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GASTROENTEROLOGIE
Funktionelle Dyspepsie
Zehn häufige Fehler bei Diagnose und Therapie
Foto: vh
Obwohl eine funktionelle Dyspepsie durch die Rom-IV-Kriterien klar definiert ist, kommt es dennoch häufig vor, dass Fehler in der Diagnose und in der Abklärung passieren. Prof. Mark Fox zählte an der United European Gastroenterology Week 10 Fallgruben auf, die das Management der funktionellen Dyspepsie erschweren können.
Eine funktionelle Dyspepsie ist definiert ent-
weder durch ein postprandiales Völle- oder ein
vorzeitiges Sättigungsgefühl ohne strukturelle
Erkrankung, die die Symptome erklären würde,
oder durch epigastrische Schmerzen oder Bren-
nen ohne strukturelle Erkrankung, die die Sym-
ptome erklären würde. Diese Kriterien müssen
an mindestens 3 Tagen pro Woche während der
letzten 3 Monate auftreten und mindestens
Prof. Mark Fox
6 Monate vor Diagnosestellung begonnen haben (1). Erschwerend für die Diagnose
kommt jedoch hinzu, dass eine Dyspepsie mit anderen Stö-
rungen im Zusammenhang stehen kann, wie beispielsweise
Reizdarmsyndrom, Diarrhö, Reflux oder Obstipation. Funk-
tionelle gastrointestinale Störungen als primäre Störungen
sind häufiger bei Patienten < 45 Jahre als bei Älteren anzu- treffen, häufiger bei Frauen und häufig mit einem unklaren Zeitpunkt des Beginns. Sie treten oft zusammen mit anderen Syndromen auf und sprechen schlecht auf eine Therapie an. Häufig werden die Symptome von Patienten auf selbst dia- gnostizierte Intoleranzen zurückgeführt (2). Aufgrund der breiten Definition der Dyspepsie, des Mangels an eindeutigen diagnostischen Kriterien, der unklaren Krank- heitsursache, des psychischen Einflusses und des Fehlens von spezifischen Behandlungen wird das Management der Dys- pepsie zu einer Herausforderung. Dabei könne es zu Fehl- entscheiden kommen, wodurch ernsthafte Erkrankungen verpasst werden könnten, so Prof. Mark Fox, Gastroentero- logie, Klinik Arlesheim. Die häufigsten Fehler hat der Experte zusammengetragen und an der UEG-Week präsentiert. Irrtum 1: Keine Endoskopie trotz vorhandener Alarmzeichen Gemäss prospektiven Studien und Metaanalysen haben Patienten mit Alarmzeichen ein 5- bis 10-prozentiges Risiko für eine schwere Erkrankung, Patienten ohne Alarmzeichen haben demgegenüber mit 1 bis 2 Prozent ein tieferes Risiko (3, 4). Alarmsymptome weisen in den meisten Fällen auf Malignitäten oder peptische Ulzera hin. Zu diesen Alarmsymptomen gehören Blutungen, Dysphagie, Gewichtsverlust und ein Symptombeginn im Alter von > 50 Jahren. Eine frühzeitige Endoskopie kann deshalb helfen, lebensbedrohliche Pathologien auszuschliessen. Bei dieser Gelegenheit bietet es sich auch an, eine Biopsie in Magen und Duodenum zur Testung auf Helicobacter pylori und zum Ausschluss einer Zöliakie durchzuführen.
