Transkript
FORTBILDUNG
ADS/ADHS-Kinder in der kinderärztlichen Praxis
Was können wir verzweifelten Eltern raten?
Die Erziehung von ADS/ADHS-Kindern erfordert viel Fingerspitzengefühl und Verständnis,
Merksatz
um spätere Schäden und die Entwicklung psychiatrischer Krankheiten zu verhindern. Kinderärzte können dazu beitragen, indem sie betroffene Eltern über die Diagnosestellung
■ Sind die Eltern und Erzieher nicht bereit, sich auf das spezielle Wesen des ADS/ADHS-Kindes einzustellen, aus einer erzieherischen Sturheit oder einem falschen Gerechtigkeitssinn heraus, so können sie diese Kinder durch ihre falsche Erziehung schädigen und die Entwicklung sekundärer psychiatrischer Krankheiten auslösen.
hinaus in Verhaltensfragen beraten.
URSULA DAVATZ
Die Diagnose des ADS/ADHS, früher frühkindliches POS genannt, ist heutzutage nicht mehr umstritten, sondern allgemein anerkannt, da man die Hirnstörung bildlich darstellen kann. Die Behandlung dieser Diagnose im Kindesalter mit Ritalin® ist akzeptiert und weitverbreitet. Doch der Umgang mit diesen Kindern im Alltag, zu Hause in der Familie oder in der Schule ist nach wie vor nicht einfach. Selbst wenn die Ritalin-Therapie bei manchen Kindern mit dieser Diagnose eine verblüffende Verbesserung mit sich bringt, löst sie dennoch nicht alle Verhaltensprobleme. Manche Kinder reagieren auch gar nicht darauf, sodass die Eltern und Fachleute sich nach anderen Methoden umsehen müssen.
Die Rolle der Erziehung
Man ist häufig nicht viel gescheiter im Umgang mit diesen Kindern als zu Zeiten, da der Arzt Heinrich Hoffmann das Kinderbuch «Struwwelpeter» mit dem Zappelphilipp geschrieben hat. Diese einschüchternde und abschreckende Erziehungsmethode hat jedoch in der heutigen Zeit der demokratischen Mitbestimmung keinen Platz mehr und wirkt altmodisch und absurd. Es käme heute keinem Kinderarzt in den Sinn, der verzweifelten Mutter eines ADS/ADHS-Kindes eine Glanzbroschüre des Zappelphilipps als Erziehungsanleitung für ihr schwieriges Kind in die Hand zu drücken. Neben all den spezialisierten modernen Behandlungsmethoden wie Psycho-
motorik, Lerntherapie, Kinesiologie oder Pharmakotherapie mit Ritalin oder Antidepressiva sind die Eltern angewiesen auf eine zeitgemässe Erziehungsberatung und Anleitung im Umgang mit ihrem «schwierigen» Kind, denn diese Kinder stellen hohe Anforderungen an Eltern und Lehrer. Leider mangelt es nach wie vor an entsprechenden Beratungsstellen. Eltern wie Lehrer greifen dann meist auf ihren gewohnten Erziehungsstil zurück, den sie selbst in der Kindheit von ihren Eltern gelernt haben. Dieser Erziehungsstil passt aber nicht unbedingt zum Kind und richtet manchmal grösseren Schaden an als die Störung oder das Handicap des ADS/ADHS selbst, sodass wir später im Erwachsenenalter bei diesen Kindern eine sekundäre psychiatrische Diagnose vorfinden, die man hätte vermeiden können, wenn das Kind eine adäquate Erziehung erhalten hätte. Das heisst eine Erziehung, die seinem Wesen entspricht und es fördert, anstatt ihm zu schaden. Im Folgendem sollen ungünstige Erziehungsstile aufgeführt und die Interaktion zwischen Eltern und Kind aufgezeigt werden:
Streng, rigid, autoritär und bestrafend Es ist ein häufig verbreiteter Glaube, dass ADS/ADHS-Kinder eine strenge Hand brauchen, mit klaren – um nicht zu sagen harten – Grenzen, weil sie sich sonst sozial nicht einordnen könnten und sämtliche Grenzen überschreiten würden. Es trifft durchaus zu, dass ADS-Kinder – insbesondere ADHS-Kinder, das heisst Kinder mit hyperkinetischem Syndrom – in der Regel Mühe haben, sich an Grenzen zu gewöhnen, Regeln einzuhalten und sich oft sehr heftig dagegen wehren. Einfach ausgedrückt kann man es so beschreiben, dass diese Kinder viel stärker auf die innere Stimme hören (und ihrer eigenen inneren
