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Titel
Das kardiovaskuläre Risiko evaluieren, nicht einzelne Risikofaktoren
Untertitel
Interview mit PD Dr. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich
Lead
Der Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) ist ein wichtiger Treffpunkt für Kardiologen aus aller Welt und der mittlerweile weltweit grösste Kardiologiekongress. Fast 33 000 Teilnehmer aus 156 Ländern kamen diesmal in München zusammen. Welche Erkenntnisse mit Blick auf die hausärztliche Praxis bedeutsam sind, verriet PD Dr. Isabella Sudano, Leiterin der Hypertonie-, Lipid- und Tabakentwöhnungssprechstunde, Univeristätsspital Zürich, und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Hypertonie, im Interview.
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KARDIOLOGIE
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40157
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KARDIOLOGIE
«Das kardiovaskuläre Risiko evaluieren, nicht einzelne Risikofaktoren»
Interview mit PD Dr. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich

Der Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) ist ein wichtiger Treffpunkt für Kardiologen aus aller Welt und der mittlerweile weltweit grösste Kardiologiekongress. Fast 33 000 Teilnehmer aus 156 Ländern kamen diesmal in München zusammen. Welche Erkenntnisse mit Blick auf die hausärztliche Praxis bedeutsam sind, verriet PD Dr. Isabella Sudano, Leiterin der Hypertonie-, Lipid- und Tabakentwöhnungssprechstunde, Univeristätsspital Zürich, und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Hypertonie, im Interview.

CongressSelection: Was waren Ihre persön-

lichen Highlights am ESC-Kongress?

PD Dr. Isabella Sudano: Besondere Highlights

für mich waren die neuen internationalen

Guidelines. Zur Prävention gab es eher bestäti-

gende oder Grundlagenstudien, die wichtig

sind, aber keine grossen Feuerwerke. Sehr gut

gefallen haben mir die Resultate der ASCOT-

Legacy-Studie, die zeigen, dass der Nutzen von

PD Dr. Isabella Sudano

Therapien, die recht früh begonnen wurden, nach 16 Jahren Follow-up immer noch zu

sehen ist – obwohl die Patienten nach dem initialen Follow-

up nach fünf, sechs Jahren frei waren, die Therapie zu wech-

seln. Das gilt insbesondere für die Cholesterintherapie, aber

auch für die antihypertensive Therapie.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang früh? Bei einem Patienten mit familiärer Dyslipidämie heisst früh als Teenager oder sogar im Kindesalter, schon mit der Erhebung der Familienanamnese. Auch wenn wir im Kindesalter nicht unbedingt sofort eine Therapie anfangen, werden wir engmaschig kontrollieren. Beim Cholesterin gibt es einen kumulativen Effekt, ähnlich wie bei den Zigaretten. Und bei der Hypertonie wird generell empfohlen, ab 40 Jahren zu schauen. Wenn in einer Familie viele Fälle von arterieller Hypertonie oder Hirnschlag vorgekommen sind, natürlich auch schon viel früher.

Zurück zum Kongress: Was ist hier wichtig für Hausärzte? Die Leitlinien zum Bluthochdruck sind extrem wichtig für die Hausärzte, denn diese werden unsere normale Routine beeinflussen. Anders als die amerikanischen Richtlinien stellen sie nicht alles auf den Kopf, sondern stehen in Einklang mit den bisherigen Guidelines. Aber es gibt natürlich auch Neuigkeiten. So wird zum Beispiel empfohlen, die Patienten für ein gutes Heim-Blutdruck-Management zu schulen. Der Einsatz der 24-Stunden-Blutdruckmessung wird mit einer breiteren