Irrtum 2: Zu viel Abklärung bei funktioneller Dyspepsie
Symptome wie chronische Abdominalschmerzen, frühes Sättigungsgefühl, Blähungen und Übelkeit sind bei jüngeren Patienten charakteristisch für eine funktionelle Dyspepsie, aber keine Alarmsymptome. Deshalb ist bei diesen Symptomen normalerweise keine umfassende Abklärung indiziert. Angebracht sind ein Standardlabor mit Blutbild, Nieren- und Leberwerten, Kalzium, Schilddrüsenfunktion sowie die Durchführung einer Zöliakieserologie. Eine Helicobacterpylori-Testung mittels Serologie oder 13C-Atemtest solle ebenfalls erfolgen, empfahl Fox. Bildgebende Verfahren wie Ultraschall bringen ohne spezifischen Verdacht wenig Informationsgewinn, und eine Computertomografie sollte darüber hinaus wegen der Strahlenbelastung nicht routinemässig durchgeführt werden. Eine Endoskopie ist bei Patienten mit persistierenden und therapieresistenten Symptomen dagegen angezeigt. Bei den meisten dyspeptischen Patienten zeige die Endoskopie ein völlig normales Bild, so Fox, sodass es keinen Sinn habe, die Endoskopie zu einem späteren Zeitpunkt zu wiederholen, die Bestätigung bei Patienten mit funktionellen Tests sei minimal, wie auch der Einfluss auf die Therapie (5). Wenn trotzdem das Bedürfnis für eine Erklärung der Symptome besteht, kann eine Szintigrafie durchgeführt werden, mit der sich bei 40 Prozent der Patienten eine abnormale Magenentleerung darstellen lässt. Eine zu langsame Magenentleerung kann gut auf Prokinetika ansprechen, eine normale eher auf Antidepressiva (6). Ein Test mit dem Trinken von 400 ml Flüssignahrung (0,75 kcal/ml) ist dagegen bei > 90 Prozent der Patienten mit funktioneller Dyspepsie positiv. Denn das maximal tolerierte Volumen ist bei diesen Patienten verringert, und die dyspeptischen Symptome können mit Trinkmengen < 400 ml reproduziert werden (7).
Irrtum 3: Den psychischen Zustand und Stress ausser Acht lassen
Patienten mit dyspeptischen Beschwerden und psychiatrischen Komorbiditäten (z. B. Angsterkrankungen, Somatisierungsstörungen) oder Stress sozialer Art oder bei der Arbeit suchten mit ihren Beschwerden eher einen Arzt auf, berichtete Fox. Psychosoziale Komorbiditäten verstärken auch die subjektive Symptomschwere, steigern die Angst vor einer Tumorerkrankung und prognostizieren auch ein schlechtes Therapieansprechen (8). Um Zeit und Abklärungskosten zu sparen, schlägt Fox vor, vor der Konsultation kurze Fragebögen zum psychiatrischen
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und somatischen Befinden ausfüllen zu lassen. Dazu gehören der HADS (Hospital Anxiety and Depression Score), der PHQ15 Somatization Score (Patient Health Questionnaire) sowie der PDS (Leuven Dyspepsia Score) und der RDQ (Reflux Disease Questionnaire).
Irrtum 4: Essstörungen unberücksichtigt lassen
Bis zu 90 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa klagen über dyspeptische Beschwerden, die auch als Vorwand dienen, um nicht essen zu müssen oder um Aufmerksamkeit zu erhalten (9). Risikofaktoren für Essstörungen sind weibliches Geschlecht, junges Erwachsenenalter, eine positive Familienanamnese, ein inadäquates Körperbild, wiederholte Diäten, ungewöhnliche Überzeugungen oder Verhaltensweisen in Bezug auf Diäten, exzessive physische Aktivität und psychosozialer Stress.
Irrtum 5: Regurgitation und Rumination für Erbrechen halten
Patienten bezeichnen das Zurückströmen von Speisebrei aus dem Ösophagus in den Mund sowie das Heraufwürgen von Nahrung häufig fälschlicherweise als Erbrechen. Gezieltes Nachfragen schafft hier Klarheit. Einem Erbrechen gehen oft Übelkeit und Speichelfluss voraus, und es mündet in eine kraftvolle Entleerung von grossen Volumina (> 100 ml) verdauten Mageninhalts. Bei einer Regurgitation steigen nur kleine Volumina (< 100 ml) frischer oder halbverdauter Nahrung aus dem Ösophagus oder Magen hoch. Das kann bei dyspeptischen Patienten infolge Reflux oder Rumination eintreten. Bei Patienten mit Refluxerkrankung tritt es selten häufiger als ein- bis zweimal nach einer Mahlzeit auf, möglicherweise aber auch nachts im Bett. Beim Ruminationssyndrom erfolgen die Regurgitationen mehrmals nach einer Mahlzeit, oft durch willkürliche Kontraktionen der Abdominalwandmuskulatur als Reaktion auf dyspeptische Symptome (10). Diese Unterscheidung sei wichtig, so Fox, denn Reflux ziehe eine medikamentöse oder chirurgische Therapie nach sich, während die Rumination gut auf Physiotherapie anspreche. Ist die Klinik unklar, kann die definitive Diagnose manometrisch mit einer Testmahlzeit gestellt werden.
