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RHEUMATOLOGIE UND SCHMERZ
Therapie der rheumatoiden Arthritis: Wie früh ist früh genug?
Neue Kampagne motiviert zur rechtzeitigen Abklärung
Die Diagnose einer rheumatoiden Arthritis kann gestellt werden, wenn die Klassifikationskriterien der EULAR erfüllt sind. Viele Patienten haben jedoch bereits Jahre davor relevante und behandlungswürdige Beschwerden. Diese «Prä-RA» war eines des Schwerpunktthemen des diesjährigen EULARKongresses.
Reno Barth
Laut Schätzungen könnten in Europa jeden Tag rund 1 Million Berufstätige mehr an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, wenn sie besseren Zugang zu frühen Interventionen gegen rheumatische Erkrankungen hätten (1). Da Frühdiagnosen jedoch nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel sind, obwohl man seit Langem um die Vorteile früher
MERKSÄTZE
O EULAR und PARE wollen mit ihrer Patientenkampagne «Dont’t Delay, Connect Today» die Frühdiagnostik der rheumatoiden Arthritis verbessern.
O Die aktuellen Leitlinien der EULAR empfehlen den Einsatz von DMARD bereits in der Phase der unklassifizierten Arthritis. Eine aktuelle Metaanalyse bestätigt diesen Ansatz.
O Die Entwicklung vom genetischen Risiko zur rheumatoiden Arthritis wird in einem gängigen Modell in sieben Stufen beschrieben.
O Die Progression von der Prä-RA zur voll entwickelten RA kann individuell sehr unterschiedlich verlaufen – oder auch gänzlich ausbleiben.
O In der Studie PRAIRI konnte bei Patienten mit Prä-RA durch eine einzelne Infusion Rituximab das Auftreten einer RA um ein Jahr verzögert werden.
Interventionen weiss, nutzte die European League Against Rheumatism (EULAR) ihren diesjährigen Kongress in Madrid für den Kick-off ihrer Kampagne «Don’t Delay, Connect Today», die Betroffene animieren soll, mit ersten Symptomen einer rheumatischen Erkrankung möglichst frühzeitig medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Federführend an der Kampagne beteiligt ist die Patientenorganisation PARE (People with Arthritis and Rheumatism in Europe). Die PARE-Aktivisten hätten nun den Plan, «viel Lärm zu machen», wie John Church, Vorsitzender von Arthritis Ireland, unterstrich – er wies aber auch darauf hin, dass nicht nur neue Medikamente die Situation von Rheumapatienten erheblich verbessern können, sondern auch «bessere Abläufe in der Versorgung, sehr wirkungsvolle Optionen im Selbstmanagement sowie frühe Diagnose und Behandlung». Mit diesem «Lärm» ist man seitens der EULAR durchaus einverstanden. So kommentierte EULARPräsident Prof. Gerd R. Burmester aus Berlin (D): «‹Don’t Delay, Connect Today!› soll die Rheuma-Community vernetzen und damit signifikante positive Veränderungen für Menschen mit rheumatischen Erkrankungen bewirken. Wir ermutigen die drei Säulen der EULAR – Ärzte, Pflegepersonal und Patienten –, sich in dieser Kampagne zu engagieren und die verschiedenen Informationsmaterialien, soziale Medien, digitale Initiativen und Live-
Events unseres Netzwerks zu nutzen.» Burmester wies in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die Bedeutung der frühen Diagnose und Therapie hin.
