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SCHMERZ
Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen
Neuropathische Schmerzen durch eine Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems wie z. B. eine postherpetische Neuralgie, eine Polyneuropathie oder ein zentraler Schmerz nach Schlaganfall sind häufig und beeinträchtigen die Lebensqualität. Die meisten Patienten klagen über einen anhaltenden oder intermittierenden spontanen Schmerz von brennender oder stechender Qualität, der von evozierten Schmerzen begleitet sein kann, insbesondere bei leichter Berührung und Kälte. Neuropathische Schmerzen sind eine therapeutische Herausforderung, da oft keine Schmerzfreiheit erreicht werden kann und ein Teil der Patienten unzureichend anspricht oder an intolerablen Nebenwirkungen leidet. Therapieziele müssen daher realistisch erörtert werden.
Jens A. Petersen1 und Tanja Schlereth2
Neuropathische Schmerzen als Folge einer Schädigung des somatosensorischen Systems (1) sind häufig, ihre Prävalenz liegt bei 6,9 bis 10 Prozent (2). Anamnestisch, klinisch und gegebenenfalls apparativ sind periphere von zentralen neuropathischen Schmerzen zu differenzieren. Letztere sind häufig schwieriger zu behandeln. Die Diagnose neuropathischer Schmerzen stützt sich auf die typischen Symptome und Befunde, insbesondere auf die Kombination von Minussymptomen (sensible Defizite wie Hypästhesie, Hypalgesie) und Plussymptomen (brennende Schmerzen, vor allem in Ruhe, einschiessende Schmerzattacken, Allodynie, Hyperalgesie). Im Gegensatz zu neuropathischen Schmerzen ist bei nozizeptiven Schmerzen das somatosensorische System intakt; die Schmerzen entstehen durch Aktivierung von Nozizeptoren (z. B. Schmerz bei Arthrose). Von noziplastischen Schmerzen
1 Neurozentrum Bern 2 DKG Helios Klinik Wiesbaden
MERKSÄTZE
� Die Diagnose neuropathischer Schmerzen stützt sich auf die Kombination von Minussymptomen (sensible Defizite) und Plussymptomen (brennende Schmerzen, einschiessende Schmerzattacken, Allodynie, Hyperalgesie).
� Eine anamnestisch und klinisch vermutete Schädigung des somatosensorischen Systems sollte mittels apparativer Diagnostik objektiviert werden.
� Realistische Therapieziele sind: Schmerzreduktion um ≥ 30%, Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität sowie der Funktionalität, Erhaltung der sozialen Aktivität und der Arbeitsfähigkeit.
spricht man, wenn Schmerzen auftreten, bei denen weder eine Schädigung des somatosensorischen Systems noch eine Gewebeschädigung als Ursache einer Aktivierung peripherer Nozizeptoren nachweisbar ist. Die Therapie neuropathischer Schmerzen unterscheidet sich von der Therapie nozizeptiver und noziplastischer Schmerzen. Das Vorliegen einer neuropathischen Schmerzkomponente schliesst allerdings eine zusätzliche nozizeptive Schmerzkomponente beim selben Patienten nicht aus (z. B. Ulkusschmerz am Fuss und zusätzlich schmerzhafte diabetische Polyneuropathie), manchmal ist eine eindeutige Zuordnung nicht möglich (sogenannte gemischte Schmerzsyndrome, «mixed pain»). Zur Diagnosestellung eines neuropathischen Schmerzes werden folgende Kriterien angewendet: 1. Die Anamnese ist vereinbar mit einer relevanten Läsion
oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems. 2. Die Schmerzlokalisation befindet sich in einem neuroanatomisch plausiblen Areal. 3. Es findet sich mindestens ein pathologischer Sensibilitätsbefund innerhalb des neuroanatomisch plausiblen Areals der Schmerzausbreitung. 4. Eine relevante Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems lässt sich mittels mindestens eines Untersuchungsverfahrens nachweisen. Bei der Graduierung wird zwischen sicheren, wahrscheinlichen, möglichen und unwahrscheinlichen neuropathischen Schmerzen unterschieden (1, 3, 4) (Abbildung). Bei Fehlen jeglicher Kriterien ist die Diagnose eines neuropathischen Schmerzes unwahrscheinlich. Pathophysiologisch konnte für neuropathische Schmerzen die Ausbildung einer pathologischen Spontanaktivität in geschädigten und intakten nozizeptiven Afferenzen als Folge biochemischer, physiologischer, morphologischer und teil-
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Anamnese
Leitsymptom Schmerz
Neuroanatomisch plausible Schmerzausbreitung und
relevante Läsion oder Erkrankung in der Anamnese
Ja Mögliche neuropathische Schmerzen
Nein Neuropathische Schmerzen
unwahrscheinlich
Sensibilitätsprüfung
Negative oder positive sensorische Zeichen, die sich auf das Innervationsgebiet der verletzten bzw. erkrankten
Nervenstruktur beschränken
Ja Wahrscheinliche neuropathische Schmerzen
Apparative Diagnostik
Apparative diagnostische Untersuchungen, die die Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen
Nervensystems bestätigen
Ja Gesicherte neuropathische Schmerzen
Abbildung: Flussdiagramm zur Abklärung neuropathischer Schmerzen (mod. nach [5]).
