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NEUROLOGIE/PSYCHIATRIE
MS-State-of-the-Art-Symposium
Therapieneuheiten und Bedenkenswertes
Die Multiple Sklerose (MS) lässt sich nicht heilen, doch können Patienten dank der guten Versorgung immer länger mit dieser Erkrankung leben. Am virtuellen MS-State-of-the-Art-Symposium gab Prof. Andrew Chan, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern, ein Update über die neu verfügbaren Therapiemöglichkeiten und andere ihm wichtige Aspekte. Prof. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien (A), legte den Fokus auf alternde MS-Patienten und darauf, was bei ihnen zu bedenken ist.
In jüngerer Zeit wurden in der Schweiz mehrere neue MSTherapien zugelassen. Darunter befindet sich Diroximelfumarat (Vumerity®). Dieses wird rasch zu Monomethylfumarat metabolisiert, das auch den aktiven Metaboliten von Dimethylfumarat (Tecfidera®) darstellt. Der Unterschied zwischen den beiden Präparaten liegt laut Chan in der Entstehung von weniger gastrointestinal irritativen Metaboliten (Methanol) unter Diroximelfumarat, was zu weniger schweren gastrointestinalen Symptomen führt, wie eine Vergleichsstudie zeigte (1). Diroximelfumarat ist indiziert bei schubförmig remittierender MS und wird als Tablette mit oder ohne Mahlzeit eingenommen. Die Zieldosis nach 7 Tagen beträgt 2-mal 462 mg.
Ponesimod
Als weitere neue Zulassung in der Schweiz berichtete Chan über den selektiven Sphingosin-1-phosphat-Rezeptor-1-Modulator (S1P1-RM) Ponesimod (Ponvory®), der ebenfalls bei schubförmig remittierender MS eingesetzt wird. Durch die Bindung an den S1P1-Rezeptor werden Lymphozyten daran gehindert, den Lymphknoten zu verlassen, was die Anzahl der Lymphozyten im peripheren Blut reduziert. Im Vergleich zu den anderen S1P-RM verfügt Ponesimod über eine kürzere Halbwertszeit, was laut Chan bedeutet, dass nach Therapiestopp die Lymphozyten etwa nach 1 Woche wieder das normale Niveau erreichen. Die während dieser Therapie notwendigen Kontrazeptiva können dann auch gestoppt werden. Der neue S1P1-RM erzeuge keine aktiven Metaboliten, was theoretisch das Potenzial von Interaktionen verkleinere, so Chan. In der Phase-III-Studie OPTIMUM, in der Ponesimod und Teriflunomid verglichen wurden, zeigte der neue S1P-RM nach 108 Wochen eine signifikant tiefere annualisierte Schubrate um 30,5 Prozent und signifikant weniger schwere Fatigue. Des Weiteren zeigte sich in der bestätigten Behinderungsakkumulierung nach 3 Monaten (confirmed disability accumulation) kein signifikanter Unterschied (2), wobei laut Chan auch die relativ kurze Beobachtungszeit eine Rolle spielen könnte. Hinsichtlich der Nebenwirkungen verhält sich Ponesimod ähnlich wie die anderen Präparate aus dieser Subs-
tanzklasse. Der neue S1P1-RM wird während 2 Wochen eindosiert, Herzpatienten sollen jedoch bei Therapieeinleitung mit Ponesimod aufgrund einer vorübergehenden Verringerung der Herzfrequenz beobachtet werden. Eine allfällige Betablockertherapie muss je nach Ausgangsruhefrequenz vor der Einleitung von Ponesimod unterbrochen werden (3). Eine Impfung gegen Herpes zoster mit dem neu zugelassenen Herpes-zoster-Impfstoff (Shingrix®) ist bei Patienten unter bestimmten MS-Therapien ebenfalls empfehlenswert.
