Transkript
GASTROENTEROLOGIE
Chronische Obstipation
Sorgfältige Abklärung verbessert Resultat
Abklärung und Therapie der vermeintlich banalen Obstipation können mitunter zur Herausforderung werden. Wichtig sind dabei die Anamnese und die digitale rektale Untersuchung. Woran dabei alles zu denken ist, erklärte Dr. Henriette Heinrich, Oberärztin Gastroenterologie, Stadtspital Triemli, Zürich, am Forum für medizinische Fortbildung (FOMF), Allgemein- und Innere Medizin, in Basel.
Obstipation ist ein Volksleiden. Die Prävalenz in der Bevölkerung liegt bei 2 bis 10 Prozent, bei hospitalisierten Patienten ist die Dunkelziffer noch höher. Der Einfluss auf die Lebensqualität ist sehr gross, die damit verursachten Kosten auch. Die Patienten versuchen erst mit Hausmitteln eine Besserung herbeizuführen. Erst wenn das keinen Erfolg bringt, suchen sie den Hausarzt auf. Hier lauert ein weiteres Problem: Der Arzt definiert die Obstipation über die Stuhlfrequenz, Patienten dagegen über die Symptome wie etwa die inkomplette Entleerung trotz Pressen, harten Stuhl, Blähungen sowie auch digitales Ausräumen (1). Symptome der chronischen Obstipation und des Reizdarms vom Verstopfungstyp (IBS-C) können dabei erheblich überlappen.
Ausführliche Anamnese von Vorteil
Gründe für eine Obstipation können beispielsweise in einer langsamen Transitzeit wie auch in strukturellen und funktionellen Entleerungsstörungen zu finden sein, aber mitunter auch in der Medikationsliste. Neurologische wie auch metabolische Störungen wie etwa der Diabetes mellitus können ebenfalls zu einer Obstipation führen. Wichtig sind bei der Anamnese Fragen nach der Stuhlfrequenz und -konsistenz (Bristol Stool Score), Toilettengewohnheiten, Warnzeichen wie Anämie, Frischblut im Stuhl, schwarzer Stuhl oder Schleim. Die Kindheitsanamnese gibt Aufschluss darüber, ob das Problem schon früher bestanden hat, eine gynäkologische Anamnese mit der Frage nach der Anzahl Geburten
KURZ & BÜNDIG
� Bei leichter Obstipation sind Lebensstilmodifikation, Ernährungsberatung und Laxanzien angezeigt.
� Bei Scheitern von konventionellen Massnahmen braucht es weitere Abklärungen und den Einsatz der neuen Laxativa.
� Schwere therapierefraktäre Fälle sollten zur weiteren Evaluation der gastroenterologischen Sprechstunde zugewiesen werden.
kann ebenfalls hilfreich sein. In der Sozialanamnese sollte die Frage nach den Arbeitszeiten nicht fehlen: Schichtarbeiter sind häufig verstopft. Eine allfällige Einnahme von Opiaten, Diuretika, Anticholinergika sowie freiverkäuflichen Laxativa sind ebenfalls wichtige Informationen. Die körperliche und insbesondere die digitale rektale Untersuchung dient zum Ausschluss einer lokalen Pathologie wie Fissuren oder einer Malignität. Tief sitzende kolorektale Karzinome lassen sich so ertasten, ebenso Rektozelen, deren Grösse aber nicht unbedingt mit dem Beschwerdebild korrelieren müssen, so Heinrich. Je nach Alter des Patienten empfiehlt sich ausserdem eine Vorsorgekoloskopie. Die Diagnose beruhe demnach auf der Anamnese, dem Ausschluss eines Malignoms und der Beurteilung der anorektalen Funktion, fasst die Gastroenterologin zusammen. Mit Symptom-Scores, die nach der Qualität und dem Umgang mit der Obstipation fragen und von den Patienten selbst ausgefüllt werden, kann die Problematik gut erfasst werden.
