Transkript
GASTROENTEROLOGIE
Von Allergie bis Zöliakie
Antworten auf Fragen aus der Praxis
Im Rahmen einer interaktiven Fortbildung stand der Gastroenterologe Dr. med. Stefan Hartmeier, Brugg, Kollegen aus einer hausärztlichen Praxis Rede und Antwort. Dabei ging es zum Beispiel um die Dauer der Laxanzieneinnahme bei chronischer Obstipation, die Rolle der Calprotectinbestimmung beim Reizdarmsyndrom und die Frage, inwieweit man sich bei der Ernährung einschränken sollte.
? Dürfen indische Flohsamenschalen bei Hiatus-
hernien eingesetzt werden?
Eine Hiatushernie ist keine Kontraindikation für den Einsatz von indischen Flohsamen (Agiolax® mite, Metamucil®). Grundsätzlich kann der Quellstoff jedoch in der Quellphase zu Aufstossen führen, und das kann sich bei Vorliegen einer Hiatushernie stärker bemerkbar machen. Gegebenenfalls empfiehlt es sich, den Einnahmezeitpunkt auf den Morgen zu verschieben beziehungsweise es einzunehmen, wenn man sich danach nicht hinlegt. Der Quellstoff hat viele gute Indikationen, verbessert bei Dauerobstipation oft die Stuhlkonsistenz und ist praktisch frei von Nebenwirkungen. Auch Reizdarmpatienten mit wechselndem Stuhlgang sprechen gar nicht so schlecht darauf an. Da es keinen Gewöhnungseffekt gibt, kann er auch langfristig eingenommen werden.
? Was bedeutet «langfristig» in der Praxis?
Bei einer chronischen Verstopfung darf man Abführmittel viel länger geben als oft gedacht, denn die Umstellung dauert ein wenig. Das gilt für die meisten Abführmittel, vor allem die salinischen. Substanzen wie beispielsweise Macrogol (z. B. Laxipeg®, Movicol®,Transipeg®) oder Magnesium wirken ja rein osmotisch. Patienten mit chronischer Obstipation sollten jedoch wissen, dass sie keine übermässigen Erwartungen an salinische Abführmittel haben dürfen, was das rasche Einsetzen der Wirkung angeht. Die Stuhlfrequenz steigt nur langsam, und das Abführmittel muss lange genug genommen werden. Also nicht nach zwei Wochen enttäuscht absetzen, sondern ruhig einmal drei Monate nehmen lassen. Fühlen die Patienten sich darunter zwischenzeitlich unwohl und bleibt der Stuhl drei, vier Tage lang aus, kann man gegebenenfalls Natrium-picosulfat-Tropfen (Laxoberon®, Dulcolax® picosulfat) dazugeben. Die Tropfen helfen sehr gut, den Stuhlgang zu induzieren – stellen aber nicht die Basis einer Obstipationsbehandlung dar, denn bei stimulierenden Abführmitteln kann mit der Zeit ein Gewöhnungseffekt eintreten. Nach einer Pause wirken sie dann meist wieder.
? Ist es bei Opiatverstopfung eine Option,
Naloxon per os zu geben?
Das kann man machen, aber heute gibt es potentere Abführmittel für eine solche Situation, zum Beispiel Methylnaltrexon (Relistor®). Die Fortschritte in der Behandlung der Obstipation sind aber leider insgesamt nicht so gross wie erhofft. Die neuen Abführmittel können im Einzelfall helfen, aber erfahrungsgemäss ist ihr langfristiger Effekt im Vergleich zu
den osmotischen Abführmitteln nicht so viel stärker. Ich setze gern Linaclotid (Constella®) ein, einen GuanylatzyklaseC-Rezeptor-Agonisten. Dabei muss man berücksichtigen, dass es in der Schweiz nur die 290-µg-Dosierung gibt, die selbst bei Patienten mit Obstipation am Anfang zu Durchfall führen kann. Ich empfehle deshalb, langsam zu beginnen, das heisst, eine Gabe alle zwei bis drei Tage. In der Folge kann man die Dosis langsam bis zur täglichen Einnahme steigern.
? Was macht man bei einer Obstipation im
Zusammenhang mit Psychopharmaka?