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Motivation folgen) als auf die äussere erzieherische Stimme der Eltern. Wenn sie mit etwas intensiv beschäftigt sind oder sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, kann man sie kaum davon abbringen. Man bezeichnet sie deshalb als dickköpfig, wenn es einem nicht gelingt, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und sie auf keinen Befehl hören. Sie nehmen Aufforderungen nicht wahr, ignorieren sämtliche Befehle oder Fragen und werden dadurch zu unaufmerksamen, unfolgsamen Kindern gestempelt. Wenn Eltern mit ihren Anweisungen kaum je durchkommen, fühlen sie sich in ihrer Autorität nicht akzeptiert. Sie reagieren frustriert, schliesslich wütend und aggressiv und beginnen zu bestrafen, um das Kind dadurch zum Gehorsam zu zwingen. Das Kind wird dadurch eingeschüchtert und gehorcht kurzfristig aus Angst. Aber häufig hält dies nicht lange an, denn seine innere starke Stimme bleibt ihm erhalten, sie gehört zu seinem Wesen und kann auch durch Angst auslösende erzieherische Massnahmen nicht beseitigt werden. Die Eltern geraten mit ihren wirkungslosen Interventionen in einen ständigen Machtkampf mit dem Kind, in einen Teufelskreis, bei welchem sie zum Schluss immer als Verlierer vom Platz gehen, da die Persönlichkeit des Kindes stärker ist als die Erziehungsabsicht. Falls sie sich dennoch langfristig mit Gewalt durchsetzen – denn sie sind natürlicherweise trotz allem am längeren Hebel – und den Willen des Kindes brechen, schwächen respektive schädigen sie seine Persönlichkeit. Dieser scheinbare Sieg der Eltern über die Persönlichkeit ihres Kindes kann im Erwachsenenalter zu einer Persönlichkeitsstörung führen. Ein solches Kind ist dann im wahrsten Sinne des Wortes ein erziehungsgeschädigter Mensch. Steht den ADS/ADHS-Kindern aber dennoch genügend Energie zur Verfügung, um sich im Jugend- und Erwachsenenalter dagegen zu wehren und aufzubäumen, durchbrechen sie oft alle Grenzen. Sie halten sich nicht mehr an die Regeln der Gesellschaft, sondern stellen ihre eigenen auf. Man bezeichnet dies als «antisoziale Persönlichkeitsstörung». Statistiken haben gezeigt, dass sich unter Gefangenen, also unter Delinquenten, überdurchschnittlich viele ADS/ADHS-Kinder befinden. Ich gehe von der Annahme aus, dass es sich bei diesen genau um solche «erziehungsgeschädigten» Kinder handelt, die zu hart und zu bestrafend angepackt wurden, sodass sie sich später derart wehren mussten, über die Stränge geschlagen haben und delinquent geworden sind. Ein allzu strenger und bestrafender Erziehungsstil kann also zu Delinquenz im Erwachsenenalter führen. ADS/ADHS-Kinder sollen deshalb vielmehr mit einer ruhigen Hand und klaren Rahmenbedingungen geführt werden, die sich nur aufs Wesentliche beschränken. Diese Art von Erziehung muss zusätzlich mit einer gewissen Flexibilität und Toleranz vorgehen, sie muss manchmal auch fünf gerade sein lassen. Sie darf sich niemals rigide versteifen, sonst kommt es zum schädlichen Machtkampf, der nur das Gegenteil des angestrebten erzieherischen Ziels erreicht. Dann läuft die Entwicklung aus dem Ruder, und das Kind ist überhaupt nicht mehr leitbar. Will man erfolgreich sein, soll man zudem vor jedem Befehl, den man erteilt, zuerst die Aufmerksamkeit des Kindes erlangen und eine emotionale Beziehung zu ihm herstellen.
