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SCHMERZEN
Neuropathische Schmerzen: Welche Therapie für welchen Patienten?
Neuropathische Schmerzen sind häufig, ihre pharmakologischen Therapieoptionen aber limitiert. Durch Stratifizierungsansätze können Patientinnen und Patienten subgruppiert sowie Therapieresponder identifiziert werden. Erste Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse, die zukünftig im klinischen Alltag genutzt werden können, um die Therapie neuropathischer Schmerzen zu verbessern.
Juliane Sachau
Neuropathische Schmerzen stellen mit einer Prävalenz von 6,9 bis 10 Prozent eine häufige Erkrankung und einen häufigen Grund für Arztkonsultationen dar (9). Sie entstehen als Folge einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems und sind von nozizeptiven und noziplastischen Schmerzen abzugrenzen (10, 11). Je nach Lokalisation werden periphere und zentrale neuropathische Schmerzen unterschieden. Beispiele sind die postherpetische Neuralgie mit persistierenden Schmerzen in einem oder mehreren Dermatomen und die schmerzhafte Polyneuropathie mit typischerweise von distal nach proximal aufsteigenden, symmetrischen Schmerzen. Neuropathische Schmerzen präsentieren sich klinisch heterogen. Patienten berichten meist über ein Nebeneinander von Plus- und Minussymptomen. Als Minussymptome wird eine verminderte Wahrnehmung oder Schmerzempfindlichkeit (Hypästhesie, Hypalgesie) gegenüber äusseren Reizen bezeichnet. Plussymptome umfassen unangenehme Kribbelparästhesien, brennende Dauerschmerzen, Attacken mit einschiessenden Schmerzen und evozierte
MERKSÄTZE
� Patienten sollten anhand ihres Phänotyps subgruppiert werden, dieser kann Aufschluss über die zugrunde liegenden Pathomechanismen liefern.
� Durch die quantitative sensorische Testung (QST) können Patienten mit neuropathischen Schmerzen in 3 Cluster eingeteilt werden.
� Einfache Bedside-Testungen können als Pendant zur QST genutzt werden, um Patienten mit einfachen Mitteln schnell zu stratifizieren.
� Fragebögen liefern zusätzliche Hinweise zu den Spontanschmerzen.
Schmerzen (2). Zudem können neuropathische Schmerzen Schlafstörungen und psychische Komorbiditäten begünstigen, die Funktionalität beeinträchtigen und so die Lebensqualität einschränken. Eine gute medikamentöse Schmerzeinstellung ist daher eine wichtige Therapiesäule, stellt aber gleichzeitig eine grosse Herausforderung dar.
Prädiktion der Therapieresponse
Gemäss Leitlinien (8, 14) sind bei der medikamentösen Therapie Pregabalin und Gabapentin, trizyklische Antidepressiva und der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) Duloxetin Mittel der ersten Wahl. Allerdings kann selbst mit diesen Erstlinientherapeutika oft keine suffiziente Schmerzlinderung erzielt werden. Eine Frage, die daher in den letzten Jahren immer mehr in den wissenschaftlichen Fokus gerückt ist, lautet: Welche Patienten profitieren von welcher Therapie, und wie können diese Therapieresponder identifiziert werden? Ein möglicher Schlüssel zur Prädiktion des Therapieansprechens ist die Einteilung der Patienten anhand des sensorischen Phänotyps (Abbildung). Dieser Ansatz beruht auf der Idee, dass die klinischen Symptome Aufschlüsse über die zugrunde liegenden Pathomechanismen liefern und diese Pathomechanismen sich innerhalb einer Krankheitsätiologie und interindividuell unterscheiden. Diesem Konzept folgt die mechanismenbasierte individualisierte Schmerztherapie (1).