weise genetischer Veränderungen gezeigt werden. Durch die Läsion werden plastische Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem induziert, woraus eine Imbalance zwischen exzitatorischen und inhibitorischen Mechanismen und gestörten deszendierenden Hemmmechanismen resultiert (6, 7).
Anamnese und Klinik
Die Anamnese liefert Informationen zu einer relevanten Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems und dient der Abgrenzung neuropathischer gegenüber nozizeptiver und noziplastischer Schmerzen. Ausserdem liefert die Anamnese Informationen zu funktioneller Beeinträchtigung, bisherigen Behandlungen und schmerzrelevanten Komorbiditäten wie Angst, Depression oder Schlafstörungen. Negative sensible Symptome wie ein Taubheitsgefühl sind für den Patienten unangenehm und zum Teil einschränkend aber nicht schmerzhaft und können medikamentös nicht beeinflusst werden. Charakteristische Symptome neuropathischer Schmerzen wie durch leichte Berührung evozierte Schmerzen (Allodynie) und eine Überempfindlichkeit gegenüber schmerzhaften Reizen (Hyperalgesie) werden als positive sensible Symptome bezeichnet und bedürfen meist einer Therapie. Neuropathische Schmerzen treten in der Regel spontan auf (ohne äusseren Reiz). Die Schmerzqualität ist oft brennend, und die Schmerzen können dauerhaft vorhanden sein. Im Gegensatz zu nozizeptiven Schmerzen ist die Symptomatik typischerweise nicht von physischer Belastung oder Bewegung abhängig. Häufig treten auch spontan einschiessende, stechende, elektrisierende Schmerzattacken auf (neuralgieformer Schmerz). Bei Polyneuropathien sind ein Druck- oder Engegefühl an Händen und Füssen, Kribbelparästhesien (Ameisenlaufen) und Dysästhesien (schmerzhafte Parästhesien) typisch. Einige Patienten beschreiben einen quälenden Juckreiz, Muskelkrämpfe oder eine Bewegungsunruhe im Sinne eines Restless-Legs-Syndroms. Als Deafferenzierungsschmerz bezeichnet man Schmerzen, die nach der kompletten Unterbrechung grosser Nervenstämme (z. B. bei Amputation) oder Bahnsysteme (z. B. Querschnittssyndrome) entstehen (6).
Mit einer klinisch-neurologischen Untersuchung werden pathologische Befunde und deren Verteilungsmuster festgestellt. Wichtig sind die Dokumentation von Berührungs- und Schmerz- sowie Temperaturempfinden, Propriozeption, Pallästhesie, aber auch die Kraftprüfung und die Untersuchung der Muskeleigenreflexe. Die Schmerzintensität kann mit einer 11-teiligen numerischen Rating-Skala (NRS) quantifiziert werden, auf der die Schmerzintensität zwischen 0 (kein Schmerz) und 10 (maximal vorstellbarer Schmerz) einzuordnen ist. Eine Alternative ist die visuelle Analogskala, bei der auf einer 10 cm langen horizontalen Linie mit den Endpunkten «kein Schmerz» und «maximal vorstellbarer Schmerz» die Schmerzstärke markiert wird. Als Screeninginstrumente oder zur Einschätzung der Schwere der Neuropathie werden validierte Fragebögen eingesetzt. Sie können als Ergänzung zur klinischen Diagnostik einen guten Überblick über die subjektive Schmerzwahrnehmung und die psychosoziale Komponente des Schmerzes geben, sind jedoch ohne klinische Untersuchung nicht als alleiniges Mittel zur Diagnose neuropathischer Schmerzen geeignet.
