Transkript
NEUROLOGIE
Depressionen in der Hausarztpraxis
Screening und Diagnose
Die Hausarztpraxis spielt oft eine zentrale Rolle bei der Identifizierung von Patienten mit depressiven Störungen. In einem Review hat ein US-amerikanisches Wissenschaftlerteam den aktuellen Wissensstand zum Screening und zur Diagnose von Depressionen in der Primärversorgung zusammengefasst.
British Medical Journal
Bei Depressionen handelt es sich um heterogene, oft chronisch rezidivierende Erkrankungen, die mit einer Vielzahl genetischer, biologischer, kultureller und psychologischer Faktoren in Zusammenhang stehen. Eine Depression kann in jedem Lebensalter auftreten, manifestiert sich jedoch eher in höherem Lebensalter. Aus Bevölkerungsstudien geht hervor, dass Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Da die Vererblichkeit geringer ist als bei anderen mentalen Erkrankungen, entwickeln sich depressive Störungen vermutlich vorwiegend aufgrund äusserer Einflüsse.
Depression als Komorbidität
Zwischen Depressionen und chronischen körperlichen Erkrankungen bestehen ausgeprägte Wechselwirkungen. So leiden Patienten mit Herzinsuffizienz, Diabetes, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Multipler Sklerose (MS) und anderen dauerhaft anhaltenden somatischen Beschwerden oft auch unter einer Depression und umgekehrt. Verschreibungspflichtige Medikamente zur Behandlung chronischer Erkrankungen können aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils ebenfalls zu einer depressiven Symptomatik beitragen.
Screening
Für den Hausarzt ist es oft schwierig, eine Depression zu erkennen. Manche Patienten präsentieren sich zwar mit den klassischen Symptomen einer gedrückten Stimmungslage, viele
MERKSÄTZE
� Viele depressive Patienten klagen vorwiegend über unspezifische körperliche Beschwerden.
� Der Verdacht auf eine Depression ergibt sich aus einer kombinierten Betrachtung von Stimmungslage, somatischen Beschwerden und Risikofaktoren für eine Depression.
� Im Rahmen der diagnostischen Evaluierung sind auch somatische und psychiatrische Differenzialdiagnosen in Betracht zu ziehen.
� Bei depressiven Patienten ist die Abschätzung des Suizidrisikos von grosser Bedeutung.
klagen jedoch vorwiegend über unspezifische körperliche Symptome wie Veränderungen des Appetits, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, unspezifische Schmerzen, Kopfschmerzen, Menstruations- und Verdauungsbeschwerden oder sexuelle Probleme. Vor allem bei älteren depressiven Patienten stehen die körperlichen Beschwerden meist im Vordergrund. Somit ergibt sich der Verdacht auf eine Depression nicht aufgrund einer definierten mentalen Symptomatik, sondern vielmehr aus einer kombinierten Betrachtung aller somatischen Beschwerden und der Stimmungslage sowie aus der Art und Anzahl von Risikofaktoren, die eine Depression begünstigen (siehe Kasten).
Screening-Tools
Zur Identifizierung und zum Monitoring depressiver Patienten stehen auch validierte Screeninginstrumente wie ein Patient Health Questionnaire (PHQ) zur Verfügung. In der Primärversorgung haben sich die Fragebögen PHQ-2 und PHQ-9 als gutes Screening-Tool bezüglich Validität, Verlässlichkeit und Kürze erwiesen. Viele Hausärzte führen zunächst ein Screening mit dem PHQ-2und anschliessend zur Bestätigung ein weiteres mit dem PHQ-9-Fragebogen durch. Diese zweistufige Vorgehensweise war in Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen verbunden. Die Review-Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass Screeninginstrumente niemals isoliert zu diagnostischen Zwecken, sondern nur im Vorfeld einer gezielten Untersuchung angewendet werden sollten.
Diagnose und Evaluierung
Nach einem positiven Screeningergebnis erfolgt eine diagnostische Evaluierung im Hinblick auf die Art und die Schwere der Depression. Dazu dienen meist die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DMS-5) oder die elfte Revision der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) (Abbildungen 1 und 2). Die diagnostische Effektivität der Klassifizierungssysteme wurde bis anhin noch nicht wissenschaftlich verglichen. Nach Ansicht der Review-Autoren sind daher beide zur Anwendung in der Hausarztpraxis geeignet. Entsprechend dem DSM-5 muss zur formalen Diagnose einer Depression mindestens ein Schlüsselkriterium – gedrückte
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Kasten 1:
Risikofaktoren für Depressionen
s vorherige depressive Episoden s Alter s Geschlecht s weitere mentale Erkrankungen in der Vorgeschichte s vorheriger Substanzmissbrauch s familiäre Depressionen oder Suizide s chronische körperliche Erkrankungen s Arbeitslosigkeit s unzureichende soziale Unterstützung s kurz zurückliegende belastende Lebensereignisse wie Verluste s Gewalt in der Partnerschaft
Stimmung, Interessenverlust oder Antriebslosigkeit – vorhanden sein. Nach den Vorgaben der ICD-11 ist zur Diagnose einer depressiven Episode eine gedrückte Stimmung oder verlorengegangenes Interesse an Aktivitäten erforderlich. In beiden Klassifizierungssystemen sollte das Symptom über mindestens zwei Wochen in bestimmter Schwere an fast jedem Tag vorhanden sein. Beim DSM-5 sind mindestens fünf von neun Symptomen erforderlich, während die ICD-11 keine Vorgaben zur Anzahl der Symptome macht.