Das ist ein ganz eigenes Thema, viele Psychopharmaka haben gastrointestinale Nebenwirkungen. Dazu kommt die psychiatrische Grunderkrankung, die das Empfinden und das Wahrnehmen von Störungen beeinflusst. Bei Patienten mit Depression und gastrointestinaler Anamnese muss man schon bei der Wahl des Antidepressivums potenziell potente Nebenwirkungen auf Magen und Darm bedenken beziehungsweise eine vorhandene Medikation gegebenenfalls überprüfen. Auch bei Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel Morbus Parkinson, können komplexe Störungen des vegetativen Nervensystems ebenfalls die Motilität des Intestinaltrakts beeinflussen. Auch Paraplegiker haben oft eine hartnäckige Obstipation, bei der Medikamente nicht ausreichen. Sie benötigen häufig ergänzend physiotherapeutische Massnahmen und Entspannungsübungen.
? Was ist zu tun, wenn ein Patient sagt, er habe
eine Nahrungsmittelallergie?
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass keine Nahrungsmittelallergie vorliegt. Deren Leitsymptom ist die allergische Reaktion. Dazu zählen laufende Nase, geschwollene Augen, Urtikaria, enorales Juckreizsyndrom bis hin zu anaphylaktischen Reaktionen – und diese Patienten sind eher beim Allergologen zu finden. Reizdarm, Durchfall und Bauchschmerzen sind bei Nahrungsmittelallergien meist primär nicht das Leitsymptom. Kreuzreaktionen sind möglich, aber in der Regel eher lästig als gefährlich. Ausserdem gibt es noch den Begriff der Nahrungsmittelunverträglichkeit. Dieser ist schlecht definiert: Bei Befragungen geben etwa 80 Prozent an, bestimmte Nahrungsmittel nicht zu vertragen, aber das muss nicht immer gleich eine Erkrankung sein. Etwas nicht essen zu können oder zu mögen, kann manchmal auch eine natürliche Schutzfunktion haben. Unverträglichkeiten werden heute oft mit Verdauungsbeschwerden assoziiert und können in eine Reiz-
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darmerkrankung übergehen, ohne dass eine kausale Verbindung zu einzelnen Nahrungsmitteln besteht.
? Was tun bei einem Verdacht auf Reizdarm?
Die Diagnose Reizdarm ist keine Ausschlussdiagnose. Für die funktionellen Beschwerden des Magen-Darm-Trakts gibt es mittlerweile die Konsensus-ROM-IV-Kriterien (siehe Kasten 1). Erforderlich für die Diagnose sind lang andauernde Beschwerden ohne Progression oder Alarmsymptome im Zusammenhang mit Nahrungszufuhr beziehungsweise Stuhlgang. Auch ernsthafte Organerkrankungen sollten ausgeschlossen werden. Entzündungen oder eine Anämie sind ebenfalls auszuschliessen. Wie intensiv man abklärt, ist abhängig von Begleiterkrankungen, dem genetischen Hintergrund und dem Alter des Patienten.
? Welche Blutuntersuchungen sollten in diesem
Zusammenhang gemacht werden?
Neben der Abklärung von Blutbild, CRP, Transaminasen und Entzündungswerten soll man grosszügig nach einer Zöliakie suchen. Eine bis anhin nicht diagnostizierte Zöliakie ist im Erwachsenenalter möglich und zuverlässig durch Transglutaminaseantikörper auszuschliessen. Aber man sollte daran denken, dass es auch eine antikörpernegative Zöliakie gibt. Sind die Antikörper negativ und besteht ein klinischer Verdacht, vielleicht auch ein Malabsorptionssyndrom mit einem Vitamin-B12-Mangel, kann eine endoskopische Untersuchung sinnvoll sein. Denn bleibt eine Zöliakie lange unerkannt, bildet sich ein klinisch relevantes Malabsorptionssyndrom aus.
Man muss sich aber der Tatsache bewusst sein, dass gerade Patienten mit Reizdarm häufig in einer akuten Situation, möglicherweise mit Gastroenteritis, zum Hausarzt kommen und eine leichte Erhöhung nicht unbedingt ein Reizdarmsyndrom ausschliesst. Der Calprotectinwert kann in vielen Situationen bei der Einschätzung helfen – wenn man die Skalierung kennt. Zu schnell wird oft vermutet, es sei bereits eine relevante Erhöhung des Calprotectins gegeben. Der Normwert ist mit 50 µg/g sehr niedrig angesetzt, da der Test ursprünglich zur Verwendung im Rahmen der Krebsvorsorge entwickelt wurde – wozu er nicht eingesetzt werden sollte. Dieser Normwert ist aber zur Einschätzung von Entzündungen eher tief angesetzt. Man kann davon ausgehen, dass bei IBD-Patienten ein Wert von unter 100 µg/g einer Remission entspricht, Werte von 100 bis 300 µg/g entsprechen einer Grauzone, und bei Werten zwischen 300 und 1000 µg/g liegt meist eine leichte Entzündung vor. Von einer starken Entzündung sollte man bei Morbus Crohn bei Werten über 1000 µg/g ausgehen. Wir bestimmen den Wert bei unseren Crohn-Patienten in Remission einmal jährlich zur Verlaufsbeobachtung.
