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DIABETES
Früh erkennen, rechtzeitig gegensteuern!
Diagnostik und Therapie der diabetischen Neuropathie
Die diabetische Neuropathie zählt zu den häufigsten mikrovaskulären Störungen bei Diabetikern und wird oft erst spät diagnostiziert. Rund jeder dritte Diabetiker erkrankt an der Nervenfunktionsstörung. Verminderte Reizwahrnehmung, Kribbeln und Ameisenlaufen in den Füssen sowie neuropathische Schmerzen sind typische Symptome. Die Früherkennung ist eine wichtige Voraussetzung, um die Progression der Nervenschädigung aufhalten zu können und schwerwiegende Komplikationen wie ein diabetisches Fusssyndrom zu vermeiden.
Hilmar Stracke
Diabetes mellitus ist in den Industrieländern die wichtigste Ursache für die Entwicklung einer Neuropathie. Am häufigsten ist die distale sensomotorische Polyneuropathie (DSPN), die nach axonaler Nervenschädigung bereits in einem frühen Diabetesstadium auftreten kann. Aber auch die Markscheide betreffende, demyelinisierende Neuropathien können, meist im späteren Stadium, zur DSPN führen (1). Häufige Symptome sind symmetrische Gefühlsstörungen in Füssen und Zehen (strumpfförmig), oft zusätzlich auch in den Händen (handschuhförmig). Selten kommt es zu fokalen und multifokalen Neuropathien, die es differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen gilt (darunter auch Engpasssyndrome wie Karpal- und Tarsaltunnelsyndrom).
MERKSÄTZE
Eine diabetische Neuropathie ist bei Diabetikern häufig und kann auch bereits im Frühstadium der Erkrankung auftreten.
Zur Früherkennung ist ein regelmässiges Screening erforderlich.
Um ein Fortschreiten der Nervenschäden zu verhindern und die Symptomatik zu verringern, sollten alle Möglichkeiten der Intervention genutzt werden. Dazu zählen Optimierung der Blutzuckereinstellung, Kontrolle weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren, gesunder Lebensstil und Blockade pathogener Stoffwechselwege.
Eine zentrale Stellung nimmt im Management von Polyneuropathien der Ausgleich eines Vitamin-B1-Mangels ein, der Neuropathien und Gefässschäden fördert. Zum Ausgleich des Defizits wird bevorzugt das hoch bioverfügbare ThiaminProdrug Benfotiamin angewendet, das auch zur Symptomlinderung beiträgt.
Eine antioxidative Therapie mit Alpha-Liponsäure ist ein weiterer pathogenetisch begründbarer therapeutischer Ansatz.
Manifestationen und Symptome
Typische Symptome einer DSPN sind Minderwahrnehmung von sensiblen Reizen, zum Beispiel Vibrations-, Druck- und Temperaturempfindung, vor allem in den unteren Extremitäten, Reflexabschwächung und motorische Symptome wie leichte Lähmungen und Muskelkrämpfe. In fortgeschritteneren Stadien kommen oft als brennend empfundene Schmerzen hinzu, die in Verbindung mit einer Allodynie (Wahrnehmung von normalerweise nicht schmerzhaften Reizen als Schmerzen) häufig zu Schlafstörungen führen. Neben der peripheren kann auch eine autonome diabetische Neuropathie in unterschiedlichen Organsystemen auftreten (Tabelle). Zum Beispiel kann eine Schädigung der Nerven am HerzKreislauf-System (autonome kardiale Neuropathie) zu Reizleitungsstörungen und verminderter Herzfrequenzvariabilität führen oder eine Schädigung der Nerven im Gastrointestinaltrakt mit Motilitätsstörungen oder dyspeptischen Symptomen einhergehen. Koinzidenzen beider Formen diabetischer Neuropathien bestehen bei bis zu 50 Prozent der Betroffenen (2).
