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RHEUMATOLOGIE
Schmerzen bei rheumatoider Arthritis
Komorbiditäten führen zu komplexem Schmerzgeschehen
Schmerz kann im Rahmen rheumatischer Erkrankungen ein erhebliches Problem darstellen und eine Eigendynamik entwickeln, die mit der Behandlung von Inflammation und peripherem Schmerzgeschehen allein nicht in den Griff zu bekommen ist. Das betrifft insbesondere eine nicht zu unterschätzende Zahl von Patienten mit rheumatoider Arthritis und komorbider Fibromyalgie.
Das Problem Schmerz erfordere bei Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) einen methodischen, stratifizierten Zugang zur Schmerztherapie, so Dr. Neil Basu aus Glasgow (GB). Dazu müsse verstanden werden, dass bei RA mehrere Schmerzformen gleichzeitig auftreten könnten. Das trifft besonders in jenen nicht so seltenen Fällen zu, in denen die RA vergesellschaftet mit anderen schmerzhaften Erkrankungen wie zum Beispiel einer Fibromyalgie oder einer Arthrose auftritt. Zu unterscheiden sind: ▲ nozizeptiver Schmerz (wird durch die Schädigung oder
bevorstehende Schädigung von nicht neuronalem Gewebe und durch Nozizeptoren vermittelt) ▲ neuropathischer Schmerz (entsteht durch Läsionen oder Erkrankungen des somatosensorischen Nervensystems) ▲ noziplastischer Schmerz (tritt infolge veränderter Nozizeption auf, obwohl es keine klaren Hinweise auf eine aktuelle oder bevorstehende Aktivierung peripherer Nozizeptoren und keine Hinweise auf eine somatosensorische Schmerzursache gibt). Im Falle rheumatischer Erkrankungen steht in der Regel der nozizeptive Schmerz im Vordergrund, wobei Basu betonte, dass eine noziplastische Schmerzkomponente von Rheumatologen gern übersehen werde. Neuropathischer Schmerz ist in der Rheumatologie meist von untergeordneter Bedeutung, kann jedoch im Zuge rheumatischer Erkrankungen auftreten und darf in diesen Fällen nicht ignoriert werden. Für Patienten mit RA ist Schmerz das wichtigste Symptom, das häufig trotz optimaler Kontrolle der Entzündung persistiert. Die unterschiedlichen Schmerzmechanismen sind dabei in den verschiedenen Phasen einer Patientengeschichte zu unterschiedlichen Zeitpunkten von Bedeutung, zumal Inflammation, periphere und zentrale Schmerzverarbeitung und mit zunehmender Progression auch strukturelle Veränderungen in den Gelenken das Geschehen bestimmen. Klinisch kann sich der RA-Schmerz konstant oder intermittierend, lokalisiert oder disseminiert präsentieren. Eine Assoziation mit psychischem Distress und Fatigue ist häufig. Die dominanten Schmerzmechanismen beim individuellen Patienten müssen durch kritische Evaluation der klinischen Symptome und Zeichen, durch Laborwerte und durch Bildgebung ermittelt werden. Die Identifikation dieser Mechanis-
men ist essenziell für ein effektives Management der Schmerzsymptomatik (1). Basu betonte, dass insbesondere in der Frühphase der Erkrankung der nozizeptive Schmerz im Vordergrund stehe, während der noziplastische Schmerz mit längerer Krankheitsdauer an Relevanz zunehme. Im Rahmen der synovialen Entzündung werden von verschiedenen Entzündungszellen Zytokine und andere chemische Mediatoren freigesetzt, die an den Schmerzrezeptoren einen Ioneneinstrom triggern, der zur Depolarisierung und dann zur Exzitation führt. Diese Aktionspotenziale werden über das dorsale Wurzelganglion und das Rückenmark ins Gehirn weitergeleitet. Allerdings entsteht nozizeptiver Schmerz nicht nur durch Inflammation. Strukturelle Schäden an den Gelenken können auch spät im Krankheitsverlauf nozizeptiven Schmerz verursachen. Das liesse sich beispielsweise aus der Erfahrung ableiten, dass viele Patienten mit später RA durch den chirurgischen Gelenkersatz eine dramatische Schmerzreduktion erführen. Nun hoffe man, so Basu, angesichts der vielen wirksamen medikamentösen Therapien in Zukunft nicht mehr auf die Chirurgie angewiesen zu sein, doch sehe man nach wie vor Erosionen, und es sei unklar, wie viele Erosionen vorhanden sein müssten, damit ein Gelenk schmerze. Basu: «Die wenige Evidenz, die wir haben, lässt keine klare Assoziation zwischen dem Ausmass des Schadens und der Symptomatik erkennen.»
