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NEUROLOGIE
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung
Multimodale Herangehensweise bei ADHS
Wenige Störungsbilder werden so kontrovers diskutiert wie bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Am PSY-Kongress 2019 sprachen die Expertinnen Prof. Susanne Walitza, Prof. für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich, Klinikdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, und Prof. Dominique Eich, Leiterin BrainARC in Zürich, über Diagnostik und Therapie dieser Störung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter.
ADHS ist mit einer Prävalenz von 3 bis 6 Prozent eine häufige Störung im Kindesalter (1). Eine viel diskutierte Leitfrage lautet, welche Personen eine ADHS-Diagnostik erhalten sollten. Prof. Susanne Walitza rät in Anlehnung an die deutschsprachigen Leitlinien, Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs-, Lern-, Leistungs- oder Verhaltensproblemen abzuklären, zudem bei Hinweisen auf Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und der Konzentration oder bei Hinweisen auf erhöhte Unruhe oder Impulsivität, die zu den Kernsymptomen zählen. Die Diagnostik sollte durch Experten erfolgen. Dazu zählen Fachärzte für Kinder-, Jugend- und Psychotherapie, Psychotherapeuten mit einer Zusatzqualifikation für ADHS und Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin mit Erfahrung und Fachwissen in der Diagnostik von ADHS.
Vertiefte Exploration
Dabei reiche eine Diagnostik allein auf der Grundlage von psychologischen Tests nicht aus, so die Expertin. Vielmehr bedarf es einer vertieften Exploration mittels Fragebogenverfahren, einer körperlichen und neurologischen Untersuchung und vor allem einer klinischen Beobachtung der Symptome in verschiedenen Settings und durch verschiedene Beurteiler (Kindergarten, Schule, zu Hause, Eltern, Lehrer, Kliniker und vor allem das betroffene Kind selbst). Die routinemässige Überprüfung von Laborparametern ist hingegen nicht notwendig. Die Behandlung sollte multimodal im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes erfolgen, dabei vor allem aber der individuellen Symptomatik und dem jeweiligen Funktionsniveau entsprechen. Grundsätzlich sollte zunächst und auch im Verlauf eine umfassende Psychoedukation angeboten werden. Ein ganz wesentliches Ziel der Behandlung ist die partizipative Entscheidungsfindung. «Eine Pharmakotherapie wird erst nach einer intensiven Psychoedukation empfohlen», so Walitza und zudem erst bei Kindern ab dem 6. Altersjahr und bei einer ADHS mit hohem Schweregrad. Bei einem moderaten/mittleren Schweregrad kann die Pharmakotherapie in Erwägung gezogen werden, falls keine psychosoziale Intervention ausreichend wirkt und gemäss den schweizerischen Handlungsempfehlungen auch dann, wenn nach 3- bis 6-monatiger nicht medikamentöser Behandlung keine ausreichende Besserung erzielt wurde.
Mehrere Psychostimulanzien stehen für die Behandlung zur Verfügung. Die Effektstärken bei Amphetaminen sind etwas höher als für Methylphenidat (2, 3). Daneben gibt es andere Medikationsgruppen (Atomoxetin und Clonidin), die einen anderen Wirkmechanismus haben und in der Schweiz nur dann empfohlen werden, wenn Stimulanzien nicht ausreichend wirken oder Nebenwirkungen verursachen. Von den nicht medikamentösen Interventionen haben Omega-3-Fettsäuren am besten abgeschnitten. Ihre Wirkung liege aber weit unter der von Medikamenten, so Walitza. Die Evidenzlage habe noch nicht ausgereicht, um eine Aufnahme der Omega-3-Fettsäuren in die Leitlinien zur Behandlung von ADHS zu rechtfertigen. Daten zur Entwicklung von ADHS vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter zeigen, dass die Kernsymptome wie Impulsivität und Hyperaktivität ab dem Schulalter signifikant abnehmen. Hyperaktivität ist bei 18- bis 25-Jährigen kaum mehr vorhanden, ebenso die Impulsivität. Allerdings steigt das Kernsymptom Unaufmerksamkeit signifikant im Vorschulalter an und bleibt bis ins Erwachsenenalter auf gleich hohem Niveau, begleitet von schulischen Problemen, Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Selbstwertproblemen, die auch im Erwachsenenalter anhalten.