Zusatzdiagnostik
Wird anamnestisch und klinisch eine Schädigung des somatosensorischen Systems vermutet, kann diese mittels apparativer Diagnostik objektiviert werden. In Abhängigkeit von der Grunderkrankung und der Befundlage kommt das gesamte Spektrum der apparativen und labormedizinischen Diagnostik zur Anwendung (z. B. Labor-, Liquoruntersuchungen, somatosensibel evozierte Potenziale, Elektroneurografie, Elektromyografie, bildgebende Verfahren wie MRT oder CT). Die im Folgenden zusammengefassten Methoden dienen dem Nachweis einer Schädigung des nozizeptiven Systems, insbesondere der afferenten C- und Ad-Fasern als Ursache neuropathischer Schmerzen. Goldstandard bei der Diagnostik einer Small-Fiber-Neuropathie ist die Hautbiopsie (8). Bei der Hautstanzbiopsie werden wenige Quadratmillimeter Haut immunhistochemisch auf die Anzahl der intraepidermalen, unbemarkten C-Nervenfasern (nozizeptive Afferenzen) untersucht. Ein typischer Befund bei Small-Fiber-Neuropathien ist die Reduktion der intraepidermalen Nervenfaserdichte (IENFD). Eine etablierte, nicht invasive Methode ist die quantitative sensorische Testung (QST), ein psychophysisches Verfahren, bei dem mittels standardisierter somatosensorischer Testreize die Sensibilität der Haut und der darunterliegenden Strukturen (Muskeln/Faszien) untersucht wird. Somit kann sowohl die Funktion der dünn myelinisierten Ad- sowie der nicht myelinisierten C-Fasern und ihrer zentralen Bahnen (Tractus spinothalamicus) durch thermische Reize als auch die Funktion der dick myelinisierten Aβ-Fasern und der Hinterstränge mit punktförmigen oder streichenden Berührungen sowie durch Vibration getestet werden. Bei laserevozierten Potenzialen (LEP) werden die Nozizeptoren der Haut (z. B. an der Hand) thermisch und berührungsfrei gereizt und somit dünne Ad- bzw. C-Fasern aktiviert, die Potenziale werden mittels EEG an der Kopfhaut abgeleitet. LEP zählen aufgrund des hohen technischen und zeitlichen Aufwands nicht zur Routinediagnostik. Die Ableitung von schmerzassoziierten evozierten Potenzialen (pain-related evoked potentials, PREP) ist ein elektrophy-
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siologisches Verfahren, das unter Einsatz von konzentrischen Oberflächenelektroden und Stimulation mit geringen Stromstärken die Reizung epidermaler Ad-Fasern erlaubt und ein über dem Scheitel ableitbares Potenzial induziert. Die in vivo korneale, konfokale Mikroskopie (CCM) ist ein nicht invasives, schnell durchzuführendes Verfahren zur quantitativen Untersuchung der kornealen Fasern des subbasalen Plexus (zwischen der Basalmembran und der Bowman-Membran), dessen kleine Nervenfasern dem N. ophthalmicus als Ast des N. trigeminus entstammen; es handelt sich um Ad- und C-Fasern mit niederschwelligen polymodalen Rezeptoren für nozizeptive, mechanische und Kältereize. Die CCM kann von geschulten Untersuchern in der Diagnostik neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden, insbesondere wenn die konventionellen elektrophysiologischen Methoden keine Auffälligkeiten zeigen und/oder der Verdacht auf eine Affektion der kleinkalibrigen Nervenfasern (Small-Fiber-Neuropathie) besteht. Mithilfe der Bestimmung der Grösse des Axonreflexerythems kann die Funktion von afferenten peripheren C-Fasern (Nozizeptoren) untersucht werden. Bei Aktivierung von peripheren C-Fasern breiten sich die Aktionspotenziale im gesamten axonalen Baum in der Haut aus. In den terminalen Nervenendigungen führen die Aktionspotenziale zu einer Ausschüttung des Neuropeptids CGRP (calcitonin generelated peptide), das in der Haut eine Vasodilatation verursacht und als Rötung (neurogener Flare) sichtbar wird (9, 10). Wenn C-Fasern in der Haut degenerieren, wird das Axonreflexerythem kleiner (11, 12). Das Axonreflexerythem kann chemisch beispielsweise durch Histamin (13) oder Acetylcholin (14), mechanisch (15), durch Hitze (16) oder elektrisch ausgelöst werden. Die Grösse der Hautrötung kann über einen Laser-Doppler-Imager (17) oder andere Methoden wie die Laser-Speckle-Kontrastanalyse quantifiziert werden (18).
