Transkript
NEUROLOGIE/PSYCHIATRIE
Möglichkeiten in der Langzeittherapie der Schizophrenie
Einsatz von Antipsychotika
Antipsychotika sind ein zentraler Bestandteil in der Behandlung von Psychosen wie der Schizophrenie. Dr. Beat Nick, Leitender Arzt am Behandlungszentrum für Psychosen, Psychiatrische Dienste Solothurn, spricht im Interview über Gefahren und Nutzen von Antipsychotika.
Zur Person
Dr. med. Beat Nick, Leitender Arzt Behandlungszentrum für Psychosen Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Solothurn
Die Therapie mit Antipsychotika ist umstritten. Welches Gefahrenpotenzial haben Neuroleptika bei Psychosen? Können sie tatsächlich zu Gehirnveränderungen führen? Dr. med. Beat Nick: Erst einmal ist festzuhalten, dass Antipsychotika für die Behandlung der Schizophrenie einen grossen Fortschritt gebracht haben. Früher wurden Betroffene mittels Schocktherapie oder Lobotomien behandelt. Von daher kann man sagen, dass durch die Antipsychotika die Behandlung der Schizophrenie überhaupt erst möglich wurde. Aber sie haben auch ihre Nebenwirkungen: Antipsychotika der ersten Generation wie Haloperidol oder Flupentixol können extrapyramidale Störungen (EPS) auslösen und zu Spätdyskinesien führen. Antipsychotika der zweiten Generation, die Atypika, verursachen weniger EPS, aber dafür mehr Störungen im metabolischen Bereich, und die Gewichtszunahme unter ihnen kann zum Problem werden. In den letzten vier bis fünf Jahren gab es zudem Hinweise, dass die Antipsychotika zu Gehirnveränderungen wie einer Volumenminderung führen können (1). Die diesbezügliche Forschung dauert an und ist sehr uneinheitlich. Denn auch durch die Krankheit selber reduziert sich das Gehirnvolumen. Eine weitere Diskussion wurde losgetreten, als die Studie von Wunderink (2) gezeigt hat, dass womöglich Patienten profitieren, die nach einer ersten psychotischen Episode eine frühe Dosisreduktion hatten. Aufgrund der uneinheitlichen Studienlage ist es wichtig, dass diese Ergebnisse repliziert werden, und dafür bedarf es weiterer Studien. Letztlich ist
festzuhalten, dass es auch Hinweise gibt, wonach der Gehirnabbau durch eine gute Behandlung gestoppt werden kann.
In den letzten Jahren kommt auch immer wieder das Thema der immunologischen Enzephalopathien auf. Wie sicher ist die Diagnose Schizophrenie? Nick: In Bezug auf die Ursachen der Schizophrenie tappen wir nach wie vor im Dunkeln. Die Ursachen sind multifaktoriell, und Entzündungsfaktoren können dabei eine Rolle spielen. Durch den Film «Brain on Fire», welcher das Schicksal von Susanne Cahalan, die an einer Anti-NMDA-RezeptorEnzephalitis erkrankt war, wirkungsvoll darstellt, wurde vor wenigen Jahren sehr prominent gezeigt, dass Entzündungsfaktoren eine grosse Rolle spielen könnten. Die Erkrankung steht in einer Reihe mit anderen bis heute unerkannten entzündlichen Erkrankungen des Gehirns, wobei wenige Daten zur Häufigkeit der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis vorliegen. Obwohl ich beispielsweise schon sehr lange Menschen mit einer Schizophrenie behandle, habe ich noch nie eine NMDA-Enzephalitis diagnostizieren können. Auch andere Kollegen stellen diese sehr selten fest. Trotzdem ist differenzialdiagnostisch daran zu denken. Insgesamt wird die Schizophrenie aufgrund der Klinik und des Verlaufes diagnostiziert, wie es zum Beispiel in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 oder in der S3-Leitlinie und den SGPP-Behandlungsempfehlungen beschrieben wird (3).
Es stehen mehr medikamentöse Formen bei den Antipsychotika zur Verfügung: Für wen eignet sich die orale, die sublinguale oder die Depotform? Nick: Die Behandlung ist abhängig von der Krankheitsphase, in der sich der Betroffene befindet. Bei einer neuen Diagnose und Ersterkrankung sind Antipsychotika relativ erfolgreich. Sie führen in 80 Prozent zu einer Remission, und die Betroffenen sind nachher symptomfrei. Welches Präparat wirksam ist, lässt sich schwer voraussagen. Hilfreich ist diesbezüglich die eigene klinische Erfahrung. Man beginnt mit einem oralen Präparat, und wenn dieses nicht wirksam ist, wird ge-
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wechselt, wobei heute vor allem Atypika eingesetzt werden. Ist die orale Einnahme unklar, eignen sich Schmelztabletten, da damit besser sichergestellt ist, dass das Präparat auch tatsächlich eingenommen wurde. Im akuten Stadium kann es bei nicht krankheitseinsichtigen Patienten vorkommen, dass wir Antipsychotika injizieren müssen. Leider haben wir im Bereich der Atypika nur wenige Präparate für diese Verabreichung zur Verfügung, wie zum Beispiel Aripiprazol. Wir müssen dann oft zu klassischen Antipsychotika wie Haloperidol greifen und später auf ein Atypikum umstellen. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Atypika bei einer Positivsymptomatik gut wirksam sind – und auch die Verträglichkeit ist gut. Aber im Bereich der Negativsymptomatik haben wir noch immer grosse Behandlungsprobleme. Wirkstoffe wie Glycin-Wiederaufnahmehemmer konnten in Phase-III-Studien leider nicht überzeugen.