ADHS bei Erwachsenen
ADHS wächst sich nicht einfach aus. Mit welchen Problemen ADHS im Erwachsenenalter assoziiert ist, erläuterte Prof. Dominique Eich. So haben Betroffene mit ADHS ihre eigene Realität. Drittauskünfte und Fremdzeugnisse sind deshalb nach Angaben von Eich für die Diagnostik essenziell. Zudem gehört eine fundierte somatische Abklärung dazu. Nach Wender (4) zeigen Erwachsene mit ADHS eine Hyperfokussierung, sie haben viel Energie und Fantasie, sind kreativ und leidenschaftlich, risikobereit und auch begeisterungsfähig. Das Risiko für eine koronare Herzkrankheit ist bei Erwachsenen mit ADHS 2,4-fach höher im Vergleich zu Menschen ohne ADHS, der Body-Mass-Index ist 11,4 Prozent höher, der Alkoholabusus beziehungsweise die Alkoholabhängigkeit 3- bis 8-mal häufiger (5). Die Gesundheitsprobleme widerspiegeln sich auch in einer grösseren Häufigkeit von Depressionen (3- bis 6-mal häufiger), Angststörungen (8- bis 17-mal
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häufiger), antisozialen Persönlichkeitsstörungen oder anti-
sozialem Verhalten (bis zu 4-mal häufiger) (5). Betrachtet man
die ADHS-bedingten Gesundheitskosten, so zeigt sich bei-
spielsweise in US-amerikanischen Daten, dass ADHS in den
USA die zweithöchsten Gesundheitskosten (77 Mrd. US-Dol-
lar) durch psychische Störungen nach Alkoholismus (86 Mrd.
US-Dollar) und vor der Depression (58 Mrd. US-Dollar) ver-
ursacht (6). Untersuchungen von Patientenkohorten zeigen
darüber hinaus, dass ADHS mit 10 Prozent mehr schweren
Unfällen assoziiert ist (6).
Die Behandlung ist auch bei den Erwachsenen multimodal
aufgebaut. Die Psychoedukation steht an oberster Stelle.
Einen hohen Stellenwert haben Informationsvermittlung,
Aufklärung und Beratung. Eine evidenzbasierte Pharmako-
therapie sollte erfolgen, wenn der Leidensdruck hoch ist oder
Komorbiditäten vorliegen. Eine Psychotherapie wird oft nicht
gewünscht, aber das Coaching ist im Verlauf von zentraler
Bedeutung.
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Quelle: Dominique Eich: Was Sie für die Praxis wissen sollten; Susanne Walitza: ADHS in Kindheit und Jugend: Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie. State-of-the-Art-Session 1: ADHS im Kindesalter; PSY-Kongress 2019, Kursaal Bern, 5. September 2019.
Referenzen: 1. Polanczyk G et al.: The worldwide prevalence of ADHD: a systematic re-
view and metaregression analysis. Am J Psychiatry 2007; 164(6): 942–948. 2. Biederman J, Faraone SV: Attention-deficit hyperactivity disorder. Lancet
2005; 366(9481): 237–248. 3. Storebø OJ et al.: Methylphenidate for children and adolescents with
attention deficit hyperactivity disorder (ADHD). Cochrane Database Syst Rev 2018; 5(5): CD012069. 4. Wendler PH: ADHD: Attention-deficit hyperactivity disorder in children, adolescents, and adults. Oxford Press University 2002. 5. Barkley R: Attention deficit hyperactivity disorder in adults. Jones & Bartlett Learning 2009. 6. Biederman J: Impact of comorbidity in adults with attention-deficit/hyperactivity disorder. J Clin Psychiatry 2004; 65 Suppl 3: 3–7.
Annegret Czernotta
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