Pharmakotherapie
Neuropathische Schmerzen sind eine therapeutische Herausforderung, da oft keine Schmerzfreiheit erreicht werden kann und ein Teil der Patienten nur unzureichend anspricht oder an intolerablen Nebenwirkungen leidet. Therapieziele müssen deshalb realistisch erörtert werden. Realistisch sind folgende Therapieziele: Schmerzreduktion um ≥ 30 Prozent, Verbesserung der Schlafqualität, Verbesserung der Lebensqualität, Erhaltung der sozialen Aktivität und des sozialen Beziehungsgefüges, Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, Verbesserung der Funktionalität. Vor Therapiebeginn sollte zur Erhöhung der Compliance über potenzielle Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Auch sollten die Patienten darüber unterrichtet werden, dass die Wirkung nach Eindosierung und Erreichen einer wirksamen Dosis mit zeitlicher Verzögerung einsetzt; so kann ein frühzeitiges Absetzen von potenziell wirksamen Präparaten vermieden werden. Durch Kombination mehrerer Medikamente können synergistisch schmerzhemmende Effekte bei niedrigeren Einzeldosen eintreten (19). Bei der Therapieplanung ist der Zulassungsstatus der einzelnen Substanzen zu beachten, was dazu führt, dass einige Substanzen off label verwendet werden. Kriterien für den Offlabel-Gebrauch sind nachgewiesene Wirksamkeit, günstiges Nutzen-Risiko-Profil und fehlende Alternativen (individueller
Heilversuch). Ausserdem hat der behandelnde Arzt eine besondere Pflicht zur Aufklärung über mögliche Konsequenzen des Off-label-Gebrauchs (keine Herstellerhaftung usw.). Gabapentin und Pregabalin sollen als Medikamente der 1. Wahl zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden (Tabelle). Eine aktuelle Cochrane-Metaanalyse zur Wirkung von Gabapentin (20) konnte eine signifikante Schmerzreduktion um > 30 Prozent bei postherpetischer Neuralgie (PHN) und schmerzhafter diabetischer Neuropathie nachweisen. Nebenwirkungen sind Schläfrigkeit, Schwindel, periphere Ödeme sowie Gangstörungen und Ataxie. Eine weitere systematische Übersicht und Metaanalyse (21) zeigte eine kombinierte NNT (number needed to treat) von 6,3 für Gabapentin. Die NNT von Pregabalin (150–600 mg/Tag) lag bei 7,7 (21). Zur Therapie der 1. Wahl bei neuropathischen Schmerzen zählen auch trizyklische Antidepressiva (TCA), wobei in der Nutzen-Risiko-Abwägung die Nebenwirkungen, die Arzneimittelinteraktionen sowie die kardiale Toxizität berücksichtigt werden sollten. Mehrere Metaanalysen und eine Cochrane-Analyse bekräftigen die Wirksamkeit von TCA und heben hervor, dass die Evidenz auf mehreren kleinen Studien beruht (21–24). TCA haben keine direkten antinozizeptiven Eigenschaften und sind auch wirksam bei Patienten, die keine Depressionen haben. Der Effekt auf die neuropathischen Schmerzen scheint früher und mit geringeren Dosierungen einzutreten als der Effekt auf die Depression. Für Amitriptylin und Clomipramin, die die Noradrenalin- und die Serotonin-Wiederaufnahme hemmen, beträgt nach einer Metaanalyse von Finnerup (21) die NNT 2,1. Auch Duloxetin soll als Medikament der 1. Wahl zur Therapie von neuropathischen Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden. Bei Patienten mit schmerzhafter diabetischer Neuropathie ist der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Duloxetin in der Dosierung 60 oder 120 mg pro Tag wirksam (25–29). Die NNT für eine mindestens 50-prozentige Schmerzreduktion nach 12 Wochen Behandlung mit Duloxetin 60 mg vs. Plazebo liegt bei 5,8 und für Duloxetin 120 mg bei 5,7 (28). In einer randomisierten, nicht plazebokontrollierten Head-to-Head-Studie (30) zeigte sich bei Patienten mit einer schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie hinsichtlich der analgetischen Wirksamkeit kein Unterschied zwischen Amitriptylin, Duloxetin und Pregabalin. Sowohl schwach wirksame µ-Opioid-Rezeptor-Agonisten und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Tramadol als auch hochpotente Opioide können zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache als Medikamente dritter Wahl eingesetzt werden. Unerwünschte Nebenwirkungen, Toleranzentwicklung sowie komorbide Suchterkrankungen können die Anwendung limitieren. Opioide werden in einem Konsensusstatement der Canadian Pain Society (31) als Mittel der 2. Wahl in der Behandlung chronischer neuropathischer Schmerzen empfohlen. Demgegenüber findet sich in einem Übersichtsartikel von Finnerup et al. (21) eine Empfehlung für schwache Opioide als Zweitlinientherapie, während für starke Opioide nur eine Empfehlung als Medikation der 3. Wahl gegeben wird. Begründet wird diese Abstufung mit dem Missbrauchspotenzial starker Opioide bei der chronischen Anwendung und der steigenden Mortalität infolge
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Tabelle:
Medikamentöse Therapieoptionen bei neuropathischen Schmerzen
Substanzen der 1. Wahl Substanzen der 2. Wahl (insbesondere bei fokalen neuropathischen Schmerzen) Substanzen der 3. Wahl Substanzen, die in Einzelfällen erwogen werden können
▲ Pregabalin/Gabapentin ▲ Trizyklische Antidepressiva
(Amitriptylin) ▲ SNRI (selektive Serotonin-
NoradrenalinReuptake-Inhibitoren): Duloxetin ▲ Lidocain-Pflaster ▲ Capsaicin-Pflaster
▲ Opioide ▲ Carbamazepin/Oxcarbazepin ▲ Lamotrigin ▲ Venlafaxin ▲ Cannabinoide im Rahmen eines
multimodalen Schmerztherapiekonzepts
Quelle: mod. nach (5)
Überdosis. Bei kürzerer Anwendung (Studiendauer bis 12 Wochen) zeigte sich in einer Metaanalyse von Sommer et al. (32), dass Opioide in therapeutischer Anwendung bei chronischen neuropathischen Schmerzen gegenüber Plazebo in der Wirksamkeit überlegen, in ihrer Verträglichkeit aber unterlegen waren. Venlafaxin kann aufgrund der nicht ausreichenden Datenlage nicht für die Therapie von neuropathischen Schmerzen jeglicher Ursache empfohlen werden, kann aber in Einzelfällen als Off-label-Gebrauch erwogen werden. Die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI, z. B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Citalopram, Escitalopram, Sertralin) bei neuropathischen Schmerzen konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden (21, 33), die bisher durchgeführten Studien waren sehr klein, nicht randomisiert, nicht kontrolliert oder konnten keinen relevanten Effekt zeigen (34–37). Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva (z. B. Mirtazapin) sollten bei neuropathischen Schmerzen jeglicher Ursache nicht zum Einsatz kommen. Ein systematischer Übersichtsartikel (38) fand, dass aufgrund der unzureichenden Studienlage keine Bewertung der Evidenz von Carbamazepin bei der Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie möglich ist. Zusätzlich konnten eine Cochrane-Analyse (39) und die NeuPSIG-Empfehlungen (21) aufgrund der mangelnden Datenqualität keine valide Bewertung für die Wirksamkeit von Carbamazepin bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen erbringen. Zudem ist das Nebenwirkungsprofil von Carbamazepin ungünstig (21). Die Studienlage zur Effektivität von Oxcarbazepin bei neuropathischen Schmerzen ist unzureichend, in Einzelfällen kann ein Behandlungsversuch erwogen werden, allerdings bei ungünstigem Nebenwirkungsprofil (Hyponatriämie) sowie möglichen Arzneimittelinteraktionen. Eine Indikation für die Gabe von Carbamazepin und Oxcarbazepin besteht hingegen für die Behandlung der Trigeminusneuralgie.
