Transkript
Neue Ziele für die Therapie der Arthrose
Auch Knorpel kann regenerieren
SCHMERZ
In der Therapie der Arthrose konnten in den vergangenen Jahren keine relevanten Fortschritte erzielt werden. Möglicherweise liegt das an der Wahl der falschen Therapieziele. Die präklinische Forschung konnte mittlerweile nämlich zeigen, dass Knorpel eine bessere Regenerationsfähigkeit aufweist als bisher angenommen.
Die im April 2022 zur Konsultation präsentierte NICE-Guidance zum Management der Arthrose zeigt ein ernüchterndes Bild. Insgesamt wurden 125 randomisierte, kontrollierte Studien ausgewertet, denen eine moderate bis sehr schlechte methodische Qualität bescheinigt wurde. Die beste Evidenz besteht für Bewegung und Training, wobei Training unter Anleitung vorzuziehen ist. Ebenfalls empfohlen, aber mit geringerem Evidenzgrad, wird eine Gewichtsreduktion – idealerweise um mehr als 10 Prozent des Körpergewichts. Medikamentöse Behandlungen sollen allenfalls in Betracht gezogen werden. Hier gibt es Evidenz lediglich für den Einsatz topischer NSAR sowie, als letzten Ausweg, für intraartikuläre Steroidinjektionen. Alle anderen medikamentösen Massnahmen inklusive Schmerzmedikation sollen dezidiert vermieden werden beziehungsweise werden nicht als kosteneffektiv eingestuft (1).
Bei Anabolismus und Katabolismus ansetzen
Es besteht folglich ein hoher Bedarf an neuen wirksamen Therapien. Dabei könne potenziell beim Anabolismus und beim Katabolismus des Knorpels angesetzt werden, so Prof. Tonia Vincent, Leiterin des Centre for OA Pathogenesis an der Universität Oxford. Die anabole Seite sei in den letzten Jahren weitgehend ignoriert worden, da man fest davon überzeugt gewesen sei, dass Knorpel nicht regenerieren könne. Folglich wurden alle Bemühungen auf die katabolen Aspekte der Arthrose konzentriert, wobei Proteasen und inflammatorische Zytokine mögliche Ziele für therapeutische Interventionen darstellten. Man habe, so Vincent, in einer grossen Zahl randomisierter, kontrollierter Studien synthetische DMARD, Anti-TNF-, Anti-IL-1 und Anti-IL-6-Therapien in der Indikation Arthrose untersucht und dabei durchweg negative Ergebnisse erhalten. Diese deprimierenden Nachrichten stellten jedoch nur einen Aspekt der aktuellen Forschung dar, betont Vincent und weist auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Arthrose und inflammatorischer Arthritis hin: die Bedeutung von mechanischem Stress. Dieser kann als Folge von Fehlstellungen oder erhöhter Belastung (z. B. bei Adipositas) ebenso relevant werden wie bei Gelenken, die ihre mechanoprotektiven Mechanismen verloren haben. Letzteres kann Folge akuter Verletzungen oder
des Alterungsprozesses sein. Das gelte keineswegs nur für die grossen Gelenke, sondern auch für die Finger.
Chondrozyten sind aktiver als bisher angenommen
Die Grundlagenforschung, die sich seit 20 Jahren auf die Identifikation neuer Therapieziele konzentriere, mache zumindest Hoffnung, so Vincent. So habe man erst vor wenigen Jahren verstanden, dass in den sonst eher indolenten Chondrozyten nach mechanischer Schädigung innerhalb von Sekunden eine Vielzahl von Signalwegen aktiviert werde. In der Folge beginnt durch Aktivierung der zugehörigen Gene die Expression zahlreicher Proteine, die in der Synovia nachgewiesen werden können. Auf Basis dieser Erkenntnis wurde das Konzept der «Mechanoflammation» entwickelt. Dabei komme es, so Vincent, durch das Einwirken von Scherkräften zu einer intrinsischen Aktivierung von Entzündungsprozessen, die zum Abbau von Knorpelmatrix und zu Schmerz führten. Interessanterweise habe sich aber gleichzeitig gezeigt, dass Kompression hilfreich für die Matrix sei, da sie zur Ausschüttung von Wachstumsfaktoren führe, die die Regeneration und die Reparatur des Knorpels förderten.