Chronifizierung des Schmerzes durch andauernde Stimuli
Allerdings kann die Entzündung nicht nur akuten Nozizeptorschmerz verursachen, sondern auch zur Entwicklung von noziplastischem Schmerz führen, indem durch die fortgesetzten inflammatorischen Stimuli infolge der freigesetzten Entzündungsmediatoren die Membranpotenziale von Nerven in der Umgebung des dorsalen Wurzelganglions nahe an die Depolarisation gebracht und in diesem Zustand gehalten werden. Das führt zur Sensibilisierung peripherer Nerven, aus der eine zentrale Sensibilisierung resultieren kann, die sich in Hyperalgesie, spontanem Schmerz und Allodynie äussert. Damit nimmt nicht nur die Empfindlichkeit gegenüber erneuten peripheren Stimuli zu, sondern es kommt auch zu
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einer Expansion des rezeptiven Feldes. Insgesamt stellt dieser Prozess ein Remodelling des gesamten Nervensystems dar. Basu betonte, dass die zentrale Sensibilisierung nicht immer von der Peripherie ausgehen müsse, sondern ihren Ursprung auch direkt im Gehirn haben könne. Das ist zum Beispiel bei der Fibromyalgie, die nicht selten mit RA vergesellschaftet ist beziehungsweise sekundär zur RA auftritt, der Fall. Die Prävalenz einer Fibromyalgie wird bei RA-Patienten mit 13 bis 25 Prozent angegeben, während sie in der Gesamtbevölkerung zwischen 1 und 5 Prozent liegt (2, 3). Die periphere und die zentrale Sensibilisierung erklären auch, warum so viele RA-Patienten unter hochwirksamen Therapien nach wie vor über starke Schmerzen berichten, und es ist denkbar, dass eine zentrale Sensibilisierung der Treiber hinter diesen Schmerzen ist. Experimentelle Arbeiten stützen diese Hypothese. So konnte bei Patienten mit RA eine erniedrigte Schmerzschwelle auch in Körperregionen nachgewiesen werden, die nicht von Arthritis betroffen waren. Das trifft in noch stärkerem Mass auf RA-Patienten zu, die Zeichen einer Fibromyalgie aufweisen (4). MRT-Studien zeigen bei RAPatienten Auffälligkeiten der funktionellen Konnektivität. Dazu passend, konnte bei Patienten mit Fibromyalgie in bestimmten Netzwerken eine Assoziation mit der Schmerzintensität gezeigt werden, wobei der Insula eine besondere Rolle zukommt (5). Basu verweist auf ganz aktuelle Arbeiten seiner Gruppe, die bei jenen Patienten mit den deutlichsten Fibromyalgie-Features eine klare Konnektivität zwischen dem Default Mode Network (DMN), das gewissermassen den Ruhezustand des Gehirns organisiert, und der Insula fanden. Basu: «Daraus kann man jedenfalls schliessen, dass Schmerz bei RA mehr ist als die blosse Aktivierung peripherer Sensoren durch die Entzündung.»
Fibromyalgie verzerrt verbreitete RA-Scores
Tritt im Zuge einer RA auch eine Fibromyalgie auf, ist diese jedenfalls ein äusserst ungünstiger prognostischer Marker – insbesondere im Hinblick auf die Lebensqualität und soziale Outcomes wie Arbeitslosigkeit und Armut (6). Eine komorbide Fibromyalgie kann auch die klinische Bewertung der RA verzerren. Der zentral generierte Schmerz kann nämlich Inflammation vortäuschen, wo in Wahrheit keine Inflamma-
tion ist, und damit klinische Scores wie den DAS28 in die Höhe treiben. Basu wies auf eine brasilianische Studie hin, die genau das zeigte: Bei RA-Patienten mit komorbider Fibromyalgie lag der DAS28 höher als bei RA-Patienten ohne Fibromyalgie. Allerdings wurden diese Werte nicht durch geschwollene Gelenke oder CRP, sondern ausschliesslich durch schmerzende Gelenke erreicht (7). Wird der DAS28 zur Indikationsstellung für die Biologikatherapie herangezogen, stellt sich die Frage, ob nicht RA-Patienten infolge einer komorbiden Fibromyalgie Biologika erhalten, die sie nicht benötigen. Studiendaten, die zeigen, dass eine Fibromyalgie bei RA die Wahrscheinlichkeit für eine Biologikaverschreibung um den Faktor 2 erhöht, obwohl die Betroffenen nicht mehr Inflammation zeigen, liegen jedenfalls vor (8).