Indikation empfohlen. Die Grenzwerte bleiben: Ich bin Hypertonikerin, falls mein Blutdruck mehr als 140/90 mmHg beträgt. Falls mein Blutdruck im sogenannten hochnormalen Bereich ist, sollte ich meinen Blutdruck einmal jährlich kontrollieren und mein kardiovaskuläres Risiko einschätzen lassen. Ist dies sehr hoch, können bereits Antihypertensiva eingesetzt werden, sonst ist das im hochnormalen Bereich noch nicht zu empfehlen. Der Gebrauch von Fixkombinationen wird absolut grossgeschrieben in den neuen Guidelines. Wir wissen, dass nur wenige Patienten behandelt und leider nur wenige gut kontrolliert sind. Je mehr Medikamente die Leute haben, desto weniger nehmen sie diese ein. Deshalb ist der Gebrauch von sinnvollen Fixkombinationen sehr hilfreich, um die Adhärenz der Patienten und dadurch auch die Blutdruckkontrolle zu verbessern, was für uns wichtig ist. Das sind die praktischen Aspekte der neuen Guidelines.
Was gibt es neben den Guidelines zu berichten? Dieser Kongress wird vielleicht bekannt als Kongress der negativen Studien. Es gibt extrem viele negative Studienergebnisse – die trotzdem für die Praxis von Bedeutung sind. Denken wir nur an die zwei Studien mit Acetylsalicylsäure, die in der Primärprävention immer wieder in der Diskussion ist. Die Studien haben nun gezeigt, dass es sowohl bei Diabetikern als auch in der generellen Population primärpräventiv nicht indiziert ist, weil der Nutzen kleiner ist als das eventuelle Blutungsrisiko. Auch Rivaroxaban hat neutrale Effekte in verschiedenen Populationen gezeigt. Omega-3-Fettsäuren sind in der ASCEND-Studie bei Diabetikern ohne Effekt geblieben. Das ist nicht neu, aber immerhin hat diese Studie auch keine Risiken gezeigt. Im Moment sind Omega-3-Fettsäuren nicht zu empfehlen. Aber Zusammensetzung und Menge werden immer noch diskutiert, es läuft noch eine grosse Studie mit einer höheren Dosierung. Lassen wir uns überraschen – aber der grosse Hype um ihren Einsatz als Präventivmassnahme ist, glaube ich, vorbei.

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Was gibt es Neues zur Ernährung? Ich glaube, viele Ernährungsempfehlungen sind eminenzbasiert und nicht evidenzbasiert. Die grosse Teilung der Fette in böse und nicht böse Fette, das ist kompliziert. Sicher ist, dass gewisse Alterationen der Lipide so schnell wie möglich korrigiert werden müssen. Auch eine gewisse Aufmerksamkeit für Transfette ist berechtigt. Aber es ist nicht so, dass jede Art von gesättigtem oder tierischem Fett grundsätzlich böse ist. Salz ist ein weiterer Punkt: Zu viel Salz ist nicht gesund. Soweit ich weiss, liegt der Konsum in der Schweiz bei 9 Gramm für Frauen und 10 Gramm für Männer, das scheint gemäss den Empfehlungen der PURE-Studie okay zu sein. Was immer noch fehlt und wichtig wäre, ist die Salzangabe in Fertigprodukten, also in Tiefkühlprodukten, Brot, Fast Food und allem, was schon verarbeitet ist: Dort haben wir ein grosses Potenzial, das versteckte Salz zu reduzieren. Wichtig zu erwähnen ist noch der positive Effekt von Kalium auf kardiovaskuläre Ereignisse. Wir können nicht allen Kalium- statt Natriumchlorid empfehlen, aber eine Ernährung, die reich an Kalium ist, ist sicher kardiovaskulär protektiv. Lebensstilmassnahmen spielen in der Sekundärprävention ebenfalls eine wichtige Rolle. Zwar bringen sie allein nur wenige Patienten zur Normalität zurück. Aber auch mit Medikamenten sollte man einen gesunden Lebensstil beibehalten. Cholesterin ist ein sehr gutes Beispiel: Durch die Ernährung kann ich die Menge des Cholesterins nur bedingt beeinflussen. Es ist ein Mythos, dass sich der Cholesterinwert normalisiert, wenn ich mich vegan ernähre. Mein LDL sinkt dann um 10 Prozent. Mit einer gesunden Ernährung – reich an Antioxidanzien, Früchten und Gemüse – kann ich die Qualität des LDL positiv beeinflussen, auch wenn es numerisch genau das Gleiche bleibt.
Es ist ein Mythos, dass sich der Cholesterinwert normalisiert, wenn ich mich vegan ernähre.