Wachstumsfaktoren unterstützen Reparaturmechanismen
Dass diese Prozesse nicht nur im Tiermodell, sondern auch beim Menschen relevant sind, legen nicht zuletzt Genome Wide Association Studies (GWAS) nahe, die mehr als 100 mit dem Auftreten von Arthrose assoziierte Punktmutationen zutage brachten (2). Diese Loci betreffen die zuvor erwähnten Wachstumsfaktoren und die damit assoziierten Reparaturmechanismen. Vincent: «Das bedeutet, dass wir uns in der klinischen Forschung möglicherweise auf die falschen Ziele konzentriert haben und dass es besser wäre, Reparaturmechanismen anzukurbeln, als Inflammation zu unterdrücken. Ein durch Arthrose geschädigter Knorpel kann offenbar repariert werden.» Einen wichtigen Hinweis in diese Richtung liefern Studien zur Gelenkdistraktion, bei der mit externen Fixateuren das Kniegelenk um etwa einen halben Zentimeter gespreizt wird. Vincent wies darauf hin, dass die Patienten mit den Fixateu-
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ren gehen könnten und es in der Folge sehr wohl zu Kompression, nicht aber zum Einwirken von Scherkräften komme. Diese Prozedur führt zu einer anhaltenden Verbesserung von Schmerz und Funktion sowie zu einer in der Bildgebung sichtbaren Regeneration des Knorpels (3). In direkten Vergleichsstudien erwies sich diese Methode als klinisch ähnlich effektiv wie der komplette Ersatz des Kniegelenks (4). Studien mit grösseren Patientenpopulationen laufen. Ein weiterer Therapieansatz, der sich auf die Regenerationsfähigkeit des Knorpels stützt, wurde in der randomisierten FORWARD-Studie untersucht. Dabei kamen intraartikuläre Injektionen von Sprifermin, einem rekombinanten Analogon des humanen Fibroblastenwachstumfaktors rhFGF18, zum Einsatz. Vincent wies darauf hin, dass dieser Faktor in den GWAS als potenzielles Target identifiziert worden sei, die FORWARD-Studie jedoch bereits vor Publikation dieser Daten begonnen habe. Der primäre Endpunkt wurde erreicht: Die Knorpeldicke im Femorotibialgelenk, gemessen nach 2 Jahren mit quantitativer MRT, nahm unter Behandlung mit Sprifermin signifikant stärker zu als in der Plazebogruppe (5). Dieser Effekt war dosisabhängig (6). Allerdings wurde ein bedeutender sekundärer Endpunkt verfehlt: Die Behandlung bewirkte keine Schmerzreduktion. Damit sanken die Erwartungen in diese Therapie dramatisch. Vincent gab allerdings zu bedenken, dass in die Arthrosestudien sehr breite Populationen eingeschlossen würden, wovon eine Mehrheit im Beobachtungszeitraum keine Progression durchmachen werde. Dass das eine Rolle spielen könnte, legt eine Post-hoc-Subgruppenanalyse der FORWARD-Studie nahe, die bei Patienten mit hohem Progressionsrisiko einen sehr deutlichen Effekt der Behandlung auch auf die Schmerzsymptomatik fand (7). Ein Schlüssel zur Identifikation potenzieller Responder könnte die Bildung von Kollagen II sein, zumal Daten aus der FORWARD-Studie zeigen, dass Patienten mit niedriger Kollagen-II-Bildung gut auf Sprifermin ansprechen, während das bei hoher Kollagen-II-Bildung nicht der Fall ist (8).
Anti-IL-1-Antikörper sind noch nicht aus dem Rennen
Einige neue Therapieansätze befinden sich in klinischen Studien. Vincent weist auf LNA043 hin, einen ANGPTL3-Agonisten, der zahlreiche für die Knorpelregeneration wichtige Signalwege modifizieren soll und in Gelenke injiziert wird. Die US Food and Drug Administration hat für eine mögliche Zulassung von LNA043 ein Fast-Track-Verfahren zugesagt. In einer der derzeit laufenden klinischen Studien wird LNA043 mit dem Anti-IL-1-Biologikum Canakinumab kombiniert. Die Datenlage zu den ebenfalls in dieser Indikation untersuchten Anti-IL-1-Therapien ist widersprüchlich. In einer Phase-IIa-Studie verfehlte der Antikörper Lutikizumab in der Indikation erosive Arthrose der Fingergelenke den primären Endpunkt (9). Man sei sich jedoch nicht sicher, ob die Einschränkung auf eine sehr genau definierte Patientenpopulation in diesem Fall zielführend gewesen sei beziehungsweise ob man sich tatsächlich für die richtige Patientenpopulation entschieden habe, so Vincent. Im Gegensatz dazu
führten Analysen der CANTOS-Studie bemerkenswerten
Ergebnissen. In der CANTOS-Studie wurde Canakinumab
in einem Kollektiv kardiovaskulärer Risikopatienten mit
Hinweisen auf eine systemische Inflammation untersucht. Es
reduzierte signifikant die kardiovaskuläre Ereignisrate (10).
Der klinische Einsatz scheitert bislang vor allem am prohibi-
tiven Preis des Biologikums. Mittlerweile wurde jedoch im
Canakinumab-Arm der CANTOS-Studie auch eine mit 50
Prozent sehr deutliche Reduktion der Inzidenz von Hüft-
oder Kniegelenkersatzoperationen festgestellt (11). Das war
kein Wirksamkeitsendpunkt der Studie, und verschiedene
Störfaktoren können nicht ausgeschlossen werden. Es seien,
so Vincent, zudem keine weiteren Daten zum Gelenkersatz in
dieser Population verfügbar, aber man habe hier doch ein
Signal, das auf einen möglichen Nutzen der IL-1-Inhibition
hinweise. Nicht zuletzt wies Vincent auf die Bedeutung meh-
rerer internationaler Konsortien (STEP UP OA, APPROACH)
hin, die unter anderem Phänotypen der Arthrose besser defi-
nieren und potenzielle Responder der verschiedenen Thera-
pieansätze identifizieren sollen.
s
Reno Barth
Quelle: What is New (WIN) Session «Osteoarthritis – evolving treatments» an der hybriden Jahrestagung der European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR), 1. Juni 2022 in Kopenhagen.
Referenzen: 1. https://www.nice.org.uk/guidance/indevelopment/
gid-ng10127/documents 2. Boer CG et al.: Deciphering osteoarthritis genetics across
826 690 individuals from 9 populations. Cell. 2021;184(18):47844818.e17. 3. Wiegant K et al.: Sustained clinical and structural benefit after joint distraction in the treatment of severe knee osteoarthritis. Osteoarthritis Cartilage. 2013;21(11):1660-7. 4. Jansen MP et al.: Knee Joint Distraction Compared with High Tibial Osteotomy and Total Knee Arthroplasty: Two-Year Clinical, Radiographic, and Biochemical Marker Outcomes of Two Randomized Controlled Trials. Cartilage. 2021;12(2):181-191. 5. Hochberg MC et al.: Effect of Intra-Articular Sprifermin vs Placebo on Femorotibial Joint Cartilage Thickness in Patients With Osteoarthritis: The FORWARD Randomized Clinical Trial. JAMA. 2019;322(14):1360-1370. 6. Eckstein F et al.: Intra-articular sprifermin reduces cartilage loss in addition to increasing cartilage gain independent of location in the femorotibial joint: post-hoc analysis of a randomised, placebo-controlled phase II clinical trial. Ann Rheum Dis. 2020;79(4):525-528. 7. Guehring H et al.: The effects of sprifermin on symptoms and structure in a subgroup at risk of progression in the FORWARD knee osteoarthritis trial. Semin Arthritis Rheum. 2021;51(2):450456. 8. Bay-Jensen AC et al.: Low levels of type II collagen formation (PRO-C2) are associated with response to sprifermin: a predefined, exploratory biomarker analysis from the FORWARD study. Osteoarthritis Cartilage. 2022;30(1):92-99. 9. Kloppenburg M et al.: Phase IIa, placebo-controlled, randomised study of lutikizumab, an anti-interleukin-1α and anti-interleukin-1β dual variable domain immunoglobulin, in patients with erosive hand osteoarthritis. Ann Rheum Dis. 2019;78(3):413-420. 10. Ridker PM et al.: Antiinflammatory Therapy with Canakinumab for Atherosclerotic Disease. N Engl J Med. 2017; 377:1119-113. 11. Schieker M et al.: Effects of Interleukin-1β Inhibition on Incident Hip and Knee Replacement: Exploratory Analyses From a Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled Trial. Ann Intern Med. 2020;173(7):509-515.
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