Transkript
UROLOGIE
Schweizer Leitlinien zur urogynäkologischen Diagnostik und Therapie
Genitaldeszensus, Belastungsinkontinenz, idiopathische OAB und Harnwegsinfekte
Die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) stellt für die praktizierenden Ärzte Leitlinien (Guidelines) und Expertenbriefe zur Verfügung und hilft damit der Ärzteschaft, medizinisch und wissenschaftlich à jour zu bleiben. Die Leitlinien werden in Zusammenarbeit mit den einzelnen Arbeitsgruppen zusammengetragen und unterstützen die Entscheidungsfindung in Diagnostik und Therapie.
David Scheiner, Daniele Perucchini, Daniel Fink, Cornelia Betschart
Die urogynäkologischen Leitlinien und Expertenbriefe werden national oder länderübergreifend für die deutschsprachigen Gesellschaften unter Federführung der Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und Beckenbodenpathologie (AUG) als Kompilation des spezifischen Fachwissens und als Handlungsanleitungen für die aktuelle Praxis zusammengestellt. Der folgende Artikel bietet eine Übersicht über die aktuelle urogynäkologische Leitliniensituation in der Schweiz.
Guidelines und Expertenbriefe der SGGG
Zur Unterstützung der Entscheidungsprozesse in Prävention, Früherkennung, Screening, Diagnostik, Therapie und Nachsorge stehen verschiedene medizinische Leitlinien zur Verfügung. Auf dem Gebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe ist die SGGG für die wissenschaftliche, praktische und ethische Entwicklung zuständig und erarbeitet entsprechende Standards, Guidelines, Expertenbriefe und Patienteninformationen, die sie öffentlich und kostenfrei auf ihrer Homepage zur Verfügung stellt (www.sggg.ch).
Erstellung in definiertem Konsensfindungsprozess Seit 2015 besteht eine Zusammenarbeit mit der Deutschen und der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG und ÖGGG). Die Erstellung von Leitlinien und Expertenbriefen beinhaltet einen definierten Konsensfindungsprozess, der die verschiedenen, auch nicht gynäkologischen Disziplinen und Patientenvertreter miteinbezieht. Zeitlich wie auch finanziell (wie im Falle der AWMF-Leitlinien mit Kosten von über 100 000 Euro!) ist die Erarbeitung
aufwendig. Als «systematische Reviews mit Handlungsempfehlungen» beruhen diese Leitlinien und Expertenbriefe auf den aktuellen medizinischen Standards und dem Stand der Wissenschaft, womit sie ▲ Instrumente zur Weiter- und Fortbildung sind und ▲ das Wissen in den Praxisalltag weitergeben und dort als
Orientierung dienen. Sie sind allerdings nur inhaltlich verbindlich, aber nicht rechtlich bindend. Dennoch sind Abweichungen zu begründen, zumal diese Leitlinien und Expertenbriefe als Bezugspunkte bei Rechtsgutachten beigezogen werden.
7 Guidelines und Expertenbriefe in der Urogynäkologie
Derzeit stehen in der Urogynäkologie 7 Guidelines und Expertenbriefe (Tabelle) gratis auf www.sggg.ch zur Verfügung. Dazu können die folgenden präoperativen Aufklärungsprotokolle für Patientinnen genutzt werden: ▲ Blasenhalsunterspritzung zur Behandlung der Harninkon-
tinenz ▲ Schlingenoperationen bei Harninkontinenz ▲ Injektion von Botulinumneurotoxin Typ A (Botox) in die
Blase ▲ Operationen bei Senkung/Vorfall der Beckenorgane von
der Scheide her sowie ▲ Operation bei Senkung/Vorfall der Beckenorgane durch
Bauchspiegelung oder Bauchschnitt. Diese Dokumente sind ein wichtiger Beitrag zur evidenzbasierten Medizin und Förderung eines hochstehenden medizinischen Standards. Gerade in einem Fachgebiet wie der Uro-
26 ARS MEDICI DOSSIER III | 2020
UROLOGIE
gynäkologie mit ihren vielen Kontroversen und Dutzenden von Operationstechniken und Netzen sowie der FDA-Warnung* ist das bei deren Einsatz wichtig. Im Folgenden sollen – mit Ausnahme der beiden letzten geburtshilflichen – die neueren Dokumente kurz vorgestellt werden. Eine detaillierte Auflistung und Erörterung der Guidelines und Expertenbriefe würden den Rahmen dieses Artikels sprengen, weshalb wir dringend empfehlen, die einzelnen Dokumente zu studieren.
