Transkript
RHEUMATOLOGIE
Interview mit Ulrich Gerth
«Der Trend geht weg vom Kortison»
Foto: zVg
Die COVID-19-Pandemie machte es in diesem Jahr erstmals notwendig, das Jahrestreffen der European League Against Rheumatism (EULAR) als digitalen e-EULAR-Kongress stattfinden zu lassen. Trotz des ausgedünnten Programms konnte eine Reihe interessanter neuer Studien präsentiert werden. Über die persönlichen Highlights sprachen wir mit dem Rheumatologen und Nephrologen PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth von der Reha Rheinfelden.
Herr Dr. Gerth, was gibt es Neues zur rheu-
matoiden Arthritis (RA)?
Für mich war die NORD-STAR-Studie aus
Dänemark aus verschiedenen Gründen inter-
essant. Zum einen wurde bestätigt, dass Me-
thotrexat (MTX) mit Kortison bei früher RA
nicht besser und nicht schlechter wirkt als ver-
schiedene Biologika. Das bekräftigt, was wir
schon länger vermuteten, was wir in der Praxis
Ulrich Gerth
so umsetzen und wie es in den aktuellen Leitlinien steht. Zum anderen wurde aber auch
deutlich: Spricht etwas gegen den angeratenen
Therapiestart mit MTX, sollte man, ohne zu zögern, auch zu
anderen Therapieregimes greifen. Wir haben also zumindest
zu Beginn der Erkrankung eine Gleichwertigkeit der unter-
schiedlichen Therapien. Die Studie liefert darüber hinaus
Daten zum weiteren therapeutischen Weg, nämlich zum
präferenzlosen Einsatz verschiedener Biologika wie Abata-
cept, Tocilizumab oder TNF-Antikörper. Das finde ich sehr
positiv.
Zu einem frühen Zeitpunkt nach Diagnosestellung, egal wie wir behandeln, ist nichts unterlegen.
Allerdings waren die Teilnehmer der Studie durchschnittlich nur sieben Tage nach Erstdiagnose in der Studie - eigentlich unrealistisch kurz, oder? Das ist schon extrem kurz und leider in der Praxis nicht immer zu gewährleisten. Aber sei’s drum, das Ergebnis bleibt bestehen: Zu einem frühen Zeitpunkt nach Diagnosestellung, egal wie wir behandeln, ist nichts unterlegen.
Auch bei RA und Lungenfibrose kann MTX weiterhin eingesetzt werden… Eine gefürchtete, auch unzureichend untersuchte Komplika-
tion bei der RA ist eine mögliche Lungenfibrose. Wir wissen bis heute nicht, ob das die Folge einer schlecht behandelten RA ist oder ob die Fibrose in der Lunge ganz andere Ursachen hat. In einer retrospektiven Arbeit hat man nun nachgewiesen, dass MTX keinen Einfluss auf die Lungenfunktionsparameter respektive den Progress in der CT-Bildgebung hat. Das bestätigt abermals, dass eine Lungenfibrose keine Kontraindikation bezüglich MTX bei einer RA-Therapie darstellt. Das ist eine wichtige Botschaft. Vielmehr sind bei klinischen Hinweisen auf eine interstitielle Lungenerkrankung eine weitere Abklärung und gegebenenfalls eine Intensivierung der Basistherapie nötig – und dann oft zusammen mit MTX. An dieser Stelle noch ein praktischer Hinweis: Nikotingebrauch verschlechtert sowohl die Lungenfibrose als auch die RA. Deshalb sollten wir dringend an alle rauchenden Patienten appellieren, damit aufzuhören.
Einmal mehr wurde auf das hohe Risiko von Entzündungen aufmerksam gemacht … Ja, hohe Entzündungsaktivität bedeutet höheres Thromboserisiko. Generell ist es deshalb das oberste Ziel, die Entzündungsaktivität im Körper zu reduzieren. Eine unkontrollierte Inflammation ist darüber hinaus nicht nur ein Risiko für Thrombosen, sondern generell auch ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse und Infektionen. Wenn wir also mit einer guten Basistherapie die entzündliche Aktivität reduzieren, vermindern wir nicht nur die Gelenkbeschwerden, sondern auch das Risiko für andere «Baustellen» im Körper.