Weitere Untersuchungen
Die Beurteilung der Stuhlentleerung erfolgt zum Beispiel mit einem Ballon-Expulsionstest, einer Proktografie oder einer MRI-Defäkografie. Der Analsphinkterdruck kann mit der Analmanometrie gemessen werden. Die rektale Sensitivität lässt sich mit einem langsam aufzublasenden Ballon testen. Eine chronische Obstipation kann beispielsweise Ausdruck einer Fehlfunktion des Sphinkterapparates (Klemmen, Pressen) mit funktionellen Störungen des Stuhlentleerungsprozesses sein wie beispielsweise beim Anismus, bei dem die Pressfunktion mangelhaft ist. Der Patient klemmt, wenn er eigentlich pressen sollte, so Heinrich. Diese funktionelle Entleerungsstörung kann durch Verletzungen im Analkanal, Analfissuren wie auch sexuellen Missbrauch entstehen. Die Frage nach der Grösse des Rektums wird mit einer Barostatmessung beantwortet, die in spezialisierten Zentren durchgeführt wird. Die Messung der Transitzeit im Darm, bei der der Patient zuvor röntgendichte Kügelchen in Gela tinekapseln schluckt und deren Passage und Verteilung mittels wiederholter Röntgenaufnahmen verfolgt werden kann, dient der Aufdeckung einer möglichen Darmträgheit. Eine Transitzeit von 72 Stunden gilt dabei als normal.
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GASTROENTEROLOGIE
Obstipation
Gründliche Anamnese + klinische Untersuchung + digitale rektale Untersuchung
Alarmsymptome: s unerklärter Gewichtsverlust s Blut im Stuhl s Alter < 50 Jahre Ja Nein Abklärung und adäquate Behandlung IBS-C Chronische Obstipation Lebensstilmodifikation, pflanzliche Fasern, Laxativa inklusive Polyethylenglykol Keine Besserung Linaclotid oder Lubiproston erwägen Kolonoskopie erwägen Abbildung: Behandlungsalgorithmus bei chronischer Obstipation (4) Keine Besserung Tests der Kolon- und anorektalen Funktion erwägen ± Kolonoskopie In eine Obstipationsdiagnose sollten immer mehrere Tests einfliessen, da jeder einzelne Test immer nur einen Teilbereich erschliesst. In der Zusammenschau kann die Ursache oft gefunden werden. Es gibt auch praktisch keine Normwerte, da es nur sehr wenige Studien gibt, für die sich gesunde Freiwillige einer Defäkografie unterzogen haben, so Heinrich. Therapie der Obstipation Liegt zum ersten Mal eine Obstipation seit etwa sechs Wochen ohne Warnzeichen vor, besteht der erste Therapieversuch in der Gabe von Quell- beziehungsweise Ballaststoffen. Eine digitale rektale Untersuchung sollte jedoch in jedem Fall erfolgen, eine Kolonoskopie nur bei Warnzeichen. Der Patient soll hinsichtlich Lebensstilmodifikationen beraten werden. Dazu gehört ein regelmässiger Toilettengang, regelmässige Mahlzeiten, genügend Flüssigkeit und körperliche Betätigung. Falls dies keinen Erfolg bringt, ist ein Versuch mit Laxanzien angebracht. Quellmittel (z.B. Sterculiagummi, Flohsamen) erhöhen das Stuhlvolumen und machen den Stuhl weicher. Osmotisch wirksame Laxanzien wie Marcogol, Salze (Magnesiumsalze, Phosphate) und Zucker (Lactulose, Sorbitol, Lactitol etc.) wirken vor allem im Kolon und binden das Wasser im Stuhl. Stimulierende Laxanzien wie Antrachinone (Senna), Bisacodyl und Natriumpicosulfat wirken auf den Plexus myentericus und hemmen einerseits die Flüssigkeitsretention aus dem Dünn- und Dickdarm und induzieren andererseits dosis abhängig eine