Diagnostik und Therapie des weiblichen Genitaldeszensus (AWMF 015-006 und Expertenbrief Nr. 61)
Die unter Federführung der DGGG erstellte 150-seitige Guideline ist eine systematische Evidenzrecherche und basiert auf Stufe S2e**. Autoren der DGGG, ÖGGG und der SGGG arbeiteten daran gemeinsam mit Autoren anderer Fachrichtungen (Koloproktologie, Urologie oder Physiotherapie) unentgeltlich. Einbezogen wurden Originalarbeiten aus den Jahren 2007 bis 2014 und auch die FDA-Warnung zum Einsatz von Meshes aus dem Jahr 2011. Zum Einsatz von Netzen in der chirurgischen Behandlung von Senkungszuständen in der Schweiz nimmt der Expertenbrief Nr. 61 Stellung. Gemäss der beiden FDA-Warnungen im Jahr 2011 und 2016 gehören vaginale Netze neu in die Risikoklasse 3 (= hohes Risiko), und in der heutigen Beurteilung übersteigt das Schaden- beziehungsweise Komplikationsausmass deren Nutzen. Erschwerend für die korrekte Lagebeurteilung ist der Umstand, dass gerade die häufig eingesetzten Netze Prolift, Elevate und Perigee untersucht und mittlerweile vom Markt zurückgenommen wurden. Damit beruhen aber die FDA-Empfehlungen auf Resultaten von Netztypen, die heute gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Senkungsoperationen sollen möglichst wenig invasiv sein, möglichst wenig Komplikationen und ein minimales Rezidivrisiko aufweisen. Die Indikation zur vaginalen Netzeinlage soll kritisch und zurückhaltend gestellt werden. Idealerweise sollen vaginale Netze nur im Rahmen von Studien eingelegt werden. Für nicht resorbierbare Netze sind Materialien der Amid-Klasse I gefordert (monofilamentäres, makroporöses Polypropylen). Entscheidend für den Einsatz von Netzen sind eine fundierte Ausbildung und Schulung an zertifizierten Weiterbildungszentren sowie ausreichende Erfahrung. Indikation für die operative Behebung des Genitaldeszenus ist der konservativ ausgeschöpfte Deszensus mit entsprechend hohem Leidensdruck nach erfolgter urogynäkologischer Diagnostik und präoperativer Aufklärung unter Berücksichtigung des Sexuallebens und der postoperativen Folgen. Es werden ein postoperatives Follow-up sowie eine korrekte Dokumentation gefordert. Bei der vaginalen Senkungsoperation soll primär kein Netz implantiert werden (siehe auch AWMF 015-006). Obschon unter Netzen weniger Rezidive auftreten, ist die subjektive Wahrnehmung der Patientin toleranter hinsichtlich einer Rezidivsenkung, während Netze
* https://www.fda.gov/medical-devices/implants-and-prosthetics/ urogynecologic-surgical-mesh-implants ** S2e steht für evidenzbasierte Leitlinie und entspricht einer systematischen Recherche mit Auswahl und Bewertung der Literatur. MucheBorowski C, Kopp I.: Wie eine Leitlinie entsteht. Z Herz- Thorax- Gefässchir (2011) 25: 217.
(z. B. Prolift) doch auch eine Reoperationsrate von 10 Prozent aufweisen. Indikationen zur Netzeinlage sind Rezidivsituation, der laterale Defekt oder generell anatomische Befunde, bei denen eine Diaphragmaplastik oder eine apikale Fixation nicht sinnvoll oder möglich ist. In der Behandlung der Rektozele reicht meist die Kolpoperineoplastik mit einer Heilungsrate von 90 Prozent, die einer Netzexposition von 6 bis 12 Prozent bei netzunterstützten Deszensusoperationen gegenüberzustellen ist. Ausreichend Evidenz liegt bei der abdominalen oder laparoskopischen Sakrokolpopexie vor, die idealerweise ohne totale, das heisst nur mit suprazervikaler Hysterektomie ausgeführt wird und die ungefähr mit der vaginalen sakrospinalen Fixation nach Amreich-Richter vergleichbar ist. Da Letztgenannte mit einer Operationsdauer von 60 bis 90 Minuten deutlich kürzer ist als die laparoskopische Sakrokolpopexie mit 120 bis 240 Minuten, ist für ältere Patientinnen das vaginale, für jüngere dagegen das laparoskopische Vorgehen eine gute Option. Bei Wunsch nach Uteruserhalt sind beide Zugänge vertretbar (AWMF 015-006). Bei der laparoskopischen Sakrokolpopexie sind in 22 Prozent der Fälle eine De-novo-Belastungsinkontinenz und in 2,9 Prozent der Fälle Blasenerosionen nach 5 Jahren zu bedenken; bei der abdominalen Sakrokolpopexie sind in 10,5 Prozent der Fälle Netzexpositionen nach 7 Jahren beschrieben. Bei der Operationsindikation ist der erhöhten Rezidivrate bei Zystozele mit apikalem Defekt, einem höhergradigen Genitaldeszensus, Rezidivsituation, chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen und generell erhöhter Belastung des Beckenbodens Rechnung zu tragen.