Überredend und überzeugend Der überredende und überzeugende Erziehungsstil gilt als demokratisch und modern im Gegensatz zum bestrafenden, autoritären Stil. Viele ADS/ADHS-Kinder haben jedoch wegen ihrer Aufmerksamkeitsstörung Mühe, längeren Ausführungen und Instruktionen zuzuhören. Nach dem dritten Wort sind sie gedanklich schon abgeschweift. Viele wohlmeinende Erziehende von ADS/ADHS-Kindern erklären viel zu wortreich, bevor sie auf den Punkt kommen. Häufig haben ADS/ADHS-Kinder zusätzlich Teilleistungsstörungen wie etwa eine Legasthenie und Gedächtnisstörungen im seriellen Gedächtnis, sodass sie ausführliche Anweisungen gar nicht aufnehmen können. Aus diesem Grund sollte man ADS/ADHS-Kinder nur immer kurze und klar formulierte Befehle geben und immer nur einen aufs Mal. Sonst kann beim Kind eine Überstimulierung stattfinden, die zu einer Überempfindlichkeit und somit zu einem überreizten emotionalen Zustand führt, der dann ebenfalls zu einem sekundären psychiatrischen Krankheitsbild im Jugendalter führen kann, nämlich zu einem akuten psychotischen Schub. Auch unter den Schizophrenen konnten vermehrt Menschen mit ADS/ADHS im Kindesalter festgestellt werden. Der weichenstellende Faktor, warum ein solches Kind im Jugendalter delinquent oder schizophren wird, ist der Erziehungsstil. Beständiges Auf-das-Kind-Einreden, vor allem wenn die Stimmung emotional geladen ist, erzeugt bei den ADS/ADHS-Kindern einen «stimulus overflow». In diesem übererregten Zustand ist das Kind nicht mehr in der Lage, irgendeinen Befehl entgegenzunehmen oder etwas zu lernen. Es kann sich nur noch dagegen wehren und «alle Viere von sich strecken». Das Kind hat in einem solchen Augenblick einen Tobsuchtsanfall als Abwehrverhalten oder zieht sich autistisch zurück ins Schneckenhäuschen. Begreifen Eltern nicht, dass dieses Abwehr- oder Rückzugsverhalten reiner Selbstschutz ist und versuchen sie weiter, auf das Kind Einfluss zu nehmen, so eskaliert die Interaktion zusehends, bis das Kind in einen psychotischen Zustand ausbricht oder eine gewalttätige Interaktion zwischen beiden Parteien stattfindet. Eltern sollten merken, wenn sie die Grenze des Erträglichen beim Kind überschritten haben. In diesem Augenblick müssen sie sofort vom Kind ablassen. Erst wenn emotional wieder Ruhe eingetreten ist, können sie mit ihren erzieherischen Anliegen wieder beginnen, allerdings ohne jeglichen emotionalen Druck. Diese Situation ist vergleichbar mit einem Computer, der einen «overload» hat: Man muss als erste Massnahme den Stecker herausziehen, das heisst die Energie wegnehmen und dann wieder neu starten. Beim ADS/ADHS-Kind muss die emotionale Energie heruntergefahren werden. Eltern müssen in diesem Augenblick ganz loslassen können von ihren erzieherischen Bemühungen. Sie dürfen nicht Angst haben davor, sie würden dem aggressiven Verhalten des Kindes dadurch Vorschub leisten. Das aggressive Verhalten des Kindes ist in diesem Fall kein willentliches Verhalten, sondern eine defensive emotionale Notwehr, die auf dem automatisierten
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Stressverhalten basiert, ausgelöst durch das Gefühl der Existenzangst. Unter dem Gefühl der Existenzangst lässt sich keine auch noch so gut gemeinte Erziehung mehr durchführen.
