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GYNÄKOLOGIE
Gleich Antibiotika oder «wait and see»?
Unkomplizierte Harnwegsinfekte bei Frauen erkennen und behandeln
Akute unkomplizierte Harnwegsinfekte (HWI) gehören zu den häufigsten Infektionen bei Frauen. Bei etwa einem Drittel der Patientinnen bessern sich die Symptome auch ohne Antibiotika innert einer Woche. In diesem Artikel wird die Vorgehensweise in der Praxis bei nicht schwangeren Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren erläutert.
British Medical Journal
Als häufige charakteristische Symptome eines HWI gelten Dysurie, Hämaturie, getrübter Urin, Nykturie, vermehrter Harndrang und eine erhöhte Miktionsfrequenz. Das Vorliegen von zwei oder drei dieser Schlüsselsymptome weist mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einen unkomplizierten HWI hin. Eine exakte Diagnose ist anhand der Symptome allerdings nicht möglich. Vaginaler Ausfluss oder vaginale Reizungen verringern die Wahrscheinlichkeit eines unkomplizierten HWI. Bei der Anamnese ist auf Warnzeichen (Red Flags) für eine Pyelonephritis oder eine Sepsis zu achten. In diesen Fällen ist eine sofortige Behandlung oder eine Einweisung ins Spital erforderlich (Kasten). Zudem sollten andere Ursachen der Harnwegsbeschwerden in Betracht gezogen werden. Dazu gehören vaginale Infektionen mit Trichomonas, Candida albicans oder Gardnerella, eine Vaginitis im Zusammenhang mit einer entzündlichen Beckenerkrankung oder eine vulvovaginale Atrophie. Des Weiteren beinhaltet die Anamnese Fragen nach s der sexuellen Aktivität, da HWI häufig bei sexuell akti-
ven Frauen vorkommen s vorherigen HWI, denn die meisten Patientinnen haben
innerhalb der zurückliegenden 12 Monate bereits eine Episode erlitten
MERKSÄTZE
� Die beiden wichtigsten therapeutischen Optionen bei einem unkomplizierten Harnwegsinfekt (HWI) sind Antibiotika und «wait and see».
� Bei etwa einem Drittel der Patientinnen bessern sich die Symptome eines unkomplizierten HWI ohne Antibiotika innerhalb von etwa 7 Tagen.
� Das mit einer verzögerten Antibiotikagabe einhergehende Risiko ist gering.
� Bei systemischen Beschwerden wie Fieber, Krämpfen, Übelkeit, Flankenschmerzen und erhöhter Herz- oder Atemfrequenz sollte eine Pyelonephritis oder eine Sepsis in Betracht gezogen werden.
s der Anwendung von Spermiziden, welche die vaginale Flora beeinträchtigen können, oder eines Diaphragmas, das mit einer vermehrten Bakterienbesiedlung verbunden ist
s einer Schwangerschaft, weil es in diesem Zeitraum häufig zu HWI kommt
s einer Diabeteserkrankung Typ 2, die ebenfalls oft mit HWI verbunden ist.
Bei den meisten nicht schwangeren Frauen mit unkompliziertem HWI ist keine klinische Untersuchung erforderlich. Klagt die Patientin über allgemeines Unwohlsein oder weist sie Alarmsignale auf, sollten jedoch abklärende Untersuchungen im Hinblick auf eine systemische Erkrankung oder eine Sepsis vorgenommen werden. Dazu gehören die Erfassung der Temperatur, des Blutdrucks, der Herz- und der Atemfrequenz sowie das Abtasten des Abdomens, des Rückens und der Flanken zur Evaluierung der Druckempfindlichkeit. In der Hausarztpraxis wird meist ein Urinteststreifen verwendet, in manchen Fällen ergänzt durch eine Urinkultur. Die Ergebnisse können die diagnostische Genauigkeit verbessern, ein definitiver Ausschluss eines HWI ist mithilfe des Teststreifens jedoch nicht möglich. Weisen die Symptome deutlich auf einen akuten unkomplizierten HWI hin, ist ein Urinteststreifen meist nicht erforderlich (Tabelle).