Psychiatrische Differenzialdiagnosen
Depressive Symptome, die nicht den Kriterien des DSM-5 für eine Major Depression oder denen der ICD-11 für einzelne Episoden oder eine rezidivierende Erkrankung entsprechen, können aus anderen depressiven Störungen resultieren.
Bipolare Störungen Alle Patienten mit depressiver Symptomatik sollten auch im Hinblick auf eine bipolare Störung untersucht werden. Da sich Patienten mit bipolarer Erkrankung beim Hausarzt eher in einer Phase niedergedrückter Stimmung präsentieren, wird bei ihnen mitunter eine Major Depression fehldiagnostiziert. Dies wird bei etwa einem Drittel der Betroffenen bis zu zehn Jahre lang nicht erkannt. Die Falschdiagnose kann dazu führen, dass bipolare Patienten Antidepressiva anstelle von Stimmungsstabilisierern erhalten. Diese für sie ungeeignete Behandlung kann wiederum eine Manie oder einen rapiden Wechsel zwischen den ex tremen Stimmungslagen auslösen.
Depression und Angststörung Depressive Patienten weisen oft auch weitere psychiatrische Erkrankungen wie Angststörungen auf. Das Vorhandensein einer psychischen Störung steigert signifikant das Risiko für weitere. Zur Identifizierung von Patienten mit einem gemischten Störungsbild aus Depression und Angst empfehlen die Autoren Screeninginstrumente wie die Fragebögen zur Erfassung generalisierter Angststörungen (generalized anxiety disorder, GAD). In Studien waren GAD-2 und GAD-7 mit einer hohen negativen Aussagekraft verbunden. Die Aussagekraft eines positiven GAD-Screenings ist allerdings sehr viel geringer, sodass in diesen Fällen eine weitergehende diagnostische Evaluierung erforderlich ist.
Depression und Substanzmissbrauch Bei Depressionen und Substanzmissbrauch handelt es sich um verschiedene klinische Entitäten, die häufig gemeinsam auftreten. In der Studie Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression (STAR*D) waren depressive Patienten mit Substanzmissbrauch im Vergleich zu ausschliesslich depressiven Patienten eher jung, männlich, geschieden oder niemals
DSM-5: Major Depression
A) In einem Zeitraum von zwei Wochen waren fünf oder mehr der folgenden Symptome vorhanden, die mit einer Veränderung der vorherigen Funktionsfähigkeit einhergingen; bei mindestens einem Symptom handelt es sich um 1) gedrückte Stimmung oder 2) Verlust an Interesse oder Vergnügen.
B) Die Symptome entsprechen nicht den Kriterien einer gemischten Episode.
1. Gedrückte Stimmung über den grössten Teil des Tages, nahezu tagtäglich
2. Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Freude an allen oder fast allen Aktivitäten über den grössten Teil des Tages, nahezu tagtäglich
3. Gefühle der Wertlosigkeit oder unangemessene Schuldgefühle, nahezu tagtäglich
4. Denk- und Konzentrations-störungen, nahezu tagtäglich
5. Signifikanter Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme (z. B. mehr als 5% des Körpergewichts innerhalb eines Monats) oder Veränderungen des Appetits, nahezu tagtäglich
6. Insomnie oder Hypersomnie, nahezu tagtäglich
7. Wiederkehrende Gedanken an den Tod, Suizidgedanken oder Suizidpläne
8. Ruhelosigkeit oder Verlangsamung, nahezu tagtäglich
9. Fatigue oder Energieverlust, nahezu tagtäglich
C) Die Episode ist nicht auf physiologische Effekte einer Substanz oder einer anderen medizinischen Erkrankung zurückzuführen.
D) Das Auftreten der Major-Depression-Episode kann nicht besser erklärt werden durch eine schizoaffektive Störung, eine Schizophrenie, eine schizophreniforme Störung, eine wahnhafte Störung oder andere Erkrankungen des spezifischen oder unspezifischen schizophrenen Spektrums oder andere psychotische Erkrankungen.
E) Keine vorherige manische oder hypomanische Episode.
Abbildung 1: DSM-5-Klassifizierungssystem (nach Ferenchick et al. 2019), übernommen aus dem DSM-5 der American Psychiatric Association
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ICD-11: Depressive Störung
Die depressive Störung kann als einzelne Episode oder als rezidivierende Störung auftreten:
Eine depressive Episode ist gekennzeichnet durch:
• Eine einzelne depressive Episode ist gekennzeichnet durch eine aktuelle oder vorherige depressive Episode ohne weitere vorherige depressive Episoden.