? Soll man einen Ultraschall machen?
Nicht jeder Patient mit Reizdarm braucht einen Ultraschall. Aber in guten Händen kann das eine sehr sinnvolle Untersuchung sein. Der grosse Vorteil sind die Befundung durch einen Kliniker direkt am Patienten und die Möglichkeit, dabei sehr fokussiert vorzugehen, zum Beispiel bei der Lokalisation der Beschwerden. Auch Funktionsuntersuchungen sind möglich, wie bei Leistenhernien, die man im CT oft übersieht.
? Welchen Stellenwert haben Stuhluntersuchungen?
Stuhluntersuchungen werden häufig gemacht, ihr Ertrag ist meist relativ gering. Repetitive Stuhluntersuchungen sollten vermieden werden. Im Einzelfall darf beim Reizdarmsyndrom auch einmal nach Lamblien gesucht werden, eine Endoparasitose, die nicht so selten ist.
? Wie sieht es mit der Bestimmung von
Calprotectin aus?
Das Calprotectin kann helfen, zwischen entzündlichen Veränderungen und funktionellen Störungen zu differenzieren.
Kasten 1:
ROM-IV-Kriterien für die Diagnose eines Reizdarmsyndroms
Gemäss den ROM-IV-Kriterien müssen für die symptombasierte Diagnose eines Reizdarmsyndroms folgende Merkmale erfüllt sein: � wiederkehrende Abdominalschmerzen an durchschnittlich mindes tens 1 Tag pro Woche in den letzten 3 Monaten, assoziiert mit mindestens 2 der folgenden Zeichen:
– Zusammenhang mit der Stuhlentleerung – Änderung der Stuhlfrequenz – Änderung von Stuhlkonsistenz bzw. -aussehen
Der Beginn der Symptome sollte mindestens 6 Monate zurückliegen.
Quelle: nach Lacy BE et al.: Bowel Disorders. Gastroenterology 2016; 150: 1393–1407.
? Gibt es Neuigkeiten zur Therapie bei Reizdarm?
Leider gibt es immer noch keine kausale Therapie des Reizdarmsyndroms, und medikamentös ist nicht viel in der Pipeline. Es ist eine primär symptomatische Behandlung, orientiert am vordergründigen Symptom. Ist es der Durchfall, sind es die Schmerzen oder die Obstipation? Möglicherweise gibt es begleitende Optionen wie kognitive Therapien, Entspannungsmassnahmen, autogenes Training oder Hypnose. Ich persönlich gebe kaum Antidepressiva – ihre Wirkung ist sehr stark dosisabhängig, und sehr oft verursachen sie in niedriger Dosierung mehr Probleme, als sie nützen. Zudem ist die Akzeptanz der Patienten in dieser Situation nicht wirklich gut, sie fühlen sich häufig dadurch noch stärker stigmatisiert. Indiziert ist ein Antidepressivum hingegen, wenn eine psychiatrische Grundlage gegeben ist, eine Depression oder eine Angststörung. Solche Patienten sollten dann aber gemeinsam mit einem Psychiater behandelt werden.
? Wie diagnostiziert man eine Laktose-
intoleranz?
Zunächst muss festgehalten werden, dass es sich bei einer Laktoseintoleranz nicht um eine Erkrankung, sondern um einen natürlichen Zustand handelt. Es ist genetisch festgelegt, dass die Fähigkeit, Milchzucker zu verdauen, irgendwann reduziert wird, damit sich das Individuum nach der Stillphase auf eine andere Ernährung einstellt, und das geschieht in unterschiedlichem Ausmass. Auch Menschen mit Laktoseintoleranz können immer noch eine gewisse Menge Milchzucker verarbeiten und bis zu etwa 20 g Laktose am Tag problemlos verdauen.
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Kasten 2:
FODMAP
FODMAP steht für fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole (Zuckeralkohole). Es handelt sich dabei um eine Gruppe kurzkettiger Kohlenhydrate, zu denen Fruktose, Laktose, Fruktane und Galaktane sowie Sorbitol, Mannitol, Xylitol und Maltitol gehören. Alle FODMAP-Substanzen besitzen die gleichen charakteristischen Eigenschaften, die zu den für das Reizdarmsyndrom typischen abdominellen Beschwerden führen:
� Sie sind im Dünndarm schlecht resorbierbar.