Irrtum 6: Inadäquate Langzeittherapie mit PPI
Klinische Guidelines empfehlen einen Behandlungsversuch mit Protonenpumpenhemmern (PPI) während 2 Wochen (11, 12). Zusätzlich solle auf Helicobacter pylori getestet und im positiven Fall behandelt werden, so Fox. Lindert die PPI-Therapie die Dyspepsiesymptome ungenügend, kann ein zweiter Versuch mit einer höheren Dosis oder einem anderen Präparat unternommen werden. Ist dann das Resultat ebenfalls nicht zufriedenstellend, soll der PPI abgesetzt werden. Es ist zu beachten, dass das Absetzten des PPI bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie aufgrund des Säurerebounds schwierig sein kann. Alginatbasierte Präparate (z. B. Gaviscon®) seien sehr effektiv bei intermittierenden Refluxsymptomen bei funktioneller Dyspepsie (13), was den PPI-Rückzug vereinfachen könne, so der Rat des Gastroenterologen.
Irrtum 7: Unterschätzte Arzneimittelintoleranz
So wie sich Patienten mit funktioneller Dyspepsie auf gewisse Nahrungsmittel intolerant oder allergisch fühlen, kann das
auch bei Medikamenten vorkommen. Das sollte hinterfragt werden, denn echte Allergien sind selten. Nebenwirkungen treten bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie aufgrund erhöhter Sensitivität gegenüber einer Vielzahl von Stimuli häufiger auf, es handelt sich dabei gemäss Fox aber meist um Nozeboeffekte. Diese ungefährlichen Effekte können aber dazu führen, dass Patienten Medikamente wie Antiemetika oder Antidepressiva absetzen. Den Patienten sollte man deshalb versichern, dass Intoleranzen nicht gefährlich sind und durch den Beginn mit tiefen Dosierungen und durch langsame Dosissteigerung abgemildert werden können.
Irrtum 8: Unnötige Überweisung für eine Abdominalchirurgie
Das Vorhandensein von Gallensteinen in einer ansonsten normalen Gallenblase stellt noch keine Indikation für eine routinemässige chirurgische Cholezystektomie dar (14–16). Es braucht ja auch für andere abdominalchirurgische Eingriffe wie beispielsweise Appendektomie, Antirefluxchirurgie oder Rektopexie eine klare Indikation. Fehlt jedoch die Evidenz für eine chirurgische Pathologie, ist der Erfolg der Operation mässig, und postoperative Exazerbationen der funktionellen gastrointestinalen Symptome sind häufig (17). «Man kann die Dinge verschlechtern, wenn keine klare Indikation vorliegt», mahnte Fox.
Irrtum 9: Kein multidisziplinäres Management
Die Ursachen einer Dyspepsie sind vielfältig, und das Ansprechen auf Massnahmen ist unterschiedlich. Wenn die Ressourcen vorhanden sind, kann eine multidisziplinäre Herangehensweise den Bedürfnissen des Patienten eher Rechnung tragen. Dazu gehört eine Ernährungsberatung, um den Trigger für die Symptome zu identifizieren, eine Mangelernährung zu vermeiden und das Gewicht zu kontrollieren. Eine physiotherapeutische Anleitung für abdominale Atemübungen und Entspannungstechniken bewährt sich bei funktionellen Blähungen und beim Ruminationssyndrom (18, 19). Ess- und Angststörungen sowie Depressionen können eine Dyspepsie auslösen und sollten psychiatrisch behandelt werden.
Irrtum 10: Ungenügende Arzt-Patienten-
Kommunikation
Eine gute und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung sei
die Basis für ein erfolgreiches Management aller funktionellen
gastrointestinalen Erkrankungen, betonte Fox. Das beginnt
mit einer klaren Diagnose, der Erklärung der Symptomursa-
chen und der Versicherung, dass nichts Schlimmes vorliegt. Es
gilt, den Patienten zur Selbsttherapie anzuleiten und mit ihm
einen Behandlungsplan zu vereinbaren. Gut informierte Pati-
enten sind zufriedener mit der Behandlung, kommen mit
ihren Symptomen besser zurecht und suchen den Arzt seltener
auf und zwar unabhängig von der Diagnose (20)!
s
Valérie Herzog
Quelle: «Mistakes in Dyspepsia». United European Gastroenterology Week (UEGW), 10. bis 14. Oktober 2020, virtuell.
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