Frühe Therapie
reduziert das Progressionsrisiko
Dass sich frühe Therapie bezahlt macht, zeigt nicht zuletzt eine im Rahmen des EULAR-Kongresses präsentierte Metaanalyse, die ergab, dass die Behandlung einer rheumatoiden Arthritis (RA) auch bereits sinnvoll ist, wenn die Klassifikationskriterien für die RA noch nicht erfüllt sind (2). Die Studie bestätigt damit die kürzlich publizierte EULAR-Leitlinie, die den Einsatz von DMARD schon bei der unklassifizierten Arthritis empfiehlt (3). Da Patienten mit «prerheumatoid arthritis» (pre-RA) nicht in RA-Studien eingeschlossen werden, sind Daten zu deren Therapie aber insgesamt spärlich. Für die nun veröffentlichte Metaanalyse wurden aus 595 Abstracts tatsächlich nur 9 verwertbare randomisierte, kontrollierte Studien identifiziert, 8 davon zur undifferenzierten Arthritis und 1 zur sehr frühen RA. Damit konnten für die Metaanalyse 1156 Patienten mit einer Symptomdauer von durchschnittlich 16,2 ± 12,6 Wochen ausgewertet werden. Die Inzidenz einer RA innerhalb von 52 Wochen wurde in 6 Studien untersucht, 1 Studie (mit 800 Patienten) lieferte Daten zur RA-Inzidenz innerhalb von 120 Wochen. In den Studien kamen unterschiedliche Interventionen zum Einsatz (Methylprednisolon, Methotrexat, TNF-Blocker, Abatacept oder Rituximab). Die Analyse zeigte, dass eine aktive Therapie das Risiko, eine RA gemäss den aktuellen Klassifikationskriterien zu entwickeln, signifikant reduzierte. Dazu der Studienautor Dr. Stephane Hilliquin aus Paris (F): «Unser Review der verfügbaren klinischen Daten liefert Argumente
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für die sehr frühe Behandlung dieser Patienten.»
Vom genetischen Risiko
zur rheumatoiden Arthritis
Und sehr früh könnte noch früher sein als früh. Denn mehrere Gruppen denken bereits über präventive Massnahmen vor dem Auftreten einer unklassifizierten Arthritis nach. So konnte ein Modell der Entwicklung einer RA in mehreren Phasen entwickelt werden (4), wie Dr. Diane van der Woude aus Leiden (NL) ausführte. Am Anfang der Entwicklung zur RA stehen genetische und Umweltrisikofaktoren (Phasen A und B). In Phase C kommt es zu systemischer Autoimmunität, in Phase D zeigen sich die ersten Symptome, und in Phase E liegt eine unklassifizierte Arthritis vor, die sich schliesslich zu einer RA nach den Klassifikationskriterien der EULAR entwickeln kann (Phase F). In jeder Phase besteht ein substanzielles Risiko einer Verschlechterung in die nächste Phase, doch diese Verschlechterung muss keineswegs zwingend eintreten. Prädiktionsmodelle für das individuelle Progressionsrisiko werden daher dringend gesucht. Sie erwiesen sich als umso stabiler, je näher der Patient an der Diagnose einer rheumatoiden Arthritis steht. Leiden die Betroffenen bereits unter Arthralgien, so können allein aus der Anamnese und der klinischen Untersuchung Aussagen über das Progressionsrisiko getroffen werden. Morgensteifigkeit von mehr als 60 Minuten, RA in der Familie sowie ein positiver Drucktest der Metakarpalgelenke deuten auf ein hohes Risiko hin, eine RA zu entwickeln. Biomarker (Autoantikörper) und Bildgebung erhöhen die Qualität der Prädiktion noch weiter (5). Aktuelle Modelle der Risikoprädiktion arbeiten mit Scoresystemen, die anhand von klinischen Befunden und Labormarkern das Risiko einer RA-Erkrankung in der nahen Zukunft vorhersagen sollen. Die Prädiktion wäre allerdings von geringem Wert, wenn sich daraus keine präventiven Ansätze ergeben. Das Stadienmodell der RA erlaubt, so Dr. Kevin Deane aus Denver (Colorado/ USA), eine pragmatische Definition von Prävention. Es gehe nämlich darum, «das nächste, schlechtere Krankheitsstadium zu verhindern und wenn
möglich wieder das nächste, bessere Stadium zu erreichen». In früheren Stadien der Prä-RA befindet man sich mit diesem Ansatz noch im experimentellen Stadium.
