Transkript
KUHMILCHPROTEINALLERGIE
Kuhmilchproteinallergie im Säuglings- und Kleinkindalter
Was müssen Kinderarzt und Eltern wissen?
Vom unspezifischen Gütscheln über blutige Diarrhö bis
zur schweren atopischen Dermatitis: Die Kuhmilchprotein-
allergie zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen und
verlangt daher bei der Diagnostik ein geschicktes Gespür
und Detektivsinn. Die Therapie hingegen erfordert von den
Eltern neben fundiertem Wissen viel Kreativität, damit die
Ernährung des Kindes trotz Einschränkungen ausgewogen
und das Gedeihen gewährleistet ist.
Elisabeth Dürr
Durch die Muttermilch oder die Einführung einer Säuglingsformula ist Kuhmilch meist das erste Allergen, mit dem der Säugling in Kontakt tritt. Die Prävalenz von Nahrungsmittelallergien wird in der Literatur unterschiedlich angegeben, mit schätzungsweise 2 bis 3 Prozent ist die Kuhmilchproteinallergie (KMPA) aber bei Säuglingen und Kleinkindern die häufigste Nahrungsmittelallergie. Eine Zunahme der Fälle in den letzten Jahren ist in der Praxis zu beobachten. Die KMPA wird in drei Typen eingeteilt: O durch Immunglobulin E (IgE) vermittelt O nicht IgE-(Zell-)vermittelt O gemischte Form.
Meistens wächst sich die Allergie auf Kuhmilchprotein jedoch aus. Die Toleranz ist bei 50 Prozent der Säuglinge bis zum ersten Geburtstag und bei 90 Prozent aller Kinder mit Kuhmilchproteinallergie bei Schuleintritt erreicht. Sofortreaktionen auf Kuhmilch sind meist IgE-vermittelt und reichen von Symptomen der Haut (atopische Dermatitis, Urtikaria, Angioödeme) oder der Atemwege bis zum anaphylaktischen Schock. Nicht IgE-vermittelte Spätreaktionen zeigen sich häufig gastrointestinal. Sie umfassen Symptome wie Reflux, Nausea, Diarrhö, Obstipation, rektale Blutungen und Schleimabgang, Koliken sowie Gedeihstörungen infolge der gastrointestinalen Probleme. Spätreaktionen können bis zu einer Woche nach Konsum von Kuhmilch auftreten (1) (Tabelle 1).
Diagnostik der Kuhmilchproteinallergie als Detektivarbeit Die nicht IgE-vermittelte Kuhmilchproteinallergie ist eine Verdachtsdiagnose, welche als Bestätigung eine diagnosti-
sche Eliminationsdiät erfordert. In der ärztlichen Anamnese werden Symptome und mögliche andere Erklärungen erfragt und gesucht. Es folgt eine klinische Untersuchung mit Messung von Gewicht und Körpergrösse. Falls zusätzlich Symptome der Haut oder Atemwege vorhanden sind, empfiehlt es sich, die spezifischen IgE im Serum zu bestimmen. Falls beim Kind Sofortreaktionen beobachtet wurden, kann zusätzlich ein Haut-Pricktest gemacht werden. In unklaren Fällen erfolgt zudem eine Endoskopie zum Ausschluss anderer Enteropathien (1). Zur Bestätigung oder zum Ausschluss der Diagnose erfolgt nach gründlicher Anamnese eine Allergenelimination mit anschliessender Reexposition mit Kuhmilch. Die erneute Belastung mit Kuhmilch kann weggelassen werden, wenn die Wahrscheinlichkeit für die Kuhmilchproteinallergie sehr hoch ist oder wenn eine Provokation zu risikoreich wäre (1, 2). Nach ausführlicher Instruktion durch die Ernährungsberaterin wird die diagnostische Elimination für mindestens 3 bis 5 Tage bei Sofortreaktionen, 1 bis 2 Wochen bei Spätreaktionen und 2 bis 4 Wochen bei gastrointestinalen Symptomen und Gedeihstörungen durchgeführt (1, 2). Säuglinge, welche sich in der Phase der Beikosteinführung befinden, sollten in diesem Zeitraum möglichst keine neuen Lebensmittel (andere Allergene) zugefüttert bekommen. Gestillte Säuglinge reagieren manchmal auch auf das Kuhmilchprotein, welches durch die Muttermilch übertragen wird. In diesem Fall muss die Mutter während der Eliminationsphase eine kuhmilchprotein- und gegebenenfalls sojafreie Diät befolgen (2). Wird diese Diät für längere Zeit eingehalten, benötigt die