Therapiestrategie abstimmen
Die Entscheidung für die jeweilige Alternative sollte von Arzt und Patientin gemeinsam getroffen werden. Im Rahmen beider Therapien kann der Patientin Paracetamol (Panadol® und Generika) oder Ibuprofen (Brufen® und Generika) zur Linderung der Symptome angeboten werden. Aus Studien geht hervor, dass sich die Symptomatik eines unkomplizierten HWI ohne Antibiotikum bei rund einem Drittel der Frauen innerhalb von 7 bis 10 Tagen von selbst wieder verbessert. Die Patientin wird darüber informiert, dass vorab nicht abgeschätzt werden kann, ob sie zu dieser Gruppe gehört. Antibiotika sind bei HWI wirksam und können die Dauer der Erkrankung verkürzen. Es kommt aber häufig zu unerwünschten Wirkungen wie Übelkeit, Hautausschlägen, Diarrhö oder einer Kandidose. Zudem besteht das Risiko der Resistenzentwicklung, die vor allem im Zusammenhang mit
10 ARS MEDICI DOSSIER I | 2022
GYNÄKOLOGIE
Tabelle:
Evaluierung unkomplizierter HWI bei nicht schwangeren Frauen zwischen 18 und 65 Jahren
Anzahl der Schlüsselsymptome*
2 oder 3
Parameter auf dem Urinteststreifen
Nitrit Leukozyten RBC meist nicht erforderlich
Wahrscheinlichkeit eines HWI
sehr wahrscheinlich
Weitere Untersuchungen Urinkultur meist nicht erforderlich
+ – + wahrscheinlich
+ + – wahrscheinlich
+ – – wahrscheinlich Urinkultur** 1 – + + wahrscheinlich
–
+
–
andere Diagnose ebenso wahrscheinlich
– – – weniger wahrscheinlich keine Indikation für eine Urinkultur
RBC: red blood cells * Schlüsselsymptome: Dysurie, neu aufgetretene Nykturie, trüber Urin, Hämaturie ** Die Ergebnisse der Urinkultur sollten im Zusammenhang mit der Schwere der Symptome interpretiert werden.
Trimethoprim (in Kombination mit Sulfamethoxazol: Bactrim® und Generika) schon jetzt Probleme bereitet. Die Raten resistenter Escherichia-coli-Isolate betragen hier derzeit mindestens 30 Prozent. Die Option, erst einmal abzuwarten, erst bei Bedarf das Rezept einzulösen und etwas später mit Antibiotika zu beginnen, ist für viele Patientinnen eine akzeptable Möglichkeit. In den Guidelines des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfehlen Experten den Beginn mit einem Antibiotikum, wenn die Beschwerden sich innerhalb von 2 Tagen nicht bessern. Verschlechtert sich die Symptomatik, sollte eher damit begonnen werden. Eine Evidenz liegt für diese zeitlichen Empfehlungen allerdings nicht vor, und 2 Tage Wartezeit können angesichts der beobachteten Heilungszeiten von 7 bis 10 Tagen im Einzelfall zu kurz sein. Wird die Option «wait and see» gewählt, sollte deshalb mit der Patientin ausführlich besprochen werden, wann sie mit dem Antibiotikum beginnen oder die Praxis erneut aufsuchen sollte (alle Informationen auch schriftlich mitgeben). Das ist vor allem bei folgenden Anzeichen der Fall:
Kasten:
Red Flags für akute Pyelonephritis und Sepsis
Akute Pyelonephritis s Flankenschmerzen (im Rücken oder unterhalb der Rippen)
s Krämpfe oder Fieber > 37,9 °C s Übelkeit oder Erbrechen s Myalgie, grippeähnliche Erkrankung
Sepsis s Atemfrequenz ≥ 21 Atemzüge/Minute s Herzfrequenz ≥ 91 Schläge/Minute s systolischer Blutdruck 91 bis 100 mmHg oder < 90 mmHg s keine Harnausscheidung während der letzten
12 bis 18 Stunden oder länger s akute Verschlechterung oder mentale Veränderungen
s Übelkeit oder Erbrechen s Krämpfe s Schüttelfrost oder Muskelschmerzen s Verwirrung oder Schwindel s 1 Tag lang keine Urinausscheidung s Blut im Urin s Temperatur über 38 °C s Nierenschmerzen im Rücken oder unterhalb der Rippen s Verschlechterung der HWI-Symptomatik s keine Verbesserung der Symptomatik innerhalb von
48 Stunden bei Antibiotikaeinnahme.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten
Zu frei verkäuflichen Medikamenten wie Cranberry-Produk-
ten oder Substanzen zur Harnalkalisierung liegt nur eine ge-
ringe Evidenz vor. Die Autoren eines Cochrane-Reviews ka-
men zu dem Ergebnis, dass Cranberry-Produkte Rezidive
nicht besser verhindern können als Plazebo oder keine Be-
handlung (Risk Ratio: 0,86; 95%-Konfidenzintervall [KI]:
0,71–1,04).
In einem systematischen Review wurde in 5 randomisierten
Studien die Wirksamkeit von NSAR im Vergleich zu Anti-
biotika untersucht. In 3 Studien waren NSAR bezüglich der
Symptomlinderung weniger wirksam, und in 2 Studien zeigte
sich kein signifikanter Unterschied. In 2 von 3 Studien, in
denen die Entwicklung einer Pyelonephritis untersucht
wurde, kam es unter NSAR etwas häufiger dazu als unter
Antibiotika.
s
Petra Stölting
Hoffmann TC et al.: Uncomplicated urinary tract infection in women. BMJ. 2021;372:n725.
Interessenlage: TCH und CDM haben Forschungsgelder vom Australian National Health and Medical Research Council sowie von der Australian Commission on Safety and Quality in Health Care erhalten. Bei MB liegen keine Interessenkonflikte vor.
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