Häufigkeit und Risikofaktoren
Die Prävalenz einer DSPN wird laut Literaturdaten bei Typ-1- und -2-Diabetikern im Mittel auf rund 30 Prozent geschätzt (2). Aktuelle Daten der PROTECT-Studie (4) im Rahmen der nationalen Aufklärungsinitiative «Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füsse?» deuten allerdings darauf hin, dass diese Zahl vermutlich noch zu niedrig gegriffen ist. Bei etwa der Hälfte der Untersuchten, darunter sogar viele Nichtdiabetiker, wurde eine DSPN nachgewiesen, und die meisten von ihnen wussten noch gar nichts von ihrer Nervenerkrankung. Zu den Risikofaktoren für eine DSPN zählen neben Diabetes mellitus, Diabetesdauer und schlechter Blutzuckerkontrolle auch ungünstige Ernährung, Vitamin-B1-Mangel, körperliche Inaktivität, Übergewicht, Alkohol- oder Tabakmissbrauch, hoher Blutdruck und Begleiterkrankungen mit negativem Einfluss auf das Nervensystem (z.B. Nierenerkrankungen oder indirekt neurotoxische Medikation).
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DIABETES
Tabelle:
Mögliche Organmanifestationen einer autonomen diabetischen Neuropathie (2)
Kardiovaskuläres System Gastrointestinaltrakt
Urogenitaltrakt
Neuroendokrines System
Störungen der Sudomotorik Vasomotorenstörung Trophik Respiratorisches System Pupillomotorik
Ruhetachykardie, reduzierte Herzfrequenzvariabilität, Belastungsintoleranz, perioperative Instabilität, QT-Verlängerung, orthostatische Hypotonie, verminderte bzw. fehlende Wahrnehmung von Myokardischämien Dysphagie, gastroösophageale Refluxkrankheit, diabetische Gastropathie (dyspeptische Symptome, postprandiale Hypoglykämie), diabetische Cholezystopathie, diabetische Diarrhö, Hypomotilität von Dun̈ n- und/oder Dickdarm mit Obstipation, chronische intestinale Pseudoobstruktion, anorektale Dysfunktion (meist Stuhlinkontinenz) Diabetische Zystopathie (Harnblasenentleerungsstörung), männliche Sexualstörungen (z.B. erektile Dysfunktion, retrograde Ejakulation), Sexualstörungen der Frau Hypoglykämieassoziierte autonome Dysfunktion (Reduktion bzw. Fehlen der hormonellen Gegenregulation, verminderte Katecholaminsekretion im Stehen und unter körperlicher Belastung, Störung der Hypoglykämiewahrnehmung) Dyshidrose, Anhidrose («trockene Fus̈ se»), gustatisches Schwitzen
Überwärmte Haut, neuropathisches Ödem, orthostatische Hypotonie Neuropathisches Ulkus, Neuroosteoarthropathie (DNOAP bzw. Charcot-Arthropathie) Zentrale Fehlregulation der Atmung mit herabgesetztem Atemantrieb gegenub̈ er Hyperkapnie bzw. Hypoxämie, Schlafapnoe, Atemstillstand Pupillenreflexstörungen, verminderte Dunkeladaption
Diagnostik
Um eine Neuropathie zu objektivieren, werden Temperaturempfinden (mittels Tip Therm®, Abbildung 1) sowie Druckbeziehungsweise Berührungsempfinden (10 g Monofilament, Abbildung 2) und Vibrationswahrnehmung (128-Hz-Stimmgabel) der Füsse überprüft. Von einer möglichen leichten distalen DSPN ist auszugehen, wenn einer der drei Tests auffällig ist; bei zwei von drei auffälligen Tests liegt wahrscheinlich eine mässige und bei drei positiven Tests eine schwere DSPN vor (3). Ausgewertet wurden in der PROTECT-Studie bisher die Ergebnisse von insgesamt 1850 Teilnehmern, darunter 943 Typ-2Diabetiker, 126 Typ-1-Diabetiker und 781 Nichtdiabetiker (4). Eine DSPN wurde bei 55 Prozent der Typ-2-Diabetiker, bei 44 Prozent der Typ-1-Diabetiker und bei 48 Prozent der Nichtdiabetiker festgestellt. Zum hohen Anteil unter Nichtdiabetikern haben vermutlich bisher nicht diagnostizierte Glukosestoffwechselstörungen beigetragen. Bei 35 Prozent von ihnen wurde bei der HbA1c-Messung ein Prädiabetes, bei fast 4 Prozent sogar ein manifester Diabetes nachgewiesen.