Welche therapeutischen Möglichkeiten stehen überhaupt bei einer Negativsymptomatik zur Verfügung? Nick: Neue Antipsychotika in Kombination mit Antidepressiva sind der derzeitige Behandlungsstandard, wobei sich Gefühle der Leere und des Antriebs auch mit Antidepressiva nur schlecht behandeln lassen. In Bezug auf nicht medikamentöse Therapien sind insbesondere psychosoziale Therapien und soziales Kompetenztraining sowie körperliche Bewegung Therapieoptionen mit der besten Effektivität.
Wie sieht es mit den Depotformen aus. Wann setzen Sie diese ein? Nick: Neuere Langzeitstudien legen nahe, dass über 80 Prozent der Patienten mehrere psychotische Schübe haben. Eine geeignete medikamentöse Rückfallprophylaxe ist deshalb sehr wichtig. Depotformen eignen sich in der Langzeitbehandlung der Schizophrenie. Wir können so sicher sein, dass die Betroffenen das Medikament auch erhalten. Eine Tablette muss beispielsweise täglich eingenommen werden. Bei den Depotformen reicht eine monatliche Injektion. In unserem Behandlungszentrum, welches sich auf die Behandlung der Schizophrenie spezialisiert hat, können wir auf sehr gute Erfahrungen mit den Depotformen zurückblicken. Tabletten werden von den Patienten oft nicht regelmässig eingenommen, ohne den Arzt zu informieren, sei es, weil sie sich gesund fühlen, oder unter unangenehmen Nebenwirkungen leiden. Bei der Depotform können wir die Patienten hingegen kontaktieren, wenn der Betroffene nicht zum Termin erscheint. Die Nichteinnahme fällt auf. Leider liegen noch nicht für alle AP Depotformen vor. Derzeit sind es Aripiprazol, Risperidon, Olanzapin und Paliperidonpalmitat. Auch hier entscheiden wiederum Wirksamkeit und Verträglichkeit über den Einsatz des jeweiligen Präparates.
Die Schweiz hat eine sehr niedrige Verschreibungsrate bei den Depotformen. Woran liegt das? Nick: Darüber kann man nur spekulieren. Es könnte mit dem hohen Autonomiebedürfnis der Schweizer zusammenhängen. Wenn jemand nicht mehr jeden Tag entscheiden kann, ob er die Tablette einnehmen möchte, dann wird das als Eingriff in die Autonomie verstanden. Und dieses Autonomiegefühl ist auch den Psychiatern wichtig, die deshalb die Depot-
form gar nicht erst verschreiben. In unserem Zentrum haben die Depotformen hingegen keine negative Konnotation, wenn wir diese vorschlagen. Von daher haben auch die Patienten weniger Probleme damit, sich dafür zu entscheiden. Hinzu kommt, dass die Depotformen noch nicht in die Behandlungsleitlinien als Medikament erster Wahl aufgenommen wurden, obwohl randomisierte Studien zeigen, dass sie den Tabletten nicht unterlegen sind. In naturalistischen Studien zeigt sich gegenüber einer oralen Einnahme eine deutliche Überlegenheit.
Wie können Sie die Adhärenz auch noch erhöhen? Nick: Wichtig ist eine gute Arzt-Patient-Beziehung. Wir bieten ein Rundumprogramm mit Psychoedukation, Angehörigenberatung und so weiter an. Für die Kommunikation steht uns ein ganzes Arsenal an Kommunikationstechniken wie Motivational Interviewing oder Informed Consent zur Verfügung. Das Wichtigste ist aber eine gute Arzt-Patienten-Beziehung und die Fähigkeit, sich in die Situation der Patienten einzufühlen: wie es beispielswiese ist, andauernd Medikamente einnehmen zu müssen. Gerade Menschen mit einer Schizophrenie fühlen sich dann kontrolliert.
Setzen Sie eventuell Telemetrie oder Apps für eine bessere Adhärenz ein? Nick: Nein. Bei Blutdruckmedikamenten ist es vielleicht sinnvoll, wenn an die Einnahme von Medikamenten erinnert wird. Aber da es bei der Schizophrenie immer wieder um Krankheitseinsicht geht, bieten auch Apps, die an die Einnahme einer Tablette erinnern, in den meisten Fällen keine Vorteile. Meiner Ansicht nach sind Depotformulierungen noch immer die beste Rückfallprophylaxe!l
Sehr geehrter Herr Dr. Nick, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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Referenzen: 1. Goff DC et al.: The Long-Term Effects of Antipsychotic Medicationon
Clinical Course in Schizophrenia: JAMA Psychiatry 2017; 174 (9): 840– 849. 2. Wunderink L et al.: Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial, JAMA Psychiatry JAMA Psychiatry 2013; 70(9): 913– 920. 3. http://www.psychiatrie.ch/sgpp/fachleute-und-kommissionen/ behandlungsempfehlungen/index.php?eID=tx_securedownloads&u= 0&g=0&t=1513418253&hash=3130fb9ba81f8ce24c66a686dda7eed366 eaffb4&file=/fileadmin/SGPP/user_upload/Fachleute/Empfehlungen/d_Schizophrenia_Recommendations_final_Dez._2015_-_definitive_Fassung_-_Feb._2016.pdf.
Erstpublikation in der Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie + Neurologie, Ausgabe 2/2018.
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