Lamotrigin kann in der Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen nicht generell empfohlen werden, jedoch im Einzelfall als Off-label-Gebrauch, insbesondere bei HIV-Neuropathie und zentralen Schmerzen nach Schlaganfall. Topiramat, Lacosamid, Levetiracetam und Phenytoin sollten mangels Evidenz nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden, wobei Kopfschmerzen und Neuralgien von den neuropathischen Schmerzen abzugrenzen sind. Topiramat ist zugelassen für die Migräneprophylaxe, Phenytoin zur Behandlung der Trigeminusneuralgie. Cannabinoide können zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache nicht empfohlen werden, da ihr Effekt eher gering ausgeprägt ist und die Nebenwirkungsrate hoch ist. Nur in Einzelfällen kann bei Versagen anderer Schmerztherapien der Einsatz von Cannabinoiden als Off-label-Therapie im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts erwogen werden. Auch Alpha-Liponsäure kann nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache empfohlen werden. Ein Effekt bei der diabetischen Neuropathie kann nicht ausgeschlossen werden. Die Evidenzlage ist allerdings nicht ausreichend, um den Einsatz bei der diabetischen Neuropathie zu empfehlen. NMDA-Rezeptor-Antagonisten und Nicht-Opioidanalgetika (NSAR, Cox-2-Inhibitoren, Paracetamol, Metamizol) sowie Baclofen sollten nicht zur Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache verwendet werden, da es keine Evidenz einer Wirksamkeit gibt.
Topische Therapien
Lidocain-Pflaster können zur Therapie von lokalisierten neuropathischen Schmerzen als Medikament der 2. Wahl empfohlen werden. Die Wirksamkeit wurde insbesondere bei der postzosterischen Neuralgie (PZN) gezeigt. Bei PZN ist auch der primäre Einsatz zu erwägen. Ebenso kann ein Capsaicin-Pflaster (8%) zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache als Mittel der 2. Wahl verwendet werden, der Effekt ist bei guter Verträglichkeit vergleichbar mit etablierten oralen Medikamenten, bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen ist auch der primäre Einsatz zu erwägen. Die topische Applikation von Amitriptylinsalbe sollte nicht zur Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden.
Andere Therapieoptionen
Botulinumtoxin kann zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache erwogen werden, allerdings nur als Medikament der 3. Wahl bei fokal begrenzten Beschwerden in spezialisierten Zentren. TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation) kann aufgrund der fehlenden Evidenz nicht zur Therapie von neuropathischen Schmerzen jeglicher Ursache empfohlen werden. Da Einzelstudien eine Wirksamkeit nahelegen, kann der Einsatz in Einzelfällen erwogen werden. Psychotherapeutische Behandlungsansätze können in der Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden. Bislang ist jedoch eine 30-prozentige Schmerzreduktion aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht belegbar. Dennoch stellt die Schmerzpsychotherapie eine
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wichtige Therapieoption dar, insbesondere im Rahmen der
interdisziplinären Schmerztherapie.
Die Datenlage bezüglich einer 30-prozentigen Schmerzreduk-
tion für den Einsatz einer multimodalen Schmerztherapie ist
nicht ausreichend, um hieraus eine generelle Empfehlung
ableiten zu können. Trotzdem ist die multimodale Schmerz-
therapie bei chronischen, schwer zu behandelnden neuropa-
thischen Schmerzen eine wichtige Option.
▲
PD Dr. Tanja Schlereth
Fachbereich Neurologie
DKD Helios Klinik Wiesbaden
Aukammallee 33
D-65191 Wiesbaden
E-Mail tanja.schlereth@helios-gesundheit.de
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