Abbildung 1: Fusscheck: Druckemp- Abbildung 2: Fusscheck: Tempera-
findlichkeit (10 g Monofilament)
turempfinden (Tip Therm®)
Obwohl rund zwei Drittel der Personen mit nachgewiesener DSPN Brennen und/oder Schmerzen in den Füssen angaben, wussten die meisten nichts von ihrer Neuropathie. Unter den Teilnehmern mit bekanntem Typ-2-Diabetes betrug der Anteil ca. 70 Prozent, unter Nichtdiabetikern 75 Prozent (Abbildung 3). Rund ein Viertel bis 30 Prozent der Betroffenen hatten eine schmerzlose DSPN, rund 15 Prozent eine atypische DSPN mit Schmerzen nur beim Gehen. Parästhesien beziehungsweise Taubheitsgefühl an den Füssen waren die häufigsten Symptome, Schmerzen nahmen in der Regel mit dem Schweregrad der Neuropathie zu. Bei Typ-2-Diabetikern korrelierte zudem eine schmerzhafte DSPN mit einem höheren Body-Mass-Index (BMI), während eine schmerzlose DSPN gehäuft mit niedrigerem BMI einherging. Darüber hinaus wurde bei Typ-2-Diabetikern die schmerzhafte und bei Nichtdiabetikern die schmerzlose DSPN mit einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) assoziiert.
Jährliches Neuropathiescreening
Diese Daten machen deutlich, dass die Aufklärung über Neuropathie verbessert und die Empfehlungen zum regelmässigen Neuropathiescreening unbedingt befolgt werden sollten. Ein Screening auf sensomotorische und/oder autonome diabetische Neuropathie wird bei Typ-2-Diabetikern zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und bei Patienten mit Typ-1Diabetes spätestens fünf Jahre nach Diagnosestellung empfohlen (2). Das Screening sollte eine ausführliche Anamnese, eine Inspektion der Füsse, die Abklärung einer pAVK und einfache neurologische Tests wie die Prüfung des Achillessehnenreflexes sowie von Vibrations-, Druck- und Berührungsempfinden der Füsse umfassen (beidseits!). Sind die Ergebnisse negativ, sollte einmal jährlich ein Neuropathiescreening erfolgen. Bei einem Verdacht auf das Vorliegen einer Neuropathie wird eine Basisdiagnostik mit einer umfassenderen klinischen
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Aufklärungsinitiative «Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füsse?»
DIABETES
Prozent
100 n Kein DM (n = 218) n Typ 1 DM (n = 30) n Typ 2 DM (n = 293)
90 80 75,2 70
69,9 69,1
84,3 81,9
60 53,3 50
57,0 46,7
55,6
40
30
20
10
0 DSPN gesamt
Schmerzhafte DSPN
Schmerzlose DSPN
Abbildung 3: Anteile einer zuvor nicht diagnostizierten Neuropathie bei Teilnehmern mit DSPN in der PROTECT-Studie (4)
Untersuchung von Beinen und Füssen sowie einfachen neurologischen Tests empfohlen (Neuropathie-Symptom-Score [NSS], Neuropathie-Defizit-Score [NDS]). Als Minimalkriterien für die Diagnose gelten: L mässig ausgeprägte neurologische Defizite (NDS 6–8
Punkte) mit oder ohne Beschwerden oder L leichte neurologische Defizite (NDS 3–5 Punkte) mit mässig
ausgeprägten Beschwerden (NSS 4–6 Punkte) (2). Die Motorik wird getestet durch die Kontrolle der Spreizfähigkeit der Zehen, die Widerstandsprüfung der Streckung (Zehengang) sowie Beugung von Zehen (Krallen) und Füssen sowie die Testung des Fersengangs. Kann die Verdachtsdiagnose einer Neuropathie so nicht gesichert werden und gibt es keine andere Erklärung für die Symptomatik (z.B. pAVK), sollten die Patienten an einen Spezialisten überwiesen werden, der weiterführende Untersuchungen (Elektroneurografie und/ oder quantitative sensorische Testung) vornehmen kann. Durch adäquate Behandlung, am besten im Frühstadium einer diabetischen Neuropathie, können das Fortschreiten der Erkrankung und damit auch mögliche schwere Folgekomplikationen verhindert werden. Besonders gefürchtet sind diabetische Fussulzera, die durch eine Neuropathie an den Füssen begünstigt werden. Jährlich erfolgen in Deutschland mehr als 29 000 Amputationen bei Diabetikern, die auf das diabetische Fusssyndrom zurückzuführen sind (5).