lischem Syndrom scheinen laut einer Subgruppenanalyse mehr von einer Cholesterinsenkung zu profitieren als Patienten ohne metabolisches Syndrom. Es gibt ein paar neue Daten zu Lipoprotein (a), aber grosse Interventionsstudien sind noch nicht publiziert. Erste Hinweise deuten auf eine Senkung der Mortalität bei Patienten, deren erhöhte Werte mittels Lipidapherese reduziert werden konnten, aber diese Ergebnisse sind noch mit Vorsicht zu geniessen. Auch PCSK9Hemmer reduzieren Lipoprotein (a) um bis zu 25 Prozent. Eine nicht veröffentlichte Subanalyse der ODYSSEY-Outcome-Studien zeigt einen kardiovaskulären Nutzen bei Patienten, die ihr erhöhtes Lipoprotein (a) erfolgreich reduzieren konnten. Das sind spannende Resultate, aber im Moment müssen wir noch vorsichtig bleiben.
Soll man die Lipide so tief wie möglich senken? Es scheint so, die Studien weisen alle in diese Richtung, die Studien mit Statinen sowie die mit PCSK9-Hemmern. Nicht nur «the lower the better», sondern auch «the earlier the better». Der kumulative Effekt des LDL ist mehrfach thematisiert worden, und ich finde, das ist ein wichtiger Punkt, auch schon in der Primärprävention, wobei die Daten in der Primärprävention sich auf Patienten mit familiärer Dyslipidämie beschränken. Falls eine Dyslipidämie besteht, die Definition variiert natürlich bei Primär- und Sekundärprävention, sollte so schnell wie möglich eine medikamentöse Therapie begonnen werden.
Haben Sie noch eine Botschaft an die Hausärzte? Die grosse Botschaft lautet: Das kardiovaskuläre Risiko evaluieren, nicht einzelne Risikofaktoren. Die meisten Risikofaktoren verursachen keine Beschwerden. Warten wir also nicht, bis der Patient mit Beschwerden zu uns kommt. Wenn der Patient kommt, weil er ein neues Rezept braucht, ist es ein guter Zeitpunkt, um zu fragen: «Wo stehen wir mit dem Rauchen, mit der Ernährung, mit dem Gewicht? Machen Sie Sport oder nicht?» Wenn wir dann Blut abnehmen und den Blutdruck messen, können wir das kardiovaskuläre Risiko gut bestimmen.

Es geht also nicht nur um die Höhe des Cholesterins, sondern auch um die Qualität … Genau, und unabhängig davon hat die Lebensstilveränderung einen positiven Effekt auf den gesamten Körper. Wenn ich Sport treibe, kann es sein, dass mein Blutdruck nur geringfügig sinkt und mein LDL um 5 Prozent, aber meine Gelenke, meine Muskeln, mein Gehirn profitieren. Auch mein Stress wird durch Sport abgebaut, das heisst, mein ganzer Körper, nicht nur das Herz-Kreislauf-System, profitiert von einem gesunden Lebensstil. Medikamente zu nehmen, bedeutet also nicht, dass ich essen kann, was ich will, und mich dann einfach aufs Sofa setzen kann.
Gibt es Neuigkeiten im Bereich der Dyslipidämie? Jein. Es gibt eine Subanalyse einer grossen Studie mit PCSK9Hemmern, Fourier, die zeigt, dass die Vorteile von Evolocumab bei Männern und Frauen gleich sind und die Wirksamkeit bei älteren Menschen nicht anders als bei jüngeren ist. Zudem hat die ASCOT-Legacy-Studie den Nutzen und die Sicherheit von Statinen erneut bewiesen. Patienten mit metabo-

Mit welcher Fixkombination soll man die antihypertensive

Therapie beginnen?

Die Guidelines empfehlen als Erstes einen ACE-Hemmer

oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker, danach je nach Patient

einen Kalziumantagonisten oder ein Diuretikum. Und wenn

das nicht genug ist, kommen die Dreierkombinationen: also

ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker plus Kal-

ziumantagonist und Diuretikum. Falls das immer noch nicht

genug ist, kommt eine kleine Dosis Spironolacton dazu. Die

Dosis kann gesteigert werden, und wenn das nicht toleriert

wird oder nicht genug ist, dann gibt es andere Diuretika wie

Amiloride oder Nichtthiaziddiuretika, falls die renale Funk-

tion deutlich reduziert ist, und Betablocker. Betablocker

haben aber gemäss Guideline nur bei Herzinsuffizienz, koro-

narer Herzkrankheit oder Vorhofflimmern einen Platz sowie

bei Frauen, die schwanger sind oder werden möchten – sonst

sind sie in der unkomplizierten Hypertonie nicht mehr Medi-

kamente der ersten Wahl.

L

Das Interview führte Christine Mücke.

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