Mutter ein Kalziumsupplement (1000 mg/Tag). Die Reexposition nach der Karenzphase soll spätestens 4 bis 6 Wochen nach Beginn der Diät stattfinden. Wenn das Kind bereits in der Vergangenheit eine Soforttypreaktion erlebt hat, das spezifische IgE erhöht ist, ein positiver Haut-Pricktest vorliegt oder bei schwerer atopischer Dermatitis muss die orale Provokation mit Kuhmilch kontrolliert unter ärztlicher Supervision erfolgen (1). Bei Kindern mit Spätreaktionen kann die Wiedereinführung auch zu Hause stattfinden, dafür wird jedoch ein negatives IgE-Resultat auf Kuhmilchprotein, welches nicht älter als 6 Wochen ist, als Bedingung vorausgesetzt (2). Reagiert das Kind bei der Reexposition allergisch auf die Gabe von Kuhmilch, gilt die Diagnose als bestätigt. Es folgt eine therapeutische kuhmilchfreie Diät für mindestens 3 bis 6 Monate oder bis mindestens im Alter von 9 bis 12 Monaten. Nach der zweiten positiven Provokation soll eine Reexposition alle 6 Monate stattfinden. Bei schweren Symptomen muss das Kind mindestens 12 bis 18 Monate
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KUHMILCHPROTEINALLERGIE
die Kuhmilch auf. Kuhmilch enthält 25 ver-
Tabelle 1:
schiedene Proteine, wobei die meisten Kinder
Mögliche Symptome einer Kuhmilchproteinallergie
Lokalisation Symptome
auf mehrere davon reagieren. Zu den wichtigsten Proteinen gehören das Casein und die Molkenproteine. Da Casein im Gegensatz zum
Haut atopische Dermatitis, Urtikaria, Angioödeme (Lippen, Augenlider), Hautrötung, Pruritus
Gastrointestinaltrakt
Anschwellen der Schleimhäute oral/perioral, Dysphagie, gestörte Ösophagusmotilität, Erbrechen, Reflux, Regurgitation, Dyspepsie, Nausea, frühe Sättigung, verzögerte Magenentleerung, Diarrhö, Obstipation, Enteropathie mit Proteinverlust, rektale Blutungen/ Schleimabgang, Bauchschmerzen, Kolik, perianale Rötungen, Gedeihstörung, FPIES
Molkenprotein nicht artspezifisch ist und so auch in Ziegen- und Schafmilch vorkommt, reagieren die meisten Kuhmilchallergiker auch auf diese (5). Stuten- und Eselsmilch kann aus hygienischen Gründen nicht empfohlen werden.
(food protein induced enterocolitis syndrome) mit Azidose, Proktokolitis
Wie geht es
Atemwege Kreislauf
chronischer Husten, laufende Nase, Niesen, Atemschwierigkeiten Anaphylaxie
nach dem ersten Geburtstag weiter?
Ab dem ersten Geburtstag kann das Kind auch ohne Spezialnahrung ernährt werden, sofern
Psyche Weitere
Anorexie, Essensverweigerung chronischer Eisenmangel, Blässe, Müdigkeit
die Menüauswahl ausgewogen ist. Um dies sicherzustellen, hilft eine individuelle Ernährungsberatung. Trinkt das Kind weiterhin die
(aus [1])
extensiv-hydrolisierte Formula, muss bedacht werden, dass diese einen deutlich tieferen Pro-
tein- und einen anderen Mikronährstoffgehalt
kuhmilchproteinfrei ernährt werden. Die regelmässige Aus- als Kuhmilch aufweist. Vor allem der Kalziumbedarf kann
testung von Kuhmilch ist nicht zuletzt für die Lebensqualität mit der Spezialformula nicht mehr gedeckt werden. Die El-
sehr wichtig. Unnötige Diäteinschränkungen bei bereits tern sind zu beraten, wie das Kind durch natürliche Lebens-
erworbener Toleranz werden so vermieden. Der Algorithmus mittel wie kalziumreiche Mineralwässer, grünes Gemüse und
der ESPGHAN sowie die britische interaktive MAP-Leitlinie angereicherte Pflanzendrinks oder, falls nötig, durch Supple-
helfen in der medizinischen Grundversorgung bei der Dia- mente ausreichend mit Kalzium versorgt werden kann.
gnostik und Entscheidungsfindung bei Verdacht auf eine Auf dem Weg zur Kuhmilchtoleranz wird häufig zuerst er-
Kuhmilchproteinallergie (1, 2).
hitzte Milch vertragen. Durch eine längere Erhitzung – bei-
spielsweise verbacken in einem Kuchen – verändert sich die
Welche Milch ist geeignet?