Quantitative sensorische Testung
Die quantitative sensorische Testung (QST) ist ein psychophysikalisches Verfahren, bei dem der Patient auf der Haut applizierte Reize bewertet. Im Jahr 2006 wurde vom Deutschen Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS) ein QST-Protokoll entwickelt, das sich durch eine hohe Standardisierung mit definierter Handlungsanweisung und definierten Reizen auszeichnet (13). Es werden 13 thermische und mechanische Parameter untersucht, anhand derer die Funktion von unmyelinisierten C-Fasern, dünn myelinisierten Aδ-
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Fallbeispiel
Ein 55-jähriger Mann stellt sich mit Schmerzen im rechten Oberschenkelstumpf vor, die seit einer traumatischen Beinamputation bestehen. Schmerzanamnese: Der Patient beschreibt 2 Schmerzformen: ▲ brennende Dauerschmerzen ▲ Attacken mit plötzlich einschiessenden Schmerzen.
Zudem berichtet er über unangenehme Kribbelparästhesien. Die Dauerschmerzen und Kribbelparästhesien seien durch die aktuelle medikamentöse Therapie mit Gabapentin 600 mg, Amitriptylin 25 mg und Oxycodon 30 mg gut regredient. Im Vordergrund stünden die Schmerzattacken in Form von kurzen Stromschlägen, die nicht auf die derzeitige Therapie ansprechen würden. Diese würden seit 6 Monaten gehäuft, 6- bis 7-mal pro Tag auftreten, vor allem nachts mit Beeinträchtigung der Schlafqualität. Die maximale Schmerzintensität sei eine 10 auf der numerischen Rating-Skala (0 = kein Schmerz, 10 = maximal vorstellbarer Schmerz). Therapie: Carbamazepin retard 400 mg pro Tag Verlauf: siehe Text
Schmerzen wurden die Patienten vor Therapiebeginn anhand ihres QST-Profils in 2 Gruppen eingeteilt (7). Interessanterweise sprach die Gruppe mit intakter Nervenfaserfunktion (irritable nociceptor) besser auf die Therapie an als Patienten mit einem Verlust der Faserfunktion (non-irritable nociceptor). Somit kann bei etwa 33 Prozent der Patienten (je nach Krankheitsentität) ein Ansprechen auf Oxcarbazepin postuliert werden (3).
Sensorische Testung für die Praxis
Entscheidende Limitationen der QST sind das teure Equipment und der hohe Zeitaufwand, was die Nutzung in der klinischen Praxis erschwert. Verschiedene Forschungsgruppen haben sich daher auf die Entwicklung von Bedside-Untersuchungen fokussiert, die schnell und mit einfachen Utensilien durchzuführen sind (6, 12, 17). Durch den Einsatz von Bedside-Parametern lassen sich ähnliche Qualitäten überprüfen wie mit der QST. 5 simple Parameter reichen beispielsweise aus, um Patienten anhand eines bestimmten Algorithmus in die definierten QST-Cluster einzuteilen (12): s Kälteintensität (8-°C-Metallplättchen bzw. -würfel) s Vibrationsempfindungsschwelle (Stimmgabel) s Schmerzintensität eines Einzelreizes s Schmerzintensität einer Reizserie (CMS-Haar) s Berührungsintensität (Q-Tip).
Die Untersuchung ist zudem vielversprechend für niedergelassene Ärzte aller Fachrichtungen.
Abbildung: Konzept der Patientenstratifizierung zur Detektion von Therapierespondern: Ohne Stratifizierung kann es sein, dass ein (neues) Medikament in der Gesamtgruppe der Patienten keinen signifikanten schmerzlindernden Effekt erzielt. Anhand von unterschiedlichen Stratifizierungsansätzen können Subgruppen identifiziert werden, die auf die Therapie ansprechen (Abbildung: J. Sachau)
Fasern und dick myelinisierten Aβ-Fasern oder ihrer zentralen Bahnen evaluiert werden kann (vgl. Tabelle 1). Durch den Vergleich mit den Normwerten gesunder Kontrollen kann für jeden Patienten ein individuelles Sensibilitätsprofil erstellt werden. In einer europaweiten Studie wurde eine grosse Patientengruppe mit peripheren neuropathischen Schmerzen unterschiedlicher Ätiologie anhand ihres QST-Profils subgruppiert (3). Es wurden 3 Cluster identifiziert, die sich durch unterschiedliche Profile und somit unterschiedliche Pathomechanismen auszeichnen (vgl. Tabelle 2): s sensorischer Verlust s thermische Hyperalgesie s mechanische Hyperalgesie.