Apropos Entzündungen, es scheint Bewegung in die Therapie von Vaskulitiden zu kommen … Ja, bei ANCA-assoziierten Vaskulitiden, das sind Gefässentzündungen, die durch eine Autoimmunität und antineutrophile zytoplasmatische Antikörper gekennzeichnet sind, ist derzeit ein Paradigmenwechsel im Gange. Solche Kleingefässvaskulitiden sind zwar seltene, aber sehr belastende Erkrankungen. Man unterscheidet hier generell eine Induktions- und eine Erhaltungstherapie. Zu beiden wurden am EULAR interessante Ergebnisse präsentiert.
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Im Zentrum steht dabei eine komplett neue Substanz, die möglicherweise die Therapie revolutionieren wird. Dabei handelt es sich um einen oralen Komplement-C5A-Rezeptor-Inhibitor, der gegen Steroide getestet wurde. Da ein sehr hoher Leidensdruck und oft eine schwere Organbeteiligung bestehen, wurden die Patienten in der Induktionstherapie bislang mit extrem viel Kortison behandelt. Die Steroide werden zudem über lange Zeiträume gegeben, wobei Steroidnebenwirkungen oft vorkommen. Gemäss der ADVOCATE-Studie hat man es mit der neuen Substanz nun geschafft, die Steroide tatsächlich auf beinahe Null zu senken. Das ist wirklich sehr beeindruckend. Die Erkrankung verläuft manchmal anfangs oft sehr, sehr schwer. Es gibt Patienten mit Multiorganversagen, die teilweise auch dialysepflichtig sind. Deshalb hat man in diesen Situationen als Ultima Ratio oft einen Plasmaaustausch durchgeführt, allerdings bislang ohne richtig gute Studienbasis. Jetzt konnte im PEXIVAS-Trial gezeigt werden, dass diese zusätzliche Therapie für die Nierenfunktion offenbar nichts bringt. Zudem zeigten niedrigere Glukokortikoiddosen weniger Infektionen bei gleicher Effektivität. Das sind doch sehr relevante neue Daten! Auch reiht sich das in den derzeitigen übergeordneten Trend ein, von hohen Steroiddosen und langer Gabedauer wegzukommen. Schliesslich erwiesen sich in einer weiteren Studie Mycophenolat für die Induktion und Rituximab für die Erhaltungstherapie Azathioprin überlegen. Rituximab wird deshalb in der Erhaltungstherapie der ANCA-assoziierten Vaskulitis mit Organbeteiligung zunehmend andere Substanzen als Goldstandard ablösen.
Tatsächlich ist in der Praxis eine langsame Reduktion der Medikamente eindeutig erfolgreicher als ein promptes Absetzen.
Auch bei der Psoriasisarthritis (PsA) wurden neue Substanzen vorgestellt Bei der PsA und der Rheumatologie überhaupt ist es so, dass in den vergangenen Jahren mehr und mehr Alternativen hinzugekommen sind. Zuerst die Biologika mit den TNF-Inhibitoren, dann Interleukin-12/23- bzw. Il-17-Inhibitoren, zuletzt die JAK-Inhibitoren. Was uns fehlt, ist der Vergleich der Substanzen untereinander respektive eine Antwort auf die Frage, was wofür gut ist. Dazu wurde mit SELECT-PSA-1 nun eine schottische Studie zum Vergleich des JAK-1-Inhibitors Upadacitinib mit dem TNF-Hemmer Adalimumab vorgestellt. Dabei zeigte sich im Grunde keine Unterlegenheit einer Substanz. Wir erwarten deshalb schon bald die Zulassung des JAK-Inhibitors für die Therapie der PsA. Damit hätten wir zusätzlich zu Tofacitinib (zugelassen in Kombination mit MTX) einen zweiten JAK-Inhibitor zur Behandlung der PsA, wahrscheinlich jedoch als Monotherapie. Die Dosierung ist noch nicht ganz klar. Vermutlich wird die in der Studie getestete geringere Dosierung zur Zulassung kommen, da mit der höheren ein Trend zu mehr Nebenwirkungen zu erkennen war. Damit haben wir für die Behandlung der RA in der Schweiz mit Tofacitinib, Upada-
citinib und Baricitinib derzeit drei JAK-Inhibitoren und für die PsA bald zwei.