Therapie ruht auf drei Säulen
Bei der Therapie der diabetischen Polyneuropathie hat sich ein 3-Säulen-Schema etabliert (Abbildung 4): 1. Optimierung der Blutzuckereinstellung, Kontrolle weiterer
kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Hypertonie und Hyperlipidämie und Lebensstilinterventionen. Empfohlen werden ein Verzicht auf Alkohol und Nikotin sowie viel körperliche Bewegung. Der günstige Einfluss einer optimierten Blutzuckereinstellung auf den DSPN-Verlauf konnte bisher allerdings nur für Typ-1-Diabetiker eindeutig belegt werden. In der DCCT-Studie zum Beispiel reduzierte eine normnahe Diabeteseinstellung das Auftreten einer klinischen Neuropathie um 69 Prozent (p = 0,006) nach fünf Jahren im Vergleich zur Kontrollgruppe (6). Die Progression der Neuropathie konnte um 57 Prozent gebremst
werden. Hierfür war nicht die Therapieform, sondern der erreichte HbA1c-Wert entscheidend. Die Studiendaten bei Typ-2-Diabetikern zur neuroprotektiven Wirkung einer guten Blutzuckereinstellung sind nicht eindeutig. 2. Blockierung pathogener Stoffwechselwege, die durch Hyperglykämie aktiviert werden. Einen hohen Stellenwert hat dabei die Gabe von Benfotiamin. Das fettlösliche Prodrug von Thiamin (Vitamin B1) hemmt pathogene Stoffwechselwege, die zur Entstehung von Neuropathien und Gefässschäden beitragen wie den Hexosaminstoffwechsel, die verstärkte AGE-(advanced glycation end-products-)Bildung und die Aktivierung der Proteinkinase C (7). Als weiterer pathogenetisch begründbarer therapeutischer Ansatz gilt die antioxidative Therapie mit Alpha-Liponsäure (Thioctsäure). 3. Symptomatische schmerzlindernde Therapie. Bewährt haben sich bei neuropathischen Schmerzen vor allem Antikonvulsiva, Antidepressiva, langwirkende Opioide und topische Präparate wie Lidocain oder Capsaicin. Die Kombination von 2 oder 3 Wirkstoffen kann sinnvoll sein. Empfehlenswert ist die Kombination von nicht medikamentösen Massnahmen mit einer pathogenetisch begründeten Basistherapie plus symptomatischer Schmerzbehandlung.
Ausgleich eines Vitamin-B1-Mangels
Ein ausreichend hoher Vitamin-B1-Status ist bei der Therapie einer diabetischen Neuropathie von hoher Bedeutung. Durch eine Supplementation der Thiaminvorstufe Benfotiamin können bereits vorhandene schmerzhafte und sensorische Neuropathiesymptome gelindert werden. Bei Diabetikern ist eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B1, das zum Schutz des Nervensystems beiträgt, häufig nicht gewährleistet. Denn der Vitamin-B1-Bedarf erhöht sich im Zustand der Hyperglykämie. Gefördert wird der Vitamin-B1-Mangel bei Diabetikern zudem durch die erhöhte Thiaminexkretion über die Niere (8, 9). In einer britischen Studie waren die Thiaminplasmaspiegel bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern um rund drei Viertel niedriger als bei gesunden Kontrollpersonen (im Schnitt 15,3 bzw. 16,3 nmol/l vs. 64,1 nmol/l) (Abbildung 5) (8). Auch reichliche Zufuhr von Alkohol, Kaffee, schwarzem und grünem Tee, von Sulfiten (z.B. Trockenobst) oder von rohem Fisch (enthält Thiaminase) kann die Resorption von Vitamin B1 vermindern beziehungsweise das Vitamin deaktivieren. Weitere Risikofaktoren für einen ausgeprägten Vitamin-B1Mangel sind Darmerkrankungen und bariatrische Operationen. Der Tagesbedarf an Vitamin B1 liegt nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (10) bei Erwachsenen zwischen 1,1 (≥ 65-Jährige) und 1,3 mg/Tag (19- bis 25-Jährige, Schwangere, Stillende) und kann in der Regel über natürliche Quellen (Getreide, Hülsenfrüchte, Fleisch, Gemüse) gut gedeckt werden. Nach Zahlen der Nationalen Verzehrsstudie 2 liegt der Median der Vitamin-B1-Zufuhr in Deutschland bei Männern bei 1,6 mg/Tag und bei Frauen bei 1,2 mg/Tag (11). Allerdings erreichen rund jeder fünfte Mann und jede dritte Frau die empfohlene tägliche Zufuhr von Vitamin B1 nicht. Dieser Anteil ist bei den Männern in allen Altersgruppen etwa gleich hoch. Bei den Frauen steigt der Anteil derjenigen, die den Referenzwert für Vitamin B1 nicht erreichen, von 25 Prozent im Alter von 14 bis 18 Jahren auf 40 Prozent im Alter von 65 bis 80 Jahren (8).