Diese Stratifizierung kann genutzt werden, um eine Therapieresponse vorherzusagen. In den letzten Jahren erfolgte die Phänotypisierung meist retrospektiv, das heisst nach Studienende (15). Viel interessanter ist aber die prospektive Stratifizierung. In einer Studie zur Wirksamkeit des Natriumkanalblockers Oxcarbazepin bei peripheren neuropathischen
Schmerzfragebögen
Neben der sensorischen Testung stellen Fragebögen eine Stratifizierungsmöglichkeit dar. Im Gegensatz zur QST erfassen Fragebögen auch Spontanschmerzen; sie sind einfach verfügbar und deshalb im klinischen Alltag gut anzuwenden. Es existiert eine Vielzahl von Fragebögen zur Detektion neuropathischer Schmerzkomponenten (painDETECT-Fragebogen, painPREDICT-Fragebogen usw.). Der Neuropathic Pain Symptom Inventory (NPSI) ist ein validierter Fragebogen zur Erfassung der Qualität neuropathischer Schmerzen mit 5 Subscores (evozierte Schmerzen, Spontanschmerzen, Schmerzattacken, Dysästhesien, Brennschmerzen) (4). Anhand des NPSI können Patienten ebenfalls in 3 Gruppen eingeteilt werden, die durch unterschiedliche Profile charakterisiert sind (5): s Pinpointed-pain-Cluster s Evoked-pain-Cluster s Deep-pain-Cluster.
Eine Post-hoc-Analyse von Daten zweier plazebokontrollierter Studien zeigte eine Wirksamkeit von Botulinumtoxin nur bei Patienten mit evozierten Schmerzen (Evoked-pain- und Deep-pain-Cluster), wohingegen sich im Pinpointed-painCluster ohne Hinweise auf evozierte Schmerzen kein signifikanter Effekt zeigte. Evozierter Schmerz scheint somit für das Ansprechen auf eine Therapie mit Botulinumtoxin zu prädisponieren.
Zum Fallbeispiel: Therapie
Der 55-jährige Patient präsentierte sich mit typischen Plussymptomen neuropathischer Schmerzen in einem neuroana-
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Tabelle 1:
Parameter der quantitativen sensorischen Testung (QST) nach dem Protokoll des Deutschen Forschungsverbunds Neuropathischer Schmerz (DFNS)
QST-Parameter
Untersuchungs- Lokalisation des
QST-Befund
tool
Pathomechanismus
Peripher
Zentral
Funktionsverlust Funktionsgewinn
Kaltschwelle Thermotest Aδ (Kälte)
spinothalamischer thermische
thermische
Warmschwelle
C (Wärme)
Trakt
Hypästhesie
Hyperästhesie
Kälteschmerzschwelle Thermotest Aδ, C
spinothalamischer thermische
thermische
Hitzeschmerzschwelle#
Trakt
Hypalgesie
Hyperalgesie
Paradoxes
Thermotest
zentrale
Hitzeempfindung
Hitzeempfinden
Disinhibition
als Reaktion auf
einen kalten Reiz
Mechanische kalibrierte Aβ
lemniskale Bahn
mechanische (taktile) mechanische (taktile)
Detektionsschwelle Von-Frey-Haare
Hypästhesie
Hyperästhesie
Vibrations-
Stimmgabel Aβ
lemniskale Bahn
Pallhypästhesie
empfindungsschwelle
Mechanische PinPrick- Aδ, C
spinothalamischer PinPrick-
PinPrick-
Schmerzschwelle* Stimulatoren
Trakt
Hypalgesie Hyperalgesie
Mechanische PinPrick- Aδ, C
spinothalamischer PinPrick-
PinPrick-
Schmerzsensitivität Stimulatoren
Trakt
Hypalgesie Hyperalgesie
(überschwellig)*
Dynamisch
Q-Tip, Watte-
Aβ
lemniskale Bahn
Allodynie
mechanische Allodynie* bausch, Pinsel
Wind-up-Ratio
PinPrick-
spinothalamischer
temporale
Stimulatoren
Trakt
Summation
Druckschmerzschwelle Algometer Aδ, C
spinothalamischer Druckschmerz-
Druckschmerz-