• Eine rezidivierende depressive Störung ist durch mindestens zwei separate Episoden im Abstand von mehreren Monaten gekennzeichnet.
• nahezu täglich gedrückte Stimmung oder einen Verlust des Interesses an Aktivitäten über mindestens zwei Wochen
• weitere Begleitsymptome wie
– Konzentrationsschwierigkeiten
– Gefühle der Wertlosigkeit oder unangemessene Schuldgefühle
– Hoffnungslosigkeit, wiederkehrende Gedanken an Tod oder Suizid
– Veränderungen des Appetits oder des Schlafs
– Ruhelosigkeit oder Verlangsamung
– Energieverlust oder Fatigue
• keine manischen, hypomanischen oder gemischten Episoden in der Vergangenheit, die auf eine bipolare Störung hinweisen
Die depressive Störung – als einzelne Episode oder als rezidivierende Störung – kann unterteilt werden in
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Kein Symptom ist sehr ausgeprägt; die betroffene Person ist bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätig-
keit, ihrer sozialen oder häuslichen Aktivitäten nur wenig eingeschränkt, und es treten keine
Wahnvorstellungen oder Halluzinationen auf.
Manche Symptome sind deutlich ausgeprägt, oder es sind insgesamt zahlreiche weniger schwere depressive Symptome vorhanden; die Be-
troffenen haben beträchtliche Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer sozialen oder häuslichen Aktivitäten, sind aber noch funktionsfähig, zumindest in manchen Bereichen.
Viele oder die meisten Symptome sind deutlich ausgeprägt, oder eine kleinere Anzahl an Symptomen ist
sehr intensiv ausgeprägt; die betroffene Person ist nicht in der Lage, in persönlichen familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen zu funktionieren, ausser in
sehr begrenztem Ausmass.
Die Episoden können zudem durch das Vorhandensein oder die Abwesenheit psychotischer Symptome, (Wahnvorstellungen oder Halluzi-
nationen) gekennzeichnet sein.
Abbildung 2: ICD-11-Klassifizierungssystem (nach Ferenchick et al. 2019), übernommen aus der ICD-11 der World Health Organisation (WHO)
verheiratet und wiesen ein höheres Suizidrisiko auf. Zudem setzte bei ihnen die Depression in jüngerem Lebensalter in schwererer Form ein und war auch häufiger mit komorbiden Angststörungen verbunden. Ein potenzieller Substanzmissbrauch kann anhand von Screeningfragen im Rahmen des Hausarzt-Patienten-Gesprächs abgeklärt werden. Zu diesem Zweck eignet sich auch das SBIRT-(Screening, Brief Intervention, Referral, Treatment-)Behandlungsmodell, ein evidenzbasiertes Instrument zur Identifizierung, Verminderung und Prävention von Sub stanzmissbrauch.
Somatische Differenzialdiagnosen
Bei der Erstevaluierung sollten auch körperliche Erkrankungen ausgeschlossen werden, deren Symptome denen einer Depression ähneln. Dazu wurden folgende vier Leitfragen entwickelt, die eine Unterscheidung zwischen psychiatrischen Symptomen und körperlichen Befunden erleichtern sollen: s Handelt es sich um ein atypisches psychiatrisches Symp-
tom? s Steht die Erkrankung oder der Substanzkonsum tempo-
rär mit dem psychiatrischen Symptom in Verbindung? s Können die psychiatrischen Symptome besser mit einer
primären psychiatrischen Erkrankung erklärt werden? s Handelt es sich bei den psychiatrischen Symptomen um
eine direkte Konsequenz einer Erkrankung oder eines Substanzkonsums?
Neurologische Erkrankungen wie Parkinson, MS und vor allem Demenzen sind oft mit Symptomen verbunden, die sich mit denen einer Major Depression überschneiden. Körperliche Symptome einer Depression wie Fatigue oder Gewichtsverlust können infolge häufiger Erkrankungen wie Schilddrüsenstörungen oder Anämie auftreten.
Depression und Suizidrisiko
Im Rahmen der Diagnosestellung ist immer eine Abschätzung des Suizidrisikos erforderlich. Fast die Hälfte der Patienten, die einen Suizid vollendeten, hatte zuvor Kontakt mit dem Hausarzt. Daher spielt dieser eine grosse Rolle bei der Prävention. Zur Abschätzung des Suizidrisikos hat sich die Columbia Suicide Severity Rating Scale (C-SSRS) für den Einsatz in der Hausarztpraxis bewährt. Bei der Patientenbefragung sollte sich der Arzt gezielt nach Suizidgedanken, -plänen und -absichten erkundigen und überlegen, welche Hilfen erforderlich sein könnten. Im Zweifelsfall ist ein Psychiater hinzuzuziehen. s
Petra Stölting
Quelle: Ferenchick E et al.: Depression in primary care: part 1 – screening and diagnosis. BMJ 2019; 365: l794.
Interessenlage: Alle drei Review-Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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