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DIABETES
Therapie
Säule I
LifestyleÄnderung
Optimierung der Blutzucker-
einstellung
Säule II
Blockierung pathogener Stoffwechsel-
wege
(Benfotiamin, Alpha-
Liponsäure)
Säule III
Symptomatische Therapie
(cave! Nebenwirkungen)
Diabetische Neuropathie
Abbildung 4: 3-Säulen-Therapieschema bei diabetischer Polyneuropathie
(Quelle: modifiziert nach Reiners K, Stracke H)
Folgen des Vitamin-B1-Mangels
Die Symptomentwicklung verläuft bei einem Vitamin-B1Mangel schleichend, die Speicherung von Vitamin B1 im Körper (ca. 20–40 mg, v. a. in Hirn, Leber, Muskel, Niere) reicht nur für zirka drei Wochen aus. Zu den Folgen eines anhaltenden Vitamin-B1-Mangels zählen – neben dem Vollbild BeriBeri bei schwerem Mangel und weiteren internistischen Symptomen (Kardiomyopathie, Tachykardie, Magen-DarmStörungen) – Schäden im peripheren und zentralen Nervensystem. Neue Studien belegen auch die wichtige Rolle von Vitamin B1 im Hirnstoffwechsel (12) und weisen auf einen Zusammenhang zwischen dem Nachweis inaktiver Thiaminmetabolite im Blut und Morbus Alzheimer hin (13). Im Körper wird Vitamin B1 in Thiamindiphosphat umgewandelt, die biologisch aktive Form des Vitamins. Studien zufolge wirkt Vitamin B1 nicht nur einer Neuropathie entgegen. Mit hochdosiertem Thiamin wurde in einer Studie bei Diabetikern mit Mikroalbuminurie die Proteinausscheidung verringert (14) und mit der Thiaminvorstufe Benfotiamin im experimentellen Setting eine diabetische Retinopathie verhindert (7). Zudem gibt es erste Hinweise für einen Schutzeffekt von Vitamin B1 vor Demenz. In einer kleinen Pilotstudie bei Patienten mit Alzheimer-Demenz besserte sich unter der Gabe von Benfotiamin die Kognition.
Therapeutische Effekte
Zum Ausgleich eines Vitamin-B1-Mangels und zur Vorbeugung/Therapie von damit assoziierten Neuropathien ist das fettlösliche Prodrug Benfotiamin besser geeignet als wasserlösliche Thiaminsalze. Denn während das Prodrug leicht passiv über Diffusion aufgenommen werden kann, muss Thiamin bei oraler Anwendung aktiv resorbiert werden. Neue Messungen belegen, dass bei Gabe von Benfotiamin im Blut und vor allem intrazellulär höhere Konzentrationen von Thiamindiphosphat erzielt werden als bei Anwendung von wasserlöslichen Thiaminsalzen (15, 16). Die Wirksamkeit von Benfotiamin bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie wurde in Studien belegt. In einer sechswöchigen plazebokontrollierten Studie bei 165 Patienten mit DSPN war der NSS bei Studienende in der Per-Protokoll-Analyse bei Patienten unter hoch dosiertem Benfotiamin (Wirkstoff in milgamma® protekt, 600 mg täglich) signifi-
kant verringert. Unter den Beschwerden der Patienten verringerte sich das Symptom Schmerzen am stärksten. Die Verbesserungen waren ausgeprägter bei hoch dosierter Therapie (600 mg vs. 300 mg täglich) und nahmen mit zunehmender Studiendauer zu (17). Ähnliche Ergebnisse wurden in einer weiteren plazebokontrollierten Studie über drei Wochen bei insgesamt 40 Diabetikern mit Polyneuropathie erzielt, die mit täglich 400 mg Benfotiamin behandelt wurden (18). Benfotiamin ist sehr gut verträglich. Aufgrund des Ausgleichs eines bei Diabetikern häufig auftretenden Vitamin-B1-Mangels und der positiven Beeinflussung der diabetischen Neuropathie bietet Benfotiamin Diabetikern einen umfangreichen Schutz.
