Transkript
MEDIZIN FÜR DIE FRAU
Geschlechtsspezifische Aspekte der Hypertonie
Unterschiedliche Risiken und Komorbiditäten bei Frauen und Männern
Dass sich das zuvor im Durchschnitt niedrigere kardiovaskuläre Risiko der Frauen nach der Menopause demjenigen der Männer angleicht, ist schon seit Langem bekannt. Weniger bekannt sind jedoch die Details, wenn es um geschlechtsspezifische kardiovaskuläre Unterschiede und deren Auswirkungen bezüglich der Hypertonie geht. Sie wurden nun in einem aktuellen Review zusammengefasst.
European Heart Journal
Bei Männern liegt der durchschnittliche Blutdruck im Alter von 18 Jahren um rund 10 mmHg über den durchschnittlichen Werten gleichaltriger Frauen. Eine steigende Hypertonieprävalenz ist typisch für jüngere Männer und Männer im mittleren Alter. Die Prävalenz der Hypertonie bei Frauen nimmt hingegen erst nach der Menopause deutlich zu, ab einem Alter von über 60 Jahren. Ein allmählicher Anstieg des Blutdrucks beginnt jedoch auch bei den Frauen früher, nämlich bereits in der 3. Dekade, und der mit dem Alter allmähliche Anstieg des Blutdrucks verläuft ab diesem Zeitpunkt steiler als bei den Männern. Generell bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede in der Regulation des Blutdrucks. So weisen gesunde Frauen eine niedrigere Sensitivität des Barorezeptorreflexes und eine niedrigere Herzfrequenzvariabilität auf als Männer. Die Altersund/oder adipositasbedingte Sympathikusaktivität steigt hingegen bei Frauen stärker an als bei Männern. Hormonelle Einflüsse auf die Blutdruckregulation wurden bis anhin vor allem für Progesteron, Östrogene und Testosterone charakterisiert. Progesteron ist ein Aldosteronantagonist, welcher die Natriumretention hemmt. Mit dem Rückgang des Progesterons steigen nach der Menopause die Natriumretention und somit die Salzsensitivität. Testosterone wirken blutdrucksteigernd, und sie sind vermutlich für das höhere kardiovaskuläre Risiko bei Männern und bei Frauen nach der Menopause verantwortlich.
MERKSÄTZE
� Die klassischen Risikofaktoren und Komorbiditäten im Zusammenhang mit Hypertonie treten sowohl bei Frauen als auch bei Männern auf, aber mit unterschiedlichen Prävalenzen.
� Negative Folgen einer Hypertonie treten bei Frauen bereits ab niedrigeren Blutdruckwerten auf als bei Männern, aber es wurden noch keine geschlechtsspezifischen Grenzwerte definiert.
� Frauen leiden häufiger unter Nebenwirkungen von Blutdruckmedikamenten als Männer.
Östrogene beeinflussen den Blutdruck einerseits direkt, indem sie kalziumabhängige Stoffwechselwege hemmen, und andererseits indirekt über die Kontrolle der Synthese von Vasokonstriktoren und die Hemmung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS). Der kardioprotektive Effekt von Östrogenen vor der Menopause könnte zum Teil auf die RAAS-Hemmung zurückzuführen sein. Mit dem Rückgang der Östrogene nach der Menopause steigt gleichzeitig die Synthese starker Vasokonstriktoren wie Angiotensin II, Endothelin 1 und Katecholaminen.
Geschlechtsspezifische kardiovaskuläre Risikofaktoren
Die klassischen Risikofaktoren und Komorbiditäten im Zusammenhang mit Hypertonie treten sowohl bei Frauen als auch bei Männern auf, aber mit unterschiedlichen Prävalenzen. Progesteron und Androgene gelten als immunsuppressiv, Östrogene als immunstimulatorisch. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass Autoimmunerkrankungen bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern. Adipositas, ein wohl bekannter kardiovaskulärer Risikofaktor, tritt ebenfalls relevanter bei Frauen auf als bei Männern; hinzu kommen Schwangerschaftskomplikationen und das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS). Auch das Alter und eine reduzierte glomeruläre Filtrationsrate sind als Risikofaktoren bei Frauen wichtiger als bei Männern. Bei den Männern stehen hingegen viszerale Adipositas, metabolisches Syndrom, Typ-2-Diabetes, Dyslipidämie, Rauchen, OSAS, Albuminurie und Gicht im Vordergrund, oft verbunden mit komorbider erektiler Dysfunktion. Die höhere Prävalenz des Typ-2-Diabetes bei Männern ist altersabhängig. Frauen mit Typ-2-Diabetes haben gegenüber Männern mit Typ-2-Diabetes keinen kardiovaskulären Vorteil, sie scheinen sogar eine schlechtere Prognose als die Männer zu haben. Östrogene und Testosterone beeinflussen den Glukose- und Lipidstoffwechsel direkt. So fördert ein Östrogenmangel beziehungsweise ein relativer Anstieg des Testosterons das Entstehen einer Insulinresistenz und die Entwicklung eines proatherogenen Lipidprofils. Bei perimenopausalen Frauen können deshalb die Serumspiegel von Cholesterin, LDL-Cholesterin und Apolipoprotein B erheblich steigen.