Schlingenoperationen zur Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz (Expertenbrief Nr. 44)
Die Vielzahl an Inkontinenzschlingen auf dem Schweizer Markt veranlasste das BAG, Qualitätsrichtlinien in der chirurgischen Behandlung der Belastungsinkontinenz zu fordern, worauf der Expertenbrief aktualisiert wurde. Die Leistung der Harninkontinenzoperation soll weiterhin verfügbar, der Zugang geregelt und gesichert sein sowie die Qualität verbessert
MERKSÄTZE
� Leitlinien und Expertenbriefe kompilieren das aktuelle medizinische Fachwissen.
� Sie unterstützen Behandlungsprozesse und Entscheidungsfindung und dienen als Handlungsanleitungen mit nützlichen Hinweisen für Diagnostik und Therapie.
� Die SGGG stellt Leitlinien, Expertenbriefe, Aufklärungsprotokolle sowie Patientinneninformationen kostenfrei zur Verfügung unter www.sggg.ch.
� Obschon die Leitlinien und Expertenbriefe inhaltlich, aber nicht rechtlich verbindlich sind, können sie als Bezugspunkte bei Rechtsgutachten beigezogen werden.
ARS MEDICI DOSSIER III | 2020
27
UROLOGIE
Tabelle: Urogynäkologische Leitlinien und Expertenbriefe der AUG und der SGGG*
Abrufbar auf der Homepage der SGGG unter www.sggg.ch/fachthemen oder im Layout der GYNÄKOLOGIE unter www.ch-gynaekologie.ch
Typ
Guideline AWMF 015-006 S2e Expertenbrief 61 Expertenbrief 44 Expertenbrief 53 Expertenbrief 58 Leitlinie AWMF 015-079 Expertenbrief 29
Datum Titel
31. 10. 2015 Diagnostik und Therapie des weiblichen Descensus genitalis
V 1.1
7. 12. 2018 Der Einsatz von Netzen bei Senkungsoperationen
16. 6. 2016 Schlingenoperationen zur Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz
13. 6. 2018 Botulinumtoxin Typ A bei idiopathischer OAB
6. 6. 2018 Akute und rezidivierende Harnwegsinfektionen
2. 10. 2014 Management von Dammrissen III. und IV. Grades nach vaginaler Geburt
V 1.0
1. 1. 2012
Der Beckenboden während Schwangerschaft und nach der Geburt
* Stand 4. August 2019
werden. 2003 wurden die Schlingenoperationen – mit Ausnahme des adjustierbaren Inkontinenzsystems Reemex – auf Antrag der AUG in die KLV aufgenommen. Inkontinenzschlingen (und Netze) müssen aus Materialien der AmidKlasse 1 bestehen. Indikationen für eine Schlingenoperation sind die konservativ ausgeschöpfte Therapie und die von einem Facharzt zumindest mittels urogynäkologischer Basisdiagnostik, eventuell sogar urodynamisch, objektivierte Belastungs- beziehungsweise belastungsbetonte (Misch-)Inkontinenz mit einem für die Patientin entsprechend hohen Leidensdruck. Bei Genitaldeszensus mit manifester oder schwerer larvierter Belastungsinkontinenz kann die gleichzeitige Schlingeneinlage diskutiert werden. Die transobturatorischen und retropubischen Zugangswege sind vergleichbar geeignet, wobei der retropubische (z. B. tension-free vaginal tape, TVT) bei hypotoner Urethra der transobturatorischen Technik überlegen ist. Von Minischlingen wird abgeraten; ebenso sollen ausserhalb von Studienbedingungen keine Modifikationen erfolgen. Der Nachweis respektive Ausschluss einer Blasenläsion (in etwa 5% der Fälle bei retropubischen Techniken) erfolgt durch die intraoperative Zystoskopie. Eine zufriedenstellende Miktion liegt bei einer Spontanurinmenge von mindestens 150 ml und einer Restharnmenge von unter 150 ml vor.