� Sie sind aufgrund ihrer geringen Molekülgrösse osmotisch aktiv und können damit die Darmmotilität verändern.
� Sie werden im Kolon rasch durch bakterielle Zersetzung zu kurz kettigen Fettsäuren, Methan, Kohlendioxid und Wasserstoff meta bolisiert. Durch diese Fermentierungsprozesse kommt es zur Gas bildung, die zu Blähungen und – durch den gesteigerten Druck auf die Darmwand – zu abdominellen Schmerzen führt.
2005 wurde eine FODMAP-reduzierte Diät erstmals als mögliche therapeutische Massnahme bei Reizdarmbeschwerden vorgestellt. In weiteren randomisierten, kontrollierten Studien bestätigte sich, dass Patienten mit Reizdamsyndrom unter einer FODMAP-armen Diät signifikant weniger Beschwerden hatten. Im Sinne einer ausgewogenen Ernährung sollten die einzelnen Komponenten nach anfänglicher Restriktion jedoch nacheinander wieder eingeführt werden, im Versuch, die Substanz zu identifizieren, die für die Beschwerden verantwortlich ist.
Falls jemand als Kind problemlos Milchprodukte verzehren konnte, liegt mit grosser Wahrscheinlichkeit keine relevante primäre Laktoseintoleranz vor. Erworbene Formen sind meist transient. Patienten aus südlichen Regionen weisen bereits herkunftsgemäss eine fast 90-prozentige Wahrscheinlichkeit für eine Laktoseintoleranz auf. Der beste Praxistest ist ganz einfach: Was geschieht innerhalb von 30 Minuten nach dem Genuss von zwei Glas Milch? Eine Laktoseintoleranz kann mit Befindlichkeitsstörungen einhergehen, in der Regel ist bei Beschwerden eine laktosearme Ernährung ausreichend. Und das ist gar nicht so schwierig, viele Milchprodukte enthalten gar nicht mehr so viel Laktose. Hartkäse und mittelharter Käse enthalten keine oder kaum Laktose, Butter und Rahm enthalten kaum Laktose. Es
gilt, Milch und Milchfrischprodukte zu reduzieren oder auf laktosefreie Produkte zu wechseln. Die Lebensmittelindustrie hat eine grosse Auswahl an Alternativen im Angebot – es ist ratsam, diese einmal selbst auszuprobieren, damit man weiss, was man seinen Patienten empfiehlt. Menschen, die eine medizinische Ernährung brauchen, können gegebenenfalls im Bereich der selbst getragenen Medizinalkosten einen Abzug bei der Steuer geltend machen. Ebenfalls ganz wichtig ist es, daran zu denken, Kinder unter 15 Jahren mit Zöliakie bei der IV anzumelden.
? Wie weit sollte man sich bei der Ernährung
einschränken?
Häufig führen Patienten eine Vielzahl von Beschwerden auf Nahrungsmittel zurück – was so gar nicht stimmen muss. Aufpassen muss man bei denen, die sich selbst allzu stark einschränken, gegebenenfalls auf der Basis sinnloser und teurer paramedizinischer Untersuchungen. Manchmal hilft in einer solchen Situation eine gute Ernährungsberatung, wieder etwas mehr Sicherheit zu erlangen. Das FODMAP-Konzept (siehe Kasten 2) kann dazu beitragen, die Situation kurzfristig zu verbessern und herauszufinden, was vertragen wird und was nicht. Manchmal ist es nicht das Lebensmittel per se, sondern nur die Menge, die zu einer Reaktion führt.
? Welche Red Flags sollten hier noch erwähnt
werden? Was muss beachtet werden?
Am wichtigsten ist es, ab 50 zur Vorsorgedarmspiegelung zu
gehen. Auch Blutungen gelten als Red Flags, oft sind diese
aber gar nicht so einfach einzuschätzen. Das Vorgehen bei
Red Flags ist immer auf das Individuum und die Situation zu
beziehen, nicht jede Blutung bei jungen Personen braucht eine
Koloskopie. Bei einem Malabsorptionssyndrom oder einer
Anämie sollte weiter abgeklärt werden. Bei einer Gewichts-
abnahme sollte man nach veränderten Ernährungsgewohn-
heiten fragen, aber auch nach einem Karzinom in der Anam-
nese oder in der Familie. Ist eine Bestrahlung vorausgegangen,
kann das Risiko eines Zweitkarzinoms erhöht sein, in solchen
Situationen sollte man sicherlich in der Diagnostik weiter
voranschreiten und auch endoskopische und bildgebende
Untersuchungen veranlassen.
s
Die Fragen und Antworten wurden von Christine Mücke zusammengestellt.
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