Proteinstruktur der Kuhmilch und wird somit vom Körper
Falls die Symptome mit Einführung einer Säuglingsformula nicht mehr als fremd beurteilt (2, 5). Bei einer Reintroduk-
erstmals aufgetreten sind, soll nach Möglichkeit wieder zu- tion von Kuhmilch ab dem zweiten Lebensjahr sollen deshalb
rück zum Stillen gegangen werden. Sonst wird bei moderaten zuerst kleine Mengen an milchhaltigem Brot und Kuchen
Symptomen auf Kuhmilch im ersten Schritt der Elimina- oder an milchhaltigen Keksen ausgetestet werden (2). Die
tionsdiät eine extensiv-hydrolisierte Formula eingesetzt. bereits erworbene Toleranz verbackener Kuhmilch bei Kin-
Wenn sich nach 1 bis 2 Wochen damit keine Besserung zeigt, dern mit IgE-vermittelter Allergie ist ein Indikator für eine
kann eine Formula auf Basis einzelner Aminosäuren in gute Prognose (6). Unklar bleibt jedoch, ob der Konsum und
Erwägung gezogen werden. Bei schweren Symptomen muss das Vertragen von verbackenem Protein bei nicht IgE-ver-
sofort auf eine Aminosäurenformula umgestellt werden (1, 2). mittelter Allergie eine bessere oder gar schlechtere Prognose
Hypoallergene (HA) Säuglingsmilchen hingegen sind nicht für die Toleranzentwicklung bedeutet (7). Trotzdem ver-
zur Therapie geeignet, sondern dienen möglicherweise nur grössert die Einbeziehung von Kuhmilchspuren in die Diät
der Prävention bei Vorliegen einer positiven Familienana- von Kindern, welche auf dem Weg zur Toleranz sind, die
mnese für eine Atopie. Ab Einführung der Beikost hat auch Lebensmittelauswahl und verbessert so die Lebensqualität
die HA-Formula keinen präventiven Nutzen mehr. Dann der ganzen Familie.
kann auf eine normale Säuglingsmilch umgestellt werden (3).
Bei Säuglingen unter einem Jahr bieten pflanzliche Milch- Gedeihstörung als Begleiterscheinung
ersatzgetränke, zum Beispiel auf Reis-, Soja- oder Haferbasis, Eine Ernährung ohne Kuhmilch birgt Risiken für Nährstoff-
keinen Ersatz für die Säuglingsmilch, da diese nicht adäquat defizite, insbesondere für Protein, Kalzium sowie die Vit-
in der Nährstoffzusammensetzung sind und somit zu einer amine B2, D und A und somit für eine Fehl- und Mangel-
Gedeihstörung beitragen können. Ausserdem besteht vor ernährung. Neben der reduzierten Verfügbarkeit geeigneter
allem bei der nicht IgE-vermittelten Allergie ein Risiko für Lebensmittel ist die Gedeihstörung auch durch einen erhöh-
eine Kreuzreaktion auf Soja (1).
ten Energiebedarf aufgrund von Entzündungsprozessen,
Bei älteren Kindern kann eine ausgewogene Ernährung mit gestörtem Schlaf und verminderter Resorptionskapazität
kalziumangereicherten pflanzlichen Drinks ergänzt werden. bedingt (8).
Aufgrund der hohen Arsenbelastung von Reisgetränken soll- Durch die professionelle Ernährungsberatung wird eine aus-
ten diese bei Kleinkindern nicht eingesetzt werden (4).
reichende Versorgung der Risikonährstoffe sichergestellt.