Abkürzungen
AUG Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und Beckenbodenpathologie
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
BAG Bundesamt für Gesundheit DGGG Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe FDA U.S. Food and Drug Administration HWI Harnwegsinfektion KLV Krankenpflege-Leistungsverordnung OAB Overactive bladder syndrome (überaktive Blase) ÖGGG Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts-
hilfe SGGG Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe StAR Strategie gegen Antibiotikaresistenzen
Die Arbeitsunfähigkeit soll in der Regel kurz gehalten werden (1–2 Wochen ab Operation). Untersuchungsbefunde, präoperative Aufklärung (SGGG-Aufklärungsprotokoll unter www.sggg.ch erhältlich), Verlauf und postoperative Nachkontrolle mit Restharnkontrolle müssen dokumentiert werden.
Botulinumtoxin Typ A bei idiopathischer OAB (Expertenbrief Nr. 53)
Bei überaktiver Blase (OAB) werden Indikation und Anwendung von Botulinumtoxin Typ A (Botox®) definiert und geregelt. Botox® wurde am 9. Dezember 2013 von Swissmedic für die Indikation der idiopathischen OAB zugelassen und ist seit dem 1. Januar 2015 kassenpflichtig. Als Voraussetzung für die Kostenübernahme und die Injektion verlangt das BAG das Vorliegen einer therapierefraktären idiopathischen oder neurogenen OAB nach fachärztlicher Beurteilung und urogynäkologischer oder neurourologischer Vorabklärung mit Urodynamik in einem Zentrum mit entsprechender Expertise. Therapierefraktär bedeutet, dass die Patientin mindestens ein Medikament zur Behebung der OAB ausprobiert haben muss und dieses wegen fehlender Wirkung oder aufgrund von Nebenwirkungen sistiert hat. Ein hoher subjektiver Leidensdruck der Patientin muss vorliegen. Kontraindikationen für die Botox®-Injektion sind unter anderem ein unbehandelter florider Harnwegsinfekt (HWI), Ablehung eines Katheterismus seitens der Patientin sowie Schwangerschaft und Stillzeit. Der Expertenbrief nimmt zudem Stellung zu Dosierung, Injektionstechnik, postoperativem Follow-up, Komplikationen und Wirkdauer.
Akute und rezidivierende Harnwegsinfektionen (Expertenbrief Nr. 58)
Neu wird nicht mehr auf eine asymptomatische Bakteriurie gescreent, auch nicht in der Schwangerschaft. Ein akuter HWI soll jedoch korrekt und mit einem blasenspezifischen Antibiotikum so kurz wie möglich behandelt werden. Eine asymptomatische Bakteriurie wird nur noch bei Risikopatientinnen oder vor urogynäkologischen Operationen behandelt. Gemäss der Strategie gegen Antibiotikaresistenzen (StAR) des BAG soll antibiotikafreien Varianten der Vorzug gegeben werden. Hier eignen sich auch nicht steroidale Antiphlogis-
28 ARS MEDICI DOSSIER III | 2020
tika. Auch bei einer urodynamischen Untersuchung oder Zys-
toskopie bedarf es keiner routinemässigen Antibiose und
keiner Endokarditisprophylaxe. Dagegen soll eine Antibioti-
kaprophylaxe bei urogynäkologischen Eingriffen mit oder
ohne Netzeinlage mit einem Cephalosporin der zweiten Ge-
neration erfolgen. Bei signifikantem Restharn ist die Ursache
zu beheben, andernfalls zu katheterisieren, nicht aber anti-
biotisch zu behandeln. Eine Senkungsoperation scheint die
Inzidenz präoperativ bestehender rezidivierender HWI nicht
zu verringern.
▲
Dr. med. David Scheiner Klinik für Gynäkologie Universitätsspital Zürich 8091 Zürich E-Mail: david.scheiner@usz.ch
Interessenkonflikte: keine.
UROLOGIE
ARS MEDICI DOSSIER III | 2020
29