Orientierung an Fibromyalgieleitlinien
Basu empfahl, sich im Umgang mit RA-Patienten, die Zei-
chen von zentralem Schmerz oder von einer Fibromyalgie
aufweisen, an den EULAR-Empfehlungen für das Manage-
ment der Fibromyalgie (9) zu orientieren. Dabei spielt die
Aufklärung der Patienten über die verschiedenen Schmerz-
formen eine wichtige Rolle. Ebenso hat die Physiotherapie
einen hohen Stellenwert. Bringt das nicht den gewünschten
Erfolg, ist in Abhängigkeit von Symptomen und Komorbidi-
täten eine individualisierte Therapie mit Rehabilitation und
verschiedenen pharmakologischen Optionen indiziert. So
zeigen beispielsweise selektive Serotonin-Noradrenalin-Wie-
deraufnahme-Hemmer eine Wirksamkeit bei ausgewählten
Patienten mit Fibromyalgie und/oder RA. Aktuelle Studien
liefern Hinweise, dass die JAK-Inhibitoren stärker anal-
getisch wirksam sein könnten als die Anti-TNF-Biologika
(10). Über die Ursachen kann derzeit nur spekuliert werden,
zumal der Effekt nicht durch die Beeinflussung der periphe-
ren Inflammation allein erklärt werden kann.
s
Reno Barth
Quelle: Sitzung «Managing Chronic Pain» beim EULAR-Kongress 2021, am 4. Juni 2021.
Universitätsklinik Balgrist sucht Teilnehmer für Fibromyalgie-Studie
Die Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen sind, insbesondere bei Fibromyalgie, noch weitgehend unklar. Die Universitätsklinik Balgrist möchten den psychobiologischen Mechanismen weiter auf den Grund gehen und sucht dafür Männer und Frauen zwischen 18 und 70 Jahren mit Fibromyalgie. Das Ziel ihrer Studie ist ein besseres Verständnis der Schmerzentstehung und weiterer Faktoren, auch psychologischen, die einen Einfluss auf die Chronifizierung und Aufrechterhaltung von Schmerzen zu haben scheinen, um in Zukunft neue vielversprechende Mechanismen-basierte Methoden der Schmerzbehandlung zu ermöglichen. Im Rahmen der Studie werden an zwei Untersuchungsterminen die Verarbeitung von Schmerzen sowie zugrundeliegende biologische Vorgänge untersucht.
Weitere Informationen erhalten Sie entweder per Mail (Giulia.Bearth@balgrist.ch, Dennis.Mazenauer@balgrist.ch) oder tele-
fonisch (+41 44 510 73 81).
Mü
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Referenzen: 1. Walsh DA, McWilliams DF: Mechanisms, impact and manage-
ment of pain in rheumatoid arthritis. Nat Rev Rheumatol. 2014;10(10):581-592. 2. Wolfe F et al.: Fibromyalgia diagnosis and biased assessment: Sex, prevalence and bias. PLoS One. 2018;13(9):e0203755. 3. Ranzolin A et al.: Association of concomitant fibromyalgia with worse disease activity score in 28 joints, health assessment questionnaire, and short form 36 scores in patients with rheumatoid arthritis. Arthritis Rheum. 2009;61(6):794-800. 4. Joharatnam N et al.: A cross-sectional study of pain sensitivity, disease-activity assessment, mental health, and fibromyalgia status in rheumatoid arthritis. Arthritis Res Ther. 2015;17(1):11. 5. Napadow V et al.: Intrinsic brain connectivity in fibromyalgia is associated with chronic pain intensity. Arthritis Rheum. 2010;62(8):2545-2555. 6. Wolfe F, Michaud K: Severe rheumatoid arthritis (RA), worse outcomes, comorbid illness, and sociodemographic disadvantage characterize ra patients with fibromyalgia. J Rheumatol. 2004;31(4):695-700. 7. Ranzolin A et al.: Association of concomitant fibromyalgia with worse disease activity score in 28 joints, health assessment questionnaire, and short form 36 scores in patients with rheumatoid arthritis. Arthritis Rheum. 2009;61(6):794-800. 8. Lage-Hansen PR et al.: Concomitant fibromyalgia in rheumatoid arthritis is associated with the more frequent use of biological therapy: a cross-sectional study. Scand J Rheumatol. 2016;45(1):45-48. 9. Macfarlane GJ et al.: EULAR revised recommendations for the management of fibromyalgia. Ann Rheum Dis. 2017;76(2):318328. 10. Taylor PC et al.: Achieving Pain Control in Rheumatoid Arthritis with Baricitinib or Adalimumab Plus Methotrexate: Results from the RA-BEAM Trial. J Clin Med. 2019;8(6):831.
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