Tierische Milchen, zum Beispiel von Schaf, Ziege, Stute, Esel Eine geeignete Ersatz-Säuglingsmilchformula und andere
oder Kamel, bieten nur selten eine Alternative. Schaf- und Alternativen zur Kuhmilch können empfohlen werden. Um
Ziegenmilch weisen eine sehr ähnliche Proteinstruktur wie die Akzeptanz des säuerlichen Geschmacks der hydrolisierten
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KUHMILCHPROTEINALLERGIE
Tabelle 2:
Nährwerte von Ersatznahrungen gegenüber Kuhmilch
Nährwerte pro 100 ml Nahrung (Beispiele)
Kuhmilch Vollmilch
Drinkmilch
Pflanzendrinks
Sojadrink Nature
Sojadrink + Kalzium
Dinkel-Drink Natur (Alnatura)
Extensivhydrolisate
Pregomin® Pepti (Milupa)
Alfaré® (Nestlé)
kcal Protein Kohlenhydrate Fett Kalzium Vitamin A Vitamin D
70 3,3 g 4,7 g 4,0 g 122 mg 45,8 µg RE 0,09 µg
60 3,2 g 4,7 g 2,8 g 123 mg 31,7 µg RE 0,06 µg
45 4,0 g 1,5 g 2,3 g 42 mg 2 µg RE 0,2 µg
45 3,8 g 2,8 g 2,1 g 120 mg 0,75 µg RE –
42 0,8 g 6,2 g 1,5 g – – –
RE: Retinoläquivalent; Quellen: Herstellerangaben, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen
66 1,8 g 6,8 g 3,5 g 50 mg 52 µg RE 1,3 µg
70 2,0 g 3,4 g 7,3 g 51 mg 70 µg RE 1,0 µg
Aminosäurenformula
Pregomin® AS (Milupa) Neocate infant® (Nutricia)
Neocate active® (Nutricia, ab 1 Jahr)
67 100
1,8 g 2,8 g
7,2 g 11,3 g
3,4 g 4,8 g
66 mg 95 mg
56 µg RE
37 µg RE
1,2 µg 0,8 µg
Spezialnahrung zu erhöhen, kann der Schoppen zu Beginn mit einem Süssstoff gesüsst werden. Bei Säuglingen mit Spätreaktionen darf die neue Formula durch Beimischung in die bisherige Milch eingeschlichen werden. Ältere Kinder akzeptieren den bitteren Geschmack besser, wenn die Formula zum Beispiel in einen Brei gemischt wird. Für die Akzeptanz der Nahrung ist jedoch die positive Haltung der Eltern der wichtigste Faktor. Um den erhöhten Energiebedarf bei einer Mangelernährung decken zu können, kann die Spezialsäuglingsformula höher als die Standardlösung konzentriert werden. Die Verträglichkeit muss jedoch vorsichtig ausgetestet werden, da mit der Anreicherung auch die Osmolarität des Produkts steigt. In der Praxis hat sich eine Anreicherung bis maximal 16 Prozent bewährt.
Nicht mit der Beikost warten
Die Beikost soll bei Kindern mit Kuhmilchproteinallergie schrittweise, aber ohne Verzögerung bezüglich allergener Lebensmittel eingeführt werden (1, 3). Falls Ängste bestehen, dass der Säugling auf ein neues Nahrungsmittel reagieren wird, kann zuerst eine «Wangendosis» ausgetestet werden: Dem Baby wird dabei wenig Brei auf die Wange gestrichen. Reagiert die Haut nicht mit einer Rötung, darf es ein kleines Löffelchen davon essen. Bei einer IgE-positiven Kuhmilchproteinallergie empfiehlt es sich, vor Einführung der Beikost zur Absicherung die spezifischen IgE auf weitere Allergene zu bestimmen. Studien haben gezeigt, dass der Säugling bereits intrauterin und durch die Muttermilch in Kontakt mit Allergenen kommt. Somit können bereits vor der Beikosteinführung die IgE erhöht sein (9, 10). Über eine Vermeidung von Rind- und Kalbfleisch in der Ernährung des Kindes muss von Fall zu Fall entschieden werden. Grundsätzlich wird aber bei einer Kuhmilchproteinallergie nie von Anfang an auf Kuhfleisch verzichtet, da eine Kreuzreaktion sehr selten ist.
Ernährungsberatung bietet Unterstützung
für den Alltag
Damit man den Alltag trotz des aufwendigen Verzichts auf
Kuhmilch gut bewältigen kann, wird in der Ernährungs-
beratung erklärt, wie Lebensmittelverpackungen und die All-
ergendeklaration gelesen und richtig interpretiert werden.
Weitere Tipps zum Kochen und Backen werden den Eltern
mitgegeben. Dank eines wachsenden Angebots veganer
Tierersatzprodukte gibt es auch für das Kind respektive die
diäthaltende Mutter eine immer breiter werdende Auswahl
von Alternativen zu Kuhmilchprodukten. Dies erleichtert
den Verzicht, gerade auf die geliebte Schokolade und den
Käse, enorm.
Neben der ausführlichen Beratung der Eltern müssen auch
weitere Bezugspersonen und das Umfeld bezüglich der kuh-
milchfreien Ernährung instruiert werden, um Fehlerquellen
im Alltag zu reduzieren. Die Umsetzung der kuhmilchfreien
Ernährung kann für Kind und Eltern eine grosse Belastung
bedeuten. Mit einer engmaschigen interdisziplinären Betreu-
ung durch Ernährungsfachperson, Kinderärztin und Gastro-
enterologe kann aber der Familie und dem Kind die beste
Unterstützung geboten werden.
O
Korrespondenzadresse: Elisabeth Dürr dipl. Ernährungsberaterin FH, BSc Ernährungsberatung UKBB Universitätskinderspital beider Basel Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: Elisabeth.Duerr@ukbb.ch
Literatur unter www.arsmedici.ch.
Erstpublikation in PÄDIATRIE 2/16.
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