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EDITORIAL WENIG BEKANNTE SYNDROME
Das Wermer-Syndrom (MEN 1)
Das Wermer-Syndrom ist nach dem amerikanischen Mediziner Paul Wermer (1898–1975) benannt. Das Syndrom wird auch als MEN 1 bezeichnet. Multiple endokrine Neoplasie (MEN) ist der Überbegriff für verschiedene erbliche Tumorerkrankungen, die eine Wucherung endokriner Drüsen begünstigen und mit Überfunktionssyndromen einhergehen. Die MEN hat eine Häufigkeit von 1:50 000. Sie wird in drei Typen eingeteilt: MEN 1, MEN 2 (früher 2A) und MEN 3 (früher 2B). Klinisch ist das Wermer-Syndrom (MEN 1) gekennzeichnet durch eine Neoplasie der Nebenschilddrüsen, der Hypophyse und der Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Das Krankheitsbild wird autosomal-dominant vererbt, das heisst, Kinder eines Betroffenen haben eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, das Gen zu erwerben und an einem oder mehreren der verbundenen Tumoren zu erkranken. Obwohl jeder einzelne der Tumoren klonalen Ursprungs ist, das heisst aus jeweils einer einzelnen entarteten Zelle hervorgegangen ist, tragen doch alle Zellen des Patienten den genetischen Fehler. Deshalb ist immer mit einer Tumormanifestation an anderen Lokalisationen zu rechnen. Die Manifestationen der MEN 1 entwickeln sich über drei bis vier Jahrzehnte. Die häufigste Manifestation des MEN-1Syndroms ist der Hyperparathyreoidismus. Bis zum 40. Lebensjahr ist bei der Mehrzahl der Genträger die Krankheit zum Ausbruch gekommen. Typische Symptome sind kalziumhaltige Nierensteine, Knochenveränderungen sowie gastrointestinale und muskuläre Beschwerden. Die Hyperkalzämie tritt meist schon im Jugendalter auf. Die zweithäufigste Manifestation sind Neoplasien der Inselzellen im Pankreas. Sie treten meistens gemeinsam mit dem Hyperparathyreoidismus auf. Die
häufigsten Hormone, die aus den Inselzellen verstärkt freigesetzt werden, sind pankreatisches Polypeptid (bei 75–85% der Betroffenen), Gastrin (60%, im Rahmen eines Zollinger-Ellison-Syndroms), Insulin (30–55%, in Form eines Insulinoms), vasoaktives intestinales Peptid (3–5%, als Verner-Morrison-Syndrom), Glukagon (5–10%, in Form eines Glukagonoms) und Somatostatin (1–5%) sowie seltener ACTH, CRH, GHRH, Calcitoninprodukte, Neurotensin und andere.
MEN 2 (Sipple-Syndrom) Die MEN-2-Syndrome sind durch medulläre Schilddrüsenkarzinome (meist bereits im Kindesalter) und Phäochromozytome gekennzeichnet. Ein Phäochromozytom kommt bei etwa 50 Prozent der Patienten vor, oft beidseitig. Bei 15 bis 20 Prozent der Patienten tritt ein primärer Hyperparathyreoidismus auf, meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.
MEN 3 (Williams-Pollok- oder Gorlin-Vickers-Syndrom) Das MEN-3-Syndrom umfasst neben medullärem Schilddrüsenkarzinom und Phäochromozytom auch Neurinome der Schleimhäute, Ganglioneuromatose und einen marfanoiden Habitus. Das medulläre Schilddrüsenkarzinom tritt früher auf und wächst aggressiver als beim MEN 2. Für die Prognose der Patienten ist der Verlauf des medullären Schilddrüsenkarzinoms entscheidend. Der tödliche Verlauf lässt sich nur durch eine Thyreoidektomie vor dem Auftreten von Metastasen verhindern.
Richard Altorfer
ARS MEDICI DOSSIER V | 2022
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