Transkript
Dorian-Gray-Syndrom
EDITORIAL WENIG BEKANNTE SYNDROME
Der Begriff wurde im Jahr 2000 im Kontext einer Tagung zur Lifestylemedizin vom Giessener Psychologen Burkhard Brosig geprägt. Er lehnt sich an den Roman «Das Bildnis des Dorian Gray» von Oscar Wilde an, dessen Schlüsselfigur Dorian Gray ist, und nimmt ein Motiv des Werkes auf: die Unfähigkeit zu altern und damit seelisch zu reifen. Brosig nimmt eine psychodynamische Wechselwirkung zwischen narzisstischen Tendenzen (alterslose Schönheit), Problemen der psychosexuellen Progression im Sinne der Vermeidung von Entwicklung und Reife sowie, im Sinne einer Abwehr, dem Gebrauch von Lifestyleangeboten in der Medizin an. Letzteres diene als Mittel, ohne innere psychische Verarbeitung eine äussere Perfektion zu erreichen und eine ewige Jugend festzuhalten. Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein: ▲ Zeichen von Dysmorphophobie, das heisst eine
Wahrnehmungsstörung des eigenen Körpers; dazu gehört zum Beispiel die wahnhafte Überzeugung, von einem körperlichen Defekt betroffen zu sein. ▲ Unfähigkeit zur psychischen Reife und zu entsprechenden Entwicklungsschritten ▲ überhöhte Inanspruchnahme von mindestens 2 der folgenden Lifestyleangebote der Medizin: Haarwuchsmittel/Haaroperationen, Antiadiposita, Potenzmittel, Antidepressiva zur Stimmungsmanipulation, Angebote der kosmetischen Dermatologie oder der plastischen Chirurgie. Klinisch besteht eine latente Depressivität mit Suizidgefahr, wobei die Massnahmen der Lifestylemedizin als psychische Abwehr gegen das Durchbrechen depressiver Zustände zu verstehen sind. Bei
Ein Bild des Titelblatts der Juli-Ausgabe 1890 des Lippincott’s Monthly Magazine, in dem «The Picture of Dorian Gray» zum ersten Mal veröffentlicht wurde. (Wikimedia Commons)
nicht ausreichender Berücksichtigung der psychologischen Dynamik kann es zu einer krankhaft narzisstischen Einstellung und selbstschädigendem Handeln kommen. Brosig schätzt, dass 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung am Dorian-Gray-Syndrom erkrankt sind.
Richard Altorfer
ARS MEDICI DOSSIER VIII | 2022
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