Hohe emotionale Sensibilität Da ADS/ADHS-Kinder häufig impulsiv sind und ihre aggressiven Impulse schlecht kontrollieren können, denkt man immer, sie seien emotional sehr robust, im Sinne von: «Was sie austeilen, müssen sie auch einstecken können.» Dies trifft aber in keiner Weise zu. ADS/ADHS-Kinder können zwar ihre aggressiven Impulse schlecht kontrollieren, sie sind aber alles andere als unsensibel. Im Gegenteil, diese Kinder sind in der Regel geradezu hypersensibel und «gschpürig», haben so etwas wie einen sechsten Sinn. Meist sind es diejenigen Kinder, die in einer Klasse oder in ihrer Familie als Erste eine emotionale Unstimmigkeit, eine Spannung wahrnehmen oder als Erste spüren, wenn es der Mutter oder dem Vater schlecht geht. Ihre Reaktion auf ihre sensible Wahrnehmung kann unterschiedlich sein. Sie können bei der Mutter nachfragen, was los ist, um die Situation zu verstehen. Sie können aber auch aggressiv oder gereizt reagieren auf eine familieninterne unausgesprochene Spannung. Durch ihr aggressives Ausagieren der emotionalen Spannung werden sie leider häufig zum Sündenbock der Gruppe. Man fokussiert sie als Störenfried und weist sie disziplinarisch zurecht, obwohl sie eigentlich gar nicht die Ursache des Problems sind, sondern nur dessen Aufzeiger, quasi als unbewusste «trouble shooter». Ist man jedoch nicht gewillt, das dahinter liegende Problem wahrzunehmen, bleibt man bei der disziplinarischen Massnahme des Sündenbocks. Diese Kinder werden somit leicht zu «bösen» Kindern gestempelt. Sie empfinden diese Rolle als Sündenbock selbstverständlich als ungerecht und wehren sich wiederum aggressiv dagegen oder ziehen sich entmutigt zurück und werden depressiv. Die depressive Reaktion auf die für sie als ungerecht empfundene Behandlung stellt ein weiteres sekundäres Krankheitsbild dar, welches bei diesen Kindern im Erwachsenenalter auftreten kann und dann als Depression diagnostiziert wird. Um eine solche sekundäre Schädigung dieser Kinder zu vermeiden, ist es also absolut wichtig, dass sowohl Eltern wie Erzieherpersonen sich der Hypersensibilität bei diesen Kindern bewusst sind und entsprechend Rücksicht darauf nehmen. Auch wenn die Kinder noch so aggressiv und impulsiv sind, dürfen Eltern niemals mit der gleichen Vehemenz antworten, im Gegenteil, sie sollen umso ruhiger reagieren, um die hohe Emotionalität des Kindes herunterzufahren. Das Kind hat ein Recht auf «Welpenschutz». Es darf nicht als Erwachsener betrachtet werden, auch wenn es die aggressive Energie eines Erwachsenen an den Tag legt. Es gilt die Regel: Emotionen können nicht erzogen werden, Emotionen können nur beruhigt werden. In Anbetracht der hohen Sensibilität dieser Kinder sind die Eltern unbedingt dazu aufgefordert, einen emotional ruhigen Erziehungsstil anzuwenden und immer zuerst auf ihre eigene innere Zentriertheit zu achten, bevor sie erzieherisch auf ihr Kind zugehen. Ist
ihnen die innere Ruhe noch nicht möglich, lassen sie besser sämtliche erzieherische Aktivität vorderhand ruhen, denn sie giessen nur Öl ins Feuer und geraten immer weiter weg von ihrem erzieherischen Ziel.
Schlussbemerkung
ADS/ADHS-Kinder stellen eine besondere erzieherische Her-
ausforderung für Eltern und Erzieher dar. Stellen die Erwachse-
nen sich jedoch dieser Herausforderung und sind bereit, in der
Auseinandersetzung mit ihrem Kind auch von ihm zu lernen, es
in seiner Persönlichkeit, in seinem eigenen Wesen zu verstehen
und dann entsprechend darauf einzugehen, können diese Kin-
der zu äusserst interessanten, kreativen und unternehmeri-
schen Persönlichkeiten heranwachsen. Manche sagen sogar,
den ADS/ADHS-Kindern gehöre die Zukunft, weil sie eine
grosse Fähigkeit zur Kreativität und Intuition haben und da-
durch System verändernd wirken können. Zudem besitzen sie
ein hohes Mass an emotionaler Intelligenz, vorausgesetzt, dass
sie nicht durch die Erziehung geschädigt wurden.
Sind die Eltern und Erzieher nicht bereit, sich auf das spezielle
Wesen des ADS/ADHS-Kindes einzustellen, aus einer erziehe-
rischen Sturheit oder einem falschen Gerechtigkeitssinn heraus,
so können sie diese Kinder durch ihre falsche Erziehung schä-
digen und die Entwicklung sekundärer psychiatrischer Krank-
heiten auslösen. Es ist die Aufgabe der Kinderärzte und Neuro-
psychologen, nicht nur die Diagnose zu stellen, sondern den
Eltern auch die entsprechende Unterstützung in ihrer schwieri-
gen erzieherischen Aufgabe zukommen zu lassen oder sie doch
zumindest an eine entsprechende Stelle zu vermitteln.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Ursula Davatz Spezialärztin für Psychiatrie FMH
Mäderstrasse 13 5400 Baden
Tel. 056-200 08 10 E-Mail: bsuter@ganglion.ch
Internet: www.ganglion.ch
Interessenkonflikte: keine
Dr. med. Ursula Davatz leitet in Baden die Gruppe «POS-Kind – eine Herausforderung für Eltern und Lehrpersonen», in der betroffene Eltern Unterstützung erhalten können.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Pädiatrie 4/05. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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