Körpereigene Substanz Alpha-Liponsäure
Ein weiterer Ansatz einer pathogenetisch begründeten Therapie ist die Gabe von Alpha-Liponsäure, Koenzym bei oxidativer Decarboxylierung von Alpha-Ketosäuren. Alpha-Liponsäure ist Bestandteil des Pyruvatdehydrogenasekomplexes, sodass eine enge Beziehung zu Thiamin, zum Glukosestoffwechsel und zum Energiehaushalt der Zellen besteht. Sowohl die antioxidativen Eigenschaften als auch die Optimierung der Energieversorgung von Nervenzellen erklären die in verschiedenen klinischen Studien nachgewiesene positive Wirkung von Alpha-Liponsäure bei der diabetischen Polyneuropathie. Sowohl für die intravenöse als auch für die orale Applikation von Alpha-Liponsäure wurde eine Reduktion neuropathischer Symptome nachgewiesen (19, 20). Benfotiamin und Alpha-Liponsäure ergänzen sich in ihren Wirkmechanismen (21), sodass durch eine Kombination dieser beiden Substanzen eine Optimierung der Wirksamkeit bei diabetischer Polyneuropathie zu erwarten ist. In einer vierwöchigen Studie bei Typ-1-Diabetikern wurden mit der Kombinationstherapie (2-mal 300 mg Benfotiamin, 2-mal 600 mg Alpha-Liponsäure täglich) Marker hyperglykämieinduzierter Stoffwechselwege verringert (22).
Individuelle Schmerztherapie
Bei Diabetikern mit Polyneuropathien und neuropathischen Schmerzen ist eine individuelle Schmerztherapie nötig, mit der möglichst früh begonnen werden sollte. Die Kontrolle neuropathischer Schmerzen ist eine Herausforderung. Als realistisches Ziel der Therapie gilt eine Schmerzreduktion um 30 bis 50 Prozent auf der visuellen Analogskala (2). Substanzen mit renalen und kardiovaskulären Langzeitrisiken wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) und Coxibe sind bei der Therapie neuropathischer Schmerzen zu vermeiden. Am häufigsten eingesetzt werden Antikonvulsiva wie Pregabalin, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Duloxetin und Venlafaxin, trizyklische Antidepressiva sowie atypische Opioide wie Tramadol. Stärkste neuropathische Schmerzen können den Einsatz starker Opioide wie Oxycodon erfordern. Alternativen zur systemischen Schmerztherapie sind Capsaicin beziehungsweise Lidocain, eventuell Botulinumtoxin. Der Algorithmus der medikamentösen Schmerztherapie wird derzeit überarbeitet. Die Wirksamkeit der Pharmakotherapie sollte bei adäquater Dosis frühestens nach zwei Wochen beurteilt werden. Bei Wirkungslosigkeit sollte die Therapie abgesetzt werden. Sorgfältig beachtet werden sollten bei der systemischen Therapie der DSPN das hohe Risiko für Nebenwirkungen, Arzneimittelin-
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Häufigkeit (%)
DIABETES
80 70 60 50 40 30 20 10 0
0
Plasma-Thiamin (nmol/l)
n Median Spanne
Kontrollen 20 61,4 44,6–93,7
Typ 1
26 11,7
4,8–43,7
Typ 2
49 13,7
2,5–53,3
p – < 0,001 < 0,001 20 40 60 80 100 120 Plasma-Thiamin (nmol/l) Typ-2-Diabetes Typ-1-Diabetes Kontrollen Abbildung 5: Vitamin-B1-Plasmaspiegel bei Diabetikern im Vergleich zu Nichtdiabetikern (nach Thornalley [8]) teraktionen und die Abhängigkeitsgefahr. Zudem gibt es nicht selten Compliance-Probleme. Deshalb sollten ergänzende Therapien wie verhaltensmedizinische Interventionen, etwa zur Stressreduktion, oder alternative Verfahren wie Elektrotherapie oder Akupunktur nicht ausser Acht gelassen werden. L Prof. Dr. med. Hilmar Stracke Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Stoffwechsel Medizinisches Versorgungszentrum Agaplesion, Evangelisches Krankenhaus D-35398 Giessen Interessenlage: Prof. Stracke hält Vorträge für Wörwag Pharma. Literatur unter www.rosenfluh.ch Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 15/2017. Der leicht bearbeitete Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. ARS MEDICI DOSSIER IV | 2019 25 DIABETES Typ-2-Diabetiker haben ein höheres Risiko als Nichtdiabetiker, an Krebs zu erkranken, und eine schlechtere Chance, diesen zu überleben. Diese Erkenntnis kommt aus einer Beobachtungsstudie aus dem schwedischen Nationalregister mit 450 000 Personen mit Typ-2-Diabetes und über 2 Millionen gematchten Kontrollen. Für die Entwicklung eines kolorektalen Tumors haben die Diabetiker ein um 20 Prozent höheres Erkrankungsrisiko, für Brustkrebs ist es um 5 Prozent höher. Typ-2-Diabetiker mit bereits diagnostiziertem Brustoder Prostatakrebs haben ein 25 beziehungsweise 29 Prozent höheres Risiko, an der Krebserkrankung zu sterben. Im Vergleich zu Nichtdiabetikern war das Erkrankungsrisiko bei Typ-2-Diabetikern auch höher in Bezug auf Tumoren in Leber (231%), Pankreas (119%), Uterus (78%), Penis (56%), Nieren (45%), Gallenblase und Gallengängen (32%), Magen (21%) und Blase (20%) (1). Ein höheres Mortalitätsrisiko haben Typ-2-Diabetiker auch im Zusammenhang mit adipositasbedingtem Krebs, wie beispielsweise Darm-, Nieren- oder Pankreaskrebs bei Männern und Frauen sowie Brust- und Endometriumtumoren bei Frauen. Das zeigte eine weitere Beobachtungsstudie mit knapp 177 000 Typ-2-Diabetikern und 853 gematchten Kontrollen. Gemäss den Resultaten hatten nach 7 Jahren Nachbeobachtung übergewichtige oder adipöse Männer mit Typ2-Diabetes ein um 22 Prozent (Frauen 31%) höheres Risiko, an adipositasbedingten Krebsleiden zu sterben, als ohne Diabetes, doch galt das auch für nicht adipositasbedingte Tumorerkrankungen. Ausserdem korrelierte die Höhe des BMI (35–39) mit der Höhe des Mortalitätsrisikos – am stärksten beim Endometriumtumor mit einem 4-fachen Risiko verglichen mit normalgewichtigen Diabetikern. Das legt gemäss den Studienautoren die Vermutung nahe, dass Adipositas das Tumormortalitätsrisiko bei Typ-2-Diabetikern erhöht (2). Nicht nur endokriner Einfluss Typ-2-Diabetes scheint eine Erkrankung zu sein, die nicht nur endokrine Abläufe beeinflusst. Daten aus dem dänischen Health Survey von über 109 000 Personen förderten bei Typ2-Diabetikern eine höhere Wahrscheinlichkeit zutage, an einer Osteoporose (um 33% höher), einer rheumatoiden Arthritis (um 70% höher) oder an einer Osteoporose (um 29% höher) zu erkranken als Personen ohne Diabetes. Die Resultate zeigten auch, dass Personen mit Diabetes vermehrt Rücken-, Schulter- oder Nackenschmerzen hatten, was sie daran hinderte, körperlich aktiv zu sein. Umgekehrt zeigte sich mit steigender körperlicher Aktivität ein vermindertes Schmerzrisiko. Diabetespatienten mit Arthritis sollten trotzdem dazu angehalten werden, sich aktiv zu bewegen, was sich positiv auf die Blutzuckerkontrolle wie auch die muskuloskelettalen Schmerzen auswirken kann, so der Rat der Studienautoren (3). Mehr infektionsbedingte Hospitalisierungen Eine Auswertung von amerikanischen Daten bezüglich infektbedingter Spitaleinweisungen des Center for Disease Control (CDC) zeigte einen Trend für Typ-2-Diabetiker auf: Die infektionsbedingten Spitaleinweisungen stiegen zwischen 2010 und 2015 bei Typ-2-Diabetikern um 52 Prozent, bei Nichtdiabetikern um 17 Prozent an. Spitzenreiter waren Infekte der Atemwege, von Haut und Bindegewebe bei Diabetikern und Nichtdiabetikern. Den grössten Anteil an der Steigerung hatten Infekte des Urogenitaltrakts und Spitalinfekte bei Diabetikern und Nichtdiabetikern sowie von Haut und Bindegewebe bei jungen Diabetikern. Diabetiker werden öfter infektbedingt hospitalisiert. Um dieses Risiko zu senken, muss die Betreuung dieser Patienten verbessert werden, so das Fazit der Studienleiterin Dr. Jessica Harding vom CDC, Atlanta (USA) (4). Heilung durch Gewichtsreduktion möglich Die Aussichten, dass man mit einer Typ-2-Diabetes-Erkrankung mit den Jahren nicht nur diabetesbedingte Komplikationen, sondern auch ein erhöhtes Risiko für Krebs- und Gelenkerkrankungen und Infektionen hat, sollte die Motivation verstärken, weil es Hoffnung gibt, diese Erkrankung loswerden zu können. Dazu braucht es jedoch viel Durchhaltewillen. In der 2017 publizierten DIRECT-Studie konnte nämlich gezeigt werden, dass bei gewissen erwachsenen Patienten nach einem intensiven Gewichtsreduktionsprogramm die Typ-2Diabetes-Erkrankung rückgängig gemacht werden konnte. Warum das möglich war, war bisher nicht klar. Am diesjährigen Kongress präsentierte Prof. Roy Taylor, Newcastle University (GB), weitere Evidenz, wonach eine Remission möglich ist, sofern die insulinproduzierenden Betazellen sich erholen und wieder volle Funktionsfähigkeit erlangen können. Das steht im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, dass der Funktionsverlust der Betazelle irreversibel sei. Gemäss der neuen Erkenntnis kann sich die Betazelle erholen und die Insulinproduktion wieder starten, wenn Leber und Pankreas Fett verlieren. In der DIRECT-Studie hatten sich 298 20- bis 65-jährige Typ2-Diabetiker mit einer Erkrankungsdauer bis zu 6 Jahren einer Schlankheitskur mit 825 bis 853 kcal/Tag während 3 bis 5 Monaten unterzogen. Danach erfolgten eine Umstellung zu gesunder Ernährung und eine Langzeitunterstützung zur Gewichtserhaltung. Fast die Hälfte der Teilnehmer (46%) konnte innerhalb eines Jahres eine Remission erreichen, verglichen mit 4 Prozent in der Kontrollgruppe. Nach dem Gewichtsverlust zeigten Responder eine frühe und anhaltende Verbesserung der Betazellfunktion, bei den Nonrespondern dagegen trat keine Veränderung in der Insulinproduktion ein. In der neuen Studie interessierte die Frage, wie der Gewichtsverlust eine Remission bewirken kann und warum diese bei manchen Patienten funktioniert und bei anderen nicht. Dazu wurde in einer Substudie der Fettgehalt in Leber und Pankreas bei 58 Studienteilnehmern untersucht, unter ihnen bei 40 Respondern, die eine Remission erreicht hatten, und bei 18 Nonrespondern, bei denen die Erkrankung geblieben war. Beide Gruppen hatten etwa gleich viel Gewicht verloren (16,2 vs. 13,4 kg) und hatten nach dem Gewichtsverlust auch eine ähnlich hohe Reduktion von Fettgehalt in Leber und Pankreas und der Triglyzeridkonzentration. Als einer der Unterschiede zwischen den Gruppen kristallisierte sich die Krankheitsdauer heraus. Die Remittierten waren durchschnittlich 2,7 Jahre von Typ-2-Diabetes betroffen, die Nichtremittierten im Durchschnitt 3,8 Jahre. Das legt 26 ARS MEDICI DOSSIER IV | 2019