Setzen Sie diese auch ein? Ja. Es sind orale Substanzen, und sie wirken. Gerade bei der PsA hat MTX im Vergleich zur RA eine wesentlich geringere Wirkung und deshalb einen anderen Stellenwert. Man ist also im Fall einer unkontrollierten Erkrankung deutlich schneller bei den Biologika oder JAK-Inhibitoren. In diesem Zusammenhang konnte beispielsweise in einer Studie gezeigt werden, dass bei PsA eine zusätzliche Gabe von MTX zu Ixekizumab keinen zusätzlichen Nutzen aufweist. Bei RA hingegen hat MTX im Allgemeinen sehr wohl eine zusätzliche Wirkung. Wir lernen so immer mehr über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden Erkrankungen. Die PsA ist ja insgesamt extrem heterogen, bezogen auf die klinischen Verläufe. Wir haben einerseits die Gelenkerkrankungen und andererseits die Haut- und andere Manifestationen. Bei den Gelenkentzündungen sind Adalimumab und IL-17-Inhibitoren, also Secukinumab oder Ixekizumab, ungefähr gleichwertig. Was jedoch die Haut betrifft, aber auch die Enthesitis und die Daktylitis, ist eine Therapie mit Adressierung des IL-17-Pfads überlegen. Das unterstreicht abermals, dass je nach Symptomatik individuell unterschiedlich behandelt werden muss.
Viele Patienten in Remission wollen weg von den Medikamenten. Für die Spondylarthritis konnte nun gezeigt werden, dass der komplette Rückzug von TNF-Inhibitoren mit einem hohen Rückfallrisiko verbunden ist. Eine langsame Dosisreduktion scheint hingegen zu funktionieren. Das ist eine generelle Aussage, die für verschiedene entzündlich rheumatische Erkrankungen, z. B. für Vaskulitiden, aber auch für axiale Spondylarthritiden und die RA, gilt.
Wie soll es bei einem Patienten, der sich bei optimaler Therapie in Remission befindet, weitergehen? Muss er die Medikamente in der gleichen Dosierung bis zum Lebensende nehmen? Tatsächlich ist in der Praxis eine langsame Reduktion der Medikamente eindeutig erfolgreicher als ein promptes Absetzen. Hierbei kann sowohl eine Dosisreduktion, aber auch eine Verlängerung des Applikationsintervalls erwogen werden.
Ist bei Gicht nach wie vor Allopurinol der Standard? Ja. In einem Übersichtsvortrag zur Arthritis urica wurde betont, dass Allopurinol weiterhin die erste medikamentöse Wahl zur Behandlung dieser Erkrankung ist. Allerdings sollte man die zwar seltenen, aber doch existierenden Nebenwirkungen beachten, wie das Allopurinolhypersensitivitätssyndrom, das von leichten Formen mit einem Erythem 1 bis 4 Wochen nach Therapiebeginn über das Stevens-Johnson-Syndrom bis zu schwersten Fällen einer toxischen epidermalen Nekrolyse mit Ablösung der Haut reicht. Aber bei einer durch Hyperurikämie verursachten Arthritis ist nach einer Nutzen-Risiko-Abwägung weiterhin Allopurinol die Nummer eins, allerdings nur, wenn wirklich eine bestätigte Arthritis urica vorliegt. Eine alleinige und asymptomatische Hyperurikämie, also lediglich zu viel Harnsäure im Blut, ist
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in der Regel keine Therapieindikation. Das ist eine wichtige Unterscheidung.
Es wurde in einer neuen Studie darauf hingewiesen, dass ein Allopurinoleinsatz auch mit einer Zunahme von kardiovaskulären Ereignissen assoziiert sein kann … Ja, das ist so. Aber auch ein Gichtschub und die Hyperurikämie sind Surrogatparameter, für die eine Assoziation mit erhöhten kardiovaskulären Ereignissen gezeigt wurde. Bekannt ist, einfach gesagt: Wenn in einzelnen Organsystemen irgendetwas nicht richtig funktioniert, sei es das Herz, die Niere oder etwas anderes, dann steigt als Folge dessen oft die Harnsäure im Serum. Aber was ist Henne, und was ist Ei? Eine Hyperurikämie ist demzufolge häufig auch eine Folge und nicht immer Ursache von Komorbiditäten. Es handelt sich demzufolge oft um eine Assoziation, aber nicht um eine kausale Verknüpfung. Und noch ein praxisrelevantes Ergebnis: Bei Diabetikern hat eine Behandlung mit Metformin keinen Einfluss auf die Entwicklung einer Arthritis urica. Das ist gut, denn Metformin ist das MTX der Diabetologen.
