneuphorie? Oder vielleicht ganz einfach daran, dass die Patientin Ying und nicht Siciliana heisst!
Und jetzt etwas Theorie
Frau Ying Lee hat keinen Eisenmangel, sondern eine Alpha-Thalassaemia minor, also eine heterozygote Form der Mittelmeeranämien, welche meist komplett asymptomatisch sind und nur teilweise eine mässige mikrozytäre Anämie zeigen. Darum weiss sie auch nichts von ihrer Krankheit. Die Müdigkeit kann viele andere Ursachen haben. Die homozygoten Thalassämien machen sich bereits im frühen Kindesalter als schwere, transfusionsbedürftige Anämien bemerkbar. Sie werden in aller Regel früh diagnostiziert, und diese Patientinnen und
Abbildung: Charakteristisches, aber eben wenig spektakuläres Blutbild eines Thalassämiekranken. Die Pathologie ist wenig auffällig, die Diagnose anhand des Blutbilds allein dementsprechend schwierig.
Patienten gehören in die Betreuung erfahrener Hämatologen. Teils durch die vielen Transfusionen, teils aufgrund der auf 30 bis 40 Tage verkürzten Lebensdauer der defekten Hämoglobinketten entwickeln sie pathologische Eisenablagerungen, welche unbehandelt zu schweren Endokrinopathien und Entwicklungsstörungen führen. Heute wird versucht, möglichst viele dieser Patientinnen und Patienten mittels Knochenmarktransplantationen von ihrer Transfusionsabhängigkeit zu befreien. Für die leider noch vielen von ihnen, für welche keine Spender gefunden werden, könnten in näherer Zukunft genetische Therapien Hilfe bringen. Im Gegensatz dazu sind die heterozygoten Thalassämien, bei denen nur eine der zweipaarig angelegten Hämoglobinketten defekt ist, meist asymptomatisch. Je nach Typ des Hb-Kettendefekts entwickeln die Patientinnen eine mehr oder weniger ausgeprägte mikrozytäre Anämie. Typisch sind MCV-Werte um 65 bis 75 fl, also deutlich tiefere Werte, als sie meist bei Eisenmangelanämien auftreten. MCH und MCHC helfen bei der Unterscheidung zwischen Eisenmangel und Thalassämie nicht weiter. Hingegen kann die Leukozytose weiterhelfen. Wegen der verkürzten Lebensdauer der Erythrozyten ist die Erythropoese stark
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thema LABOR
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PRAXISTIPP
gesteigert, weshalb wir im Differenzialblutausstrich – neben den viel beschriebenen, aber wenig hilfreichen Targetzellen – häufig Normoblasten erkennen (Abbildung). Das sind junge, kernhaltige Erythrozyten – den Lymphozyten nicht unähnlich – welche bei maschineller Auswertung als Leukozyten interpretiert werden. Typisch sind Werte um 10 000 bis 13 000. Ebenfalls auffallen könnte die fehlende Thrombozytose, welche häufig bei Eisenmangel vorhanden wäre. Letztlich ist aber nur der direkte Nachweis defekter Hämoglobinketten mittels Hämoglobinelektrophorese beweisend.
Und wie gehe ich in der Praxis vor?
Am einfachsten: die Patientin fragen. Viele wissen, dass eine Blutkrankheit in der Familie vorkommt. Synonyme für die Thalassaemia minor gibt es einige: Mittelmeeranämie (nicht M-Fieber!), auf Englisch Cooleys Anaemia heterozygous oder Trait. Bei einer neu festgestellten hypochromen, mikrozytären Anämie muss vor der Eisen-
substitution das Serumeisen und Ferritin bestimmt werden. Damit lässt sich auch der wahrscheinliche Eisenbedarf abschätzen. Die Bestimmung des Ferritins sollte immer zusammen mit dem C-reaktiven Protein erfolgen, denn Ferritin ist ein Akutphasenprotein und ergibt bei jeder Entzündung falschhohe Werte. Wenn Serumeisen und Ferritin normal sind, sollte eine Hämoglobinelektrophorese erfolgen. Ein einfacher Test braucht 1 bis 5 ml EDTA-Vollblut und kostet 155 Taxpunkte. Selbstverständlich kann auch eine Thalassämikerin einen Eisenmangel haben, nur soll dann nur bis zur Normalisierung des Ferritins oder mindestens des Serumeisens substituiert und keine Normalisierung des MCV erwartet werden.
Wie häufig sind Thalassämien?
Das ist regional sehr verschieden. Die Frequenz des Beta-Thalassämie-Gens in Italien liegt in der Po-Ebene bei 0,5 bis 2 Prozent, in Sizilien oder Sardinien, aber auch in Griechenland, werden Häufigkeiten von 15 bis 20 Prozent erreicht. Noch unvollkom-
men sind die Angaben aus arabischen Län-
dern am Nordrand Afrikas (Algerien, Ma-
rokko, Tunesien, Ägypten).
Alpha-Thalassämien kommen vor allem in
Asien sowie West- und Mittelafrika vor, mit
Häufigkeiten um 10 bis 20 Prozent. In Ara-
bien, am Westrand des Mittelmeers (Irak,
Iran und Syrien), liegen die Werte bei zirka
10 Prozent.
In der Schweiz werden jährlich zirka 40 bis
60 neue Thalassämien diagnostiziert. Ver-
glichen mit banalen Eisenmangelanämien
also eine kleine Zahl. Trotzdem lohnt sich
die Suche nach Thalassämien, denn wer
selbst schon monatelang Eisentabletten
schlucken musste, weiss, wie unangenehm
das sowohl für den Patienten wie auch für
das Gewissen des Arztes ist.
Wir werden auf jeden Fall keine Thalass-
ämie mehr verpassen!
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Dr. med. Martin F. Hagen Facharzt für Hämatologie und Onkologie FMH Zugerstrasse 64 8810 Horgen
Interessenkonflikte: keine