Ofatumumab und Natalizumab
Ein weiteres neues Präparat zur Therapie einer aktiven, schubförmig verlaufenden Form der MS ist Ofatumumab (Kesimpta®), ein humaner monoklonaler IgG1-Antikörper gegen humanes CD20. Im Vergleich zu Teriflunomid war Ofatumumab in der ASCLEPIOS-Studie hinsichtlich Schubfrequenz und Verschlechterung der Behinderung signifikant überlegen (4). Der Antikörper wird subkutan verabreicht, was zu injektionsbedingten systemischen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Flush führen kann sowie zu lokalen Reaktionen. Zudem sind neue Darreichungsformen von bereits bekannten Therapien auf den Markt gekommen. Dazu gehört die neue subkutane Form von Natalizumab (Tysabri®) mit ähnlichen pharmakokinetischen und phamakodynamischen Eigenschaften wie die intravenöse Form. Beide Formen sind für die krankheitsmodifizierende Monotherapie der hochaktiven, schubförmig remittierend verlaufenden MS als Zweitlinientherapie oder bei > 2 Schüben mit Behinderungscharakter pro Jahr zugelassen. Als Zulassungserweiterung sind sie zusätzlich bei einem negativen Anti-JCV-Antikörperstatus (JCV: John-Cunningham-Virus) indiziert (5). Die Patienten sollten dennoch hinsichtlich einer möglichen Serokonversion und Symptomen einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie überwacht werden, denn bei etwa 10 bis 12 Prozent der Patienten pro Jahr sei eine solche Serokonversion zu beobachten, wie Chan berichtete. Die Verabreichung von Natalizumab sollte nach Möglichkeit in einem Zentrum durchgeführt werden (5).
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NEUROLOGIE/PSYCHIATRIE
Eskalierend versus initial hochwirksam
Eine aktuelle Diskussion betrifft die Kontroverse um eine eskalierende Therapiestrategie versus eine hochwirksame Therapie von Beginn an, was sich laut Chan auch in unterschiedlichen deutschsprachigen Guidelines niederschlägt. Im letzten Jahr wurden nun die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, die die unterschiedlichen Strategien von Dänemark (eskalierend) und Schweden (initial hochwirksam) anhand ihrer Nationalregister verglich. Es zeigte sich, dass bei den schwedischen Patienten (n = 2700) die Schubrate und die Behinderungsprogression tiefer waren als bei den dänischen Patienten (n = 2161) (6). Damit scheine zumindest über den Beobachtungszeitraum eine inital hocheffektive Therapie zu einem besseren Outcome zu führen als eine Eskalationstherapie, so Chan. Im nächsten Update der Guidelines des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) und der European Association of Neurology (EAN) werde dieser Umstand berücksichtigt und die frühzeitige Erwägung einer hochaktiven Therapie je nach Krankheitsaktivität und Patientenbesonderheiten empfohlen, so der Experte weiter. Hinsichtlich der Coronapandemie ist die Grundimmunisierung mit 3 Dosen eines mRNA-Impfstoffs (30 µg Corminaty® oder 100 µg Spikevax®) im Abstand von mindestens 4 Wochen zwischen den einzelnen Dosen empfohlen, unabhängig von Werten aus früheren Antikörperbestimmungen. Das gilt auch für Personen, die zum Zeitpunkt der Impfung unter einer B-Zell-Depletion oder einer Kombinationstherapie verschiedener immunsupprimierender Medikamente stehen (7).
Multiple Sklerose im Alter
MS gilt zwar als Krankheit der Jungen, was den Krankheitsbeginn betrifft, doch haben MS-Patienten dank der guten medizinischen Versorgung mittlerweile eine normale Lebenserwartung. Somit beträgt auch der Altersdurchschnitt von MS-Patienten in MS-Ambulanzen etwa 55 Jahre, davon sei etwa ein Viertel über 65 Jahre alt (8), berichtete Prof. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien (A). Mit zunehmendem Alter steigt zwangsläufig das Risiko für Komorbiditäten und die dafür eingesetzten medikamentösen Therapien. In einem alternden menschlichen Organismus altere auch das Immunsystem (Immunoseneszenz), was eine geringgradige permanente Entzündung mit sich bringe, die als «inflammaging» bezeichnet werde und mit ein Grund für viele Alterskrankheiten darstelle, gab Berger zu bedenken. Folge der Immunoseneszenz sind eine erhöhte Empfänglichkeit für Infekte und ein geringerer Immunschutz durch Impfungen. In Bezug auf alternde MS-Patienten ist aufgrund der Immunoseneszenz mit längerer Rekonvalesenz nach Krankheitsschüben sowie möglicherweise verstärkter Krankheitsprogression, reduzierter funktioneller Rekonvaleszenz (9) und physischer Funktionalität (10) im Vergleich zu Gleichaltri-
gen ohne MS zu rechnen. Die krankheitsspezifische entzünd-
liche Aktivität gehe hingegen mit zunehmender Krankheits-
dauer und damit dem biologischen Alter zurück (11, 12), so
Berger.