ARS MEDICI DOSSIER VIII | 2023
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NACHGEFRAGT
Prof. Isabella Sudano Universitätsspital Zürich
Überdies ist der Blutdruck bei Frauen tendenziell weniger gut kontrolliert. Dazu kommt, dass bei Frauen Endorganschäden schon bei einem niedrigeren Blutdruck auftreten: Bei Frauen reicht ein Blutdruck von 140/90 mmHg aus, um einen gewissen Organschaden zu provozieren, der bei Männern erst bei 150/100 oder 150/95 mmHg eintritt. Bereits mit einer leichten Blutdruckerhöhung kommt es bei Frauen zu mehr kardiovaskulären Komplikationen.
«Bei Frauen treten Endorganschäden schon bei einem niedrigeren Blutdruck auf»
Wird das in den Guidelines berücksichtigt? Sudano: Die Zielwerte für Männer und Frauen sind in den Guidelines gleich – und auch die Definition, wann mit der Therapie zu beginnen ist.
Unsere wissenschaftliche Beirätin Prof. Isabella Sudano ist eine der Co-Autorinnen des Konsensus zu geschlechtsspezifischen Aspekten der Hypertonie. Wir sprachen mit ihr über praxisrelevante Punkte, an die es in diesem Zusammenhang zu denken gilt.
ARS MEDICI: Frau Prof. Sudano, inwiefern spielt das Geschlecht bei der Behandlung der Hypertonie eine Rolle? Prof. Isabella Sudano: Das wesentliche Problem ist, dass die grossen Studien mit Antihypertensiva einen Frauenanteil von maximal 30 Prozent haben. Wir behandeln also Frauen auf der Basis von Studien, die mit Männern gemacht wurden. Wir wissen aber, dass es pharmakodynamische Unterschiede gibt, das heisst, gewisse Medikamente werden bei Frauen schneller oder langsamer metabolisiert. Die Dosis kann ebenfalls eine Rolle spielen, weil Frauen generell ein anderes Körpervolumen haben als Männer. Die gleiche 12,5-mg-Dosis hat bei einer 50 kg schweren Frau andere Effekte als bei einem Mann mit 90 kg, und weiter müssen wir die Nebenwirkungen berücksichtigen. Ausserdem finde ich es immer schade, dass Frauen nicht gleich gut wie Männer behandelt werden. Medikamente, die bei Herzinsuffizienz und Hypertonie gut wirken, werden bei Frauen nicht so konsequent eingesetzt wie bei Männern. Ich glaube, bei jüngeren Frauen sind manche Kollegen generell etwas zurückhaltend. Sie geben oft nur die minimale Dosis der Medikamente und natürlich keine Medikamente, die mit einer Schwangerschaft interferien würden. So sollen Statine in der Schwangerschaft nicht genommen werden.
Wird sich daran etwas ändern? Sudano: Wir geben alles, um das zu ändern. Viele glauben nach wie vor, dass die Hypertonie nur für Frauen in der Menopause oder nach der Menopause ein Problem sei. Aber das stimmt nicht. Wir müssen auch jüngere Frauen ausserhalb der Schwangerschaft anschauen und behandeln. Wir brauchen neue Daten, und wir sollten versuchen, neue Studien zu erzwingen. Wir kennen die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich Dosis, Pharmakodynamik und Interaktionen, aber sie werden selten thematisiert und in der Praxis sicher nicht ausreichend berücksichtigt.
Dann sollte man öfter daran erinnern ... Sudano: Genau. In Zürich gibt es eine Women’s-Heart-Sprechstunde. Wir versuchen, mit unserem Konsensus-Paper mehr Aufmerksamkeit zu schaffen. Wir werden Webinare durchführen, fokussiert auf die Hypertonie und diesbezügliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Es geht nicht nur um Frauen, sondern unter anderem darum, dass Männer und Frauen unterschiedlich zu behandeln sind.
Das Interview wurde von Dr. Christine Mücke geführt. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Interview für unsere CongressSelection-Ausgabe anlässlich des Jahreskongresses der European Society of Cardiology (ESC). Das komplette Interview, in dem es um zahlreiche weitere Themen neben der Hypertonie ging, finden Sie unter https://www.rosenfluh.ch/congressselection-2022-10.