Sekretion. Bringen diese Laxanzien einzeln oder in Kombination keinen Erfolg, sind die neueren Prokinetika eine Option: der Serotoninrezeptoragonist Prucaloprid, der Chloridkanal-Aktivator Lubiproston oder der Guanylat-Cyclase-C-Rezeptoragonist Linaclotid, der beim obstipationsbetonten Reizdarm (IBSC) zugelassen ist. Eine gemeinsame störende Nebenwirkung dieser drei prokinetischen Substanzklassen ist das Auftreten von Durchfall, der anfänglich stark ist. In diesem Fall kann eine Dosisreduktion oder eine Intervallverlängerung (jeden 2. Tag) die Lösung sein, so Heinrich. Es ist auch möglich, diese Substanzen nur nach Bedarf einzusetzen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Biofeedbacktherapie, die gemäss Heinrich besonders bei einer funktionellen Entleerungsstörung(z.B. Anismus) einen hohen Wert hat. «Diese Patienten verbessern sich», so Heinrich. Auch Einläufe sind für Patienten, die damit umgehen können, eine gute Option. Darmperforationen ereignen sich verhältnismässig selten (1:50 000 Irrigationen [2, 3]). 12 ARS MEDICI DOSSIER VI | 2019 GASTROENTEROLOGIE Tabelle 2: Medikamente gegen Verstopfung (Auswahl) Substanzklasse Substanzen Quellstoffe indische Flohsamen (Metamucil®, Laxiplant®), Sterculia-Gummi (Colosan®) Osmotika Macrogol (Laxipeg®, Isocolan®, Macrogol- Mepha®, Macrogol Sandoz®, Molaxole®, Movicol®, Paragar Macrogol®, Transipeg®) Magnesiumsulfat, Natriumsulfat, Magnesiumsalze Stimulierende Anthrachinone (z.B. Senna) Laxanzien Bisacodyl (z.B. Dulcolax® Bisacodyl) Natriumpicosulfat (z.B. Dulcolax® Picosulfat, Laxoberon®, Picoprep®) Sekretagoga Linaclotid (Axulta®, Constella®) Lubiproston (Amitiza®) Prokinetika Prucaloprid (Resolor®) PAMORA (peripherally Methylnaltrexon acting µ-opioid receptor antagonist) Naloxegol (Moventig®) Quelle: www.swissmedicinfo.ch Indikation Obstipation Obstipation Obstipation Obstipation Obstipation Reizdarmsyndrom mit Obstipation (IBS-C) chronische idiopathische Obstipation chronische idiopathische Obstipation opiatinduzierte Obstipation opiatinduzierte Obstipation Dosierung je nach Präparat je nach Präparat je nach Präparat je nach Präparat je nach Präparat 1 � 290 µg 30 min vor dem Essen 2 � 24 µg pro Tag 1 � 1–2 mg pro Tag 8–12 mg s.c. bei Bedarf 1 � 25 mg pro Tag Hilft alles nicht, wie so oft bei einer Slow-Transit-Obstipa- tion, sollten weitere Abklärungen erfolgen. Dies im Hinblick auf eine mögliche Neuropathie, eine Aganglionose oder eine Störung der ganzen gastrointestinalen Motilität, so Heinrich abschliessend. s Valérie Herzog Quelle: «Obstipation», FOMF Allgemeine Innere Medizin, 30. Januar bis 2. Februar 2019 in Basel. Referenzen: 1. Pare P et al.: An epidemiological survey of constipation in canada: defi nitions, rates, demographics, and predictors of health care seeking. Am J Gastroenterol 2001; 96: 3130. 2. Christensen P et al.: Outcome of transanal irrigation for bowel dys function in patients with spinal cord injury. J Spinal Cord Med 2008; 31: 560–567. 3. Christensen P et al.: Long-term outcome and safety of transanal irri gation for constipation and fecal incontinence. Dis Colon Rectum 2009; 52: 286–292. 4. Rao SS et al.: Diagnosis and management of chronic constipation in adults. Nat Rev Gastroenterol Hepatol 2016; 13: 295–305. ARS MEDICI DOSSIER VI | 2019 13