Arthrose oder degenerative Beschwerden sollten nicht mit Morphinen behandelt werden. Die Schmerzen bekommt man in aller Regel mit anderen Substanzen in den Griff.
In einer Studie wurde auf den hohen Opioidverbrauch bei Arthrose in Spanien aufmerksam gemacht. Ist das auch in der Schweiz so? Offizielle Zahlen zeigen, dass auch in der Schweiz der Opioidkonsum in den letzten Jahren zugenommen hat, weltweit liegen wir auf Platz 7. In meiner täglichen Praxis erlebe ich jedoch, dass Opioidverschreibungen in der Nordwestschweiz nur sehr bewusst und gewissenhaft eingesetzt werden. Aber man sollte schon sensibel sein und die Leute auf das Problem hinweisen. Die Gefahr ist generell da, wie wir insbesondere aus den USA wissen. Arthrose oder degenerative Beschwerden sollten nicht mit Morphinen behandelt werden. Die Schmerzen bekommt man in aller Regel mit anderen Substanzen in den Griff. Höchstens bei absoluten Ausnahmen, und dann nur kurzzeitig, können Opioide verwendet werden. In solchen Situationen sollte man
auch an eine schmerztherapeutische Mitbetreuung denken. Ebenfalls sollte man eher darüber nachdenken, ob die Arthrose nicht chirurgisch angegangen werden sollte.
COVID-19 und rheumatoide Erkrankungen waren ja eines der Haupthemen am Kongress, obwohl bislang nur wenige wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen. Wie haben Sie das erlebt? Bei möglichen Medikamenten zu COVID-19 gab es viel Unsicherheit. Wir müssen uns da noch wirklich zurückhalten und abwarten. Bei Patienten mit entzündlicher rheumatischer Erkrankung ist es jedoch wichtig, dass man die Basistherapien fortsetzt, denn das Risiko für einen Rückfall durch einen Therapieabbruch und die damit verbundenen Risiken sind sehr hoch. Dass man bei einer SARS-CoV-2-Infektion das Kortison auf eine möglichst niedrige Dosis bringen sollte, passt wiederum zum Trend der Zeit.
Wie wurde Ihre Klinik durch COVID-19 beeinflusst? Natürlich waren wir beeinträchtigt. Das Spital war aufgrund der Sicherheitsmassnahmen im stationären Bereich quasi abgeriegelt. Gerade die fehlenden Besuchsmöglichkeiten waren hierbei eine starke Beeinträchtigung für die vielen Reha-Patienten. Während wir uns in normalen Zeiten darum bemühen, die Angehörigen überall einzubinden, mussten wir uns in der Coronazeit komplett anders verhalten. Aber auch bei den ambulanten Patienten gab es starke Unsicherheiten. Einige hatten auch Angst, in die Sprechstunden zu kommen. Deshalb war eine viel grössere psychologische Unterstützung notwendig als im normalen rheumatologischen Tagesgeschäft.
Zum Schluss noch ein Wort zum diesjährigen Format: Der
EULAR wurde ja erstmals als reiner e-Kongress veranstaltet.
Eine solche virtuelle Konferenz hat Vor- und Nachteile. Ich
fand es gut, dass ich bequem von zu Hause oder vom Arbeits-
zimmer aus ohne lange Reise teilnehmen und interaktiv Fra-
gen mitgestalten konnte. Was mir jedoch gefehlt hat, war der
direkte Austausch mit den Fachkollegen. So etwas gibt einer
solchen Veranstaltung immer mehr. Ausserdem nehme ich bei
einem Vortrag durch das persönliche Hören ganz andere Si-
gnale wahr als an einem Bildschirm. Meine Quintessenz für
die Zukunft wäre eine Hybridveranstaltung: Für diejenigen,
die teilnehmen wollen und können, bietet man das klassische
Modell. Gleichzeitig könnte ein Onlineangebot ermöglicht
werden. So wäre es für alle auch möglich, die vielen Parallel-
veranstaltungen nachzuschauen.
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Das Interview führte Klaus Duffner.
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