Vor- und Nachteile der medika-
mentösen Prävention
Und es stellt sich nicht zuletzt die Frage, welche Patienten überhaupt früh behandelt werden sollen. Bei einem sehr hohen individuellen Risiko sei dies, so Dean, gerechtfertigt. So habe eine niederländische Gruppe gezeigt, dass Patienten, die nach einem 12-Punkte-Prädiktions-Score 9 bis 12 Punkte erreichen, ein rund 50-prozentiges Risiko aufweisen, innerhalb von zwei Jahren eine rheumatoide Arthritis zu entwickeln (6). Einfach ist die Entscheidung für eine Behandlung dennoch nicht. Denn Dean unterstreicht, wie individuell unterschiedlich die Progression verlaufen könne. Während bei manchen Patienten graduell mehr und mehr Symptome auftreten, bleiben andere über lange Zeit fast symptomfrei, verschlechtern sich dann jedoch sehr schnell. Von hohem theoretischem Interesse ist eine Patientenpopulation, die ein Phänomen zeigt, das Dean «palindromischen Rheumatismus» nennt. Dabei wechseln einander Phasen relativ ausgeprägter Symptomatik mit Phasen der Remission ab. Deane: «Hier besteht offenbar das Potenzial, Autoimmunität zumindest in gewissen Grenzen selbst zu regulieren.» Nicht vergessen werden dürfe jedoch auch eine wichtige Patientengruppe: Diese entwickelt trotz verdächtiger Symptomatik niemals eine rheumatoide Arthritis. Für sie würde eine Behandlung Übertherapie bedeuten und keinen Nutzen, sehr wohl aber Nebenwirkungen bringen. Es laufen mehrere Studien, die den Einsatz diverser antiinflammatorischer Medikamente noch vor dem Auftreten einer unklassifizierten Arthritis untersuchen – beziehungsweise sind sie zum Teil schon abgeschlossen. Diese Studien unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der untersuchten Medikamente als auch im Hinblick auf die Kriterien, nach denen die Indikation zur Therapie gestellt wird. Im Rahmen der Studie PRAIRI wurden Patienten mit Prä-RA mit einer einzelnen Infusion von Rituximab behandelt (7). Durch
diese durchaus aggressive Intervention
sollte ein «Reset» des Immunsystems
erreicht werden. Die Ergebnisse waren
ambivalent. Rituximab verzögerte das
Auftreten der RA – allerdings nur um
ein Jahr. Deane unterstreicht allerdings
das Positive an diesem Ergebnis: «Das
waren fantastische Neuigkeiten. Zum
ersten Mal ist es gelungen, die Inzidenz
von RA bei Hochrisikopatienten nach-
weislich zu beeinflussen. Und man hat
mit der Therapie niemandem gescha-
det. Damit hat PRAIRI den Weg für eine
ganze Reihe weiterer Studien geebnet.»
Eine davon ist die amerikanische Studie
StopRA, in der ein etwas anderer Weg
eingeschlagen wird: ACPA-hochposi-
tive Patienten ohne Arthritis sollen
über ein Jahr das aus der Lupustherapie
bekannte und gut verträgliche Mala-
riamittel Hydroxychloroquin erhalten.
Die zeitliche Beschränkung ist den Au-
toren wichtig, da unbegrenzte Thera-
pien in der Prä-RA schwer zu rechtfer-
tigen wären und wohl auch von den Pa-
tienten abgelehnt würden. Insgesamt
sollen für StopRA bis zu 20 000 Perso-
nen auf ACPA gescreent werden. Die
Rekrutierung läuft derzeit.
O
Reno Barth
Referenzen: 1. Working with arthritis. Arthritis Research UK.
http://www.arthritisresearchuk.org/policy-andpublic-affairs/reports-and-resources/reports/workreport.aspx 2. Hugues B et al.: Does a very early therapeutic intervention in very early arthritis/pre-Rheumatoid Arthritis patients prevent the onset of Rheumatoid Arthritis: a systematic review and meta-analysis. EULAR 2017; Madrid: Abstract OP0011. 3. Combe B et al.: 2016 update of the EULAR recommendations for the management of early arthritis. Ann Rheum Dis 2017; 76(6): 948–959. 4. Gerlag DM et al.: EULAR recommendations for terminology and research in individuals at risk of rheumatoid arthritis: report from the Study Group for Risk Factors for Rheumatoid Arthritis. Ann Rheum Dis 2012; 71(5): 638–641. 5. van Steenbergen HW et al.: EULAR definition of arthralgia suspicious for progression to rheumatoid arthritis. Ann Rheum Dis 2017; 76(3): 491–496. 6. van de Stadt LA et al.: A prediction rule for the development of arthritis in seropositive arthralgia patients. Ann Rheum Dis 2013; 72(12): 1920–1926. 7. Gerlag D et al.: Prevention of Rheumatoid Arthritis by B Cell Directed Therapy in The Earliest Phase of The Disease: The Prairi Study. European League Against Rheumatism (EULAR) Congress 2016: Abstract OP0182.
Quelle: Session «From pre-RA to established RA» und Pressekonferenzen im Rahmen des EULAR-Kongress 2017, 14. bis 17. Juni 2017 in Madrid.
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