Krankheitsmodifizierende MS-Therapien sind primär entzün-
dungshemmend und daher am effektivsten in der entzündli-
chen Phase der Erkrankung. Weil diese Phase mit steigendem
Alter jedoch zurückgeht, sinkt auch zwangsläufig die Wirk-
samkeit dieser Therapien (13). Auf der anderen Seite steigt
das Risiko für therapiebedingte Nebenwirkungen (z. B. Lym-
phopenie) aufgrund der mit der Immunoseneszenz einherge-
henden Abnahme der B- und T-Zellen. Das scheine sich ge-
mäss Berichten über verschiedene Substanzen leider auch mit
dem Risiko für Infektionen, inklusive der seltenen therapie-
assoziierten JC-Virus- bedingten progressiven multifokalen
Leukenzephalopathie, so zu verhalten, so Berger. Bei Patien-
ten in höherem Alter, bei denen klinisch oder im Magnetre-
sonanztomogramm keine entzündliche Krankheitsaktivität
über einen längeren Zeitraum mehr festgestellt werden könne,
sollte man sich deshalb die Rationale für eine Weiterführung
der krankheitsmodifizierenden Therapie gut überlegen, so
Berger abschliessend.
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Valérie Herzog
Quelle: MS State of the Art Symposium, 29. Januar 2022, virtuell
Referenzen: 1. Wundes A et al.: Improved gastrointestinal profile with diroximel fuma-
rate is associated with a positive impact on quality of life compared with dimethyl fumarate: results from the randomized, double-blind, phase III EVOLVE-MS-2 study. Ther Adv Neurol Disord. 2021;14:1756286421993999. Published 2021 Mar 19. 2. Kappos L et al.: Ponesimod compared with teriflunomide in patients with relapsing multiple sclerosis in the active-comparator phase 3 OPTIMUM study: a randomized clinical trial. JAMA Neurol. 2021;78(5):558-567. 3. Fachinformation Ponvory®. www.swissmedicinfo.ch. Letzter Abruf: 22.2.22 4. Hauser SL et al.: Ofatumumab versus teriflunomide in multiple sclerosis. N Engl J Med. 2020;383(6):546-557. 5. Fachinformation Tysabri®. www.swissmedicinfo.ch. Letzter Abruf: 22.2.22 6. Spelman T et al.: Treatment escalation vs immediate initiation of highly effective treatment for patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: data from 2 different national strategies. JAMA Neurol. 2021;78(10):1197-1204. 7. Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG): Impfempfehlung für mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19. Stand 21.1.22. 8. Buhse M: The elderly person with multiple sclerosis: clinical implications for the increasing life-span. J Neurosci Nurs. 2015;47(6):333-E1. 9. Paz Soldán MM et al.: Relapses and disability accumulation in progressive multiple sclerosis. Neurology. 2015;84(1):81-88. 10. Cortese M et al.: Aging with multiple sclerosis: A longitudinal study of physical function, mental health, and memory in two cohorts of US women. Mult Scler. 2022;28(1):121-131. 11. Tremlett H et al.: Relapses in multiple sclerosis are age- and time-dependent. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2008;79(12):1368-1374. 12. Koch MW et al.: Association of age with contrast-enhancing lesions across the multiple sclerosis disease spectrum. Neurology. 2021;97(13):e1334-e1342. 13. Weideman AM et al.: Meta-analysis of the age-dependent efficacy of multiple sclerosis treatments. Front Neurol. 2017;8:577.
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