Folgen der Hypertonie für Herz und Gefässe
Bei menopausalen Frauen ist Hypertonie häufiger mit einer linksventrikulären Hypertrophie (LVH) verbunden als bei Männern, und eine LVH ist bei Frauen schlechter behandelbar. Darüber hinaus ist Hypertonie mit einer Abnahme der linksventrikulären diastolischen Funktion und einer Dilatation des linken Vorhofs verbunden. Frauen leiden häufiger unter Vorhofflimmern, und die Prävalenz der diastolischen Herzinsuffizienz (Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion, HFpEF) ist bei ihnen höher als bei den Männern. Bei den Männern hingegen kommt es eher zu einer Dilatation des linken Ventrikels, zu kardiovaskulären Verkalkungen und zu einem Rückgang der linksventrikulären systolischen Funktion. Männer erleiden häufiger einen akuten Herzinfarkt als Frauen, und die Prävalenz der Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF) ist bei ihnen höher als bei Frauen.
Auch bei der mikro- und makrovaskulären Struktur und Funktion der Arterien gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. So haben Frauen relativ zu ihrer Körpergrösse eine kleinere Aortenwurzel, und ihre Arterien sind tendenziell steifer als bei den Männern, wobei Letzteres besonders für die Aorta ascendens gilt. Männer im Alter bis zu 85 Jahren haben eine höhere Schlaganfallinzidenz als gleichaltrige Frauen. Allerdings beginnt das Schlaganfallrisiko bei Frauen bereits ab niedrigeren Blutdruckwerten zu steigen als bei Männern. Letzteres gilt generell für den Zusammenhang zwischen Hypertonie und kardiovaskulärem Risiko, nicht nur für den Schlaganfall, sondern auch für Herzinfarkt und Herzinsuffizienz. Zu einer Einführung geschlechtsspezifischer Grenzwerte hat diese Erkenntnis aber noch nicht geführt.
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Unterschiedliche Wirkung von Medikamenten
Mit der Ausnahme der Mineralokortikoidrezeptorantagonisten leiden Frauen häufiger unter Nebenwirkungen von Blutdruckmedikamenten als Männer. Geschlechtsspezifsche Unterschiede zeigen sich im Nebenwirkungsprofil verschiedener Antihypertonika: Frauen erleiden unter Diuretika häufiger Hyponatriämie, Hypokaliämie oder Arrhythmien, und sie haben häufiger Ödeme unter Kalziumkanalantagonisten sowie Husten unter ACE-Hemmern als Männer. Männer wiederum haben unter Diuretika häufiger Gicht als Frauen, und es kann zu erektiler Dysfunktion unter Betablockern kommen. Die Wirksamkeit der nicht medikamentösen Massnahmen Salzverzicht und Sport erwies sich in Studien als geschlechtsspezifisch. Während der Salzverzicht bei Hypertonie nur bei den Frauen relevant war, erwies sich eine aerobe Trainingstherapie bei den Männern als erfolgreicher. Über allfällige Wirksamkeitsunterschiede der gängigen Blutdruckmedikamentenklassen ist relativ wenig bekannt. Die Wirksamkeit von Betablockern und Kalziumkanalantagonisten soll bei Frauen höher sein als bei Männern. In den bis anhin nur wenigen Zusatzauswertungen von Hypertoniestu-
dien erwiesen sich die gängigen Substanzen zur Blutdruck-
kontrolle als gleichwertig für beide Geschlechter. So kamen
die Autoren einer grossen Metaanalyse aus dem Jahr 2008 zu
dem Schluss, dass für beide Geschlechter vergleichbare Er-
folge bezüglich einer Reduktion des Blutdrucks und der kar-
diovaskulären Risiken für ACE-Hemmer, Sartane, Kalzium-
antagonisten, Diuretika und Betablocker zu erwarten seien.
Ein ähnliches Resultat hatte eine 2018 publizierte Metaana-
lyse.
Trotzdem ist die medikamentöse Kontrolle des Blutdrucks bei
Männern generell erfolgreicher als bei Frauen. Woran das
liegt, weiss man nicht. Bekannt ist allerdings, dass Depressio-
nen und Unzufriedenheit mit dem behandelnden Arzt insbe-
sondere bei älteren Frauen, nicht aber bei den Männern, mit
einer mangelnden Therapietreue assoziiert sind.
s
Renate Bonifer
Quelle: Gerdts E et al.: Sex differences in arterial hypertension. Eur Heart J. 2022;43(46):4777-4788.
Interessenlage: 7 der 17 Autoren geben Verbindungen zu verschiedenen Herstellern von Medikamenten oder Medizintechnik an.
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