Trakt
hypalgesie
hyperalgesie
*: Parameter der zentralen Sensibilisierung, #: Parameter der peripheren Sensibilisierung
Tabelle 2:
Charakteristika der 3 Cluster der quantitativen sensorischen Testung (QST)
Cluster
QST-Befund
Postulierter
Denkbare medikamentöse
Pathomechanismus Therapie
Sensorischer Verlust
– Berührung (taktil),
Funktionsverlust der
++ Antidepressiva, Opioide
Vibration, Temperatur, dünnen und dicken
Schmerz
Nervenfasern
+ paradoxes
+ Gabapentinoide,
Hitzeempfinden
Natriumkanalblocker
Thermische Hyperalgesie – keine
periphere
++ Natriumkanalblocker
Sensibilisierung
+ Hitze-, Kälte-
+ Antidepressiva,
hyperalgesie Gabapentinoide,
Capsaicinpflaster, Opioide,
Botulinumtoxin (NSAID)
Mechanische Hyperalgesie – V. a. Wärme- und
Funktionsverlust der
++ Gabapentinoide,
Kältehypästhesie dünnen Nervenfasern Natriumkanalblocker
+ Druck-, PinPrick-
zentrale
+ Antidepressiva, Opioide,
Hyperalgesie
Sensibilisierung NMDA-Antagonisten
dynamisch-mecha-
nische Allodynie
– : Funktionsverlust, + : Funktionsgewinn, NSAID: «non steroidal antiinflammatory drugs», NMDA: N-Methyl-D-Aspartat
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tomisch plausiblen Areal (Brennschmerzen, Attacken mit einschiessenden Schmerzen, Kribbelparästhesien). Aufgrund der klinischen Präsentation konnte dieser Patient dem Irritable-nociceptor-Typ zugeordnet werden. Bei einer Amputation werden die peripheren Nervenfasern durchtrennt. Infolgedessen kommt es durch Aussprossen der Nervenendigungen zur Bildung von Neuromen mit gesteigerter Expression von Natriumkanälen. Diese Kanäle sind durch eine spontane Depolarisation und eine gesteigerte Erregbarkeit gekennzeichnet und führen zu Schmerzen im Stumpfbereich. Eine gezielte Beeinflussung dieses Pathomechanismus durch Einsatz von Natriumkanalblockern kann zu einer Linderung der Stumpfschmerzen führen (16). Obwohl Carbamazepin zur Therapie von neuropathischen Schmerzen wegen geringer Evidenz nicht generell empfohlen wird (14), wurde diese Therapie hier aufgrund des Pathomechanismus gewählt. Erwartungsgemäss zeigte der Patient hierunter eine suffiziente Schmerzlinderung.
Fazit
Welche Therapie für welchen Patienten am geeignetsten ist,
hängt von vielen Faktoren ab. Die Phänotypisierung ist eine
Möglichkeit der Subgruppierung. Neuropathische Schmer-
zen sind jedoch vielgestaltig. Eine allumfassende Stratifi-
zierung ist nur durch Erfassung unterschiedlicher Qualitäten
und Begleitsymptome wie Funktionalität und Depression
möglich, wobei je nach Patient unterschiedliche Aspekte im
Vordergrund stehen können.
s
Dr. med. Juliane Sachau Sektion Neurologische Schmerzforschung und -therapie Klinik für Neurologie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel D-24105 Kiel
Interessenlage: Die Autorin erhielt finanzielle Unterstützung für Kongressreisen von Alnylam Pharmaceuticals Inc. und Pfizer. Zudem erhielt sie finanzielle Aufwandsentschädigungen für Beratertätigkeiten von Pfizer Pharma GmbH und ein Vortragshonorar von Grünenthal GmbH und Alnylam Germany GmbH.
Dieser Artikel erschien zuerst in «doctors today» 3/2022. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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