Transkript
ÜBERSICHT q APERÇU
Chronische Verstopfung
Ursachen, Diagnostik und Therapie
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Bei chronischer Obstipation
sollten die verschiedenen
Therapieoptionen – Ernäh-
rungsumstellung, Fasern,
osmotische und stimulierende
Laxativa – schrittweise zum
Einsatz kommen. Bei Defäka-
tionsstörungen ist auch der
Einsatz einer Biofeedback-
Therapie zu erwägen.
Eine einzige, eindeutige Definition der Obstipation gibt es nicht. Die meisten Patienten definieren Verstopfung über eines oder mehrere der folgenden Symptome: harte Stühle, seltener Stuhlgang (typischerweise weniger als dreimal pro Woche), Notwendigkeit starken Pressens, Gefühl der unvollständigen Entleerung und grosser Zeitaufwand auf der Toilette beim Stuhlgang. Eher für Forschungszwecke ist die Definition der Obstipation nach den Rom-II-Kriterien entstanden (Tabelle 1).
Ursachen, Pathophysiologie Die Verstopfung ist oft ein multifaktorielles Geschehen, bei dem systemische und neurologische Störungen oder Medikamentenwirkungen involviert sind. Heute
wird eine Einteilung in drei Kategorien propagiert: q Obstipation mit normaler Stuhl-Transit-
zeit (Normal-Transit Constipation) q Obstipation mit verlängerter Stuhl-
Transitzeit (Slow-Transit Constipation) q Störungen der Defäkation und
Rektumevakuation.
Obstipation mit normaler Transitzeit Dies ist die in der Praxis häufigste Form («funktionelle Verstopfung»). Der Darminhalt wird mit normaler Geschwindigkeit transportiert, auch die Stuhlfrequenz ist normal, aber die Betroffenen erleben sich wegen Schwierigkeiten beim Stuhlgang und wegen harter Stühle als konstipiert. Blähungsgefühl, Bauchschmerzen oder unbestimmte Bauchbeschwerden können ebenso wie erhöhter psychosozialer Stress begleitend vorliegen. Typischerweise spricht diese Form der Verstopfung auf eine Behandlung mit faserreicherer Ernährung und allenfalls osmotischen Laxativa an. Trifft dies nicht zu, muss an andere Ursachen gedacht und nach ihnen gesucht werden.
Defäkationsstörungen Hierbei liegt am häufigsten eine Dysfunktion des Beckenbodens oder Analsphinkters vor. Die längere Vermeidung der Stuhlentleerung wegen des Schmerzes bei grossen, harten Stühlen oder Analfissur oder Hämorrhoiden kann zur Defäkationsstörung beitragen und sie verstärken. Strukturelle Abnormitäten wie Rektumintussuszeption, Rektozele und exzessive Dammsenkung sind seltene Ursachen. Die unvollständige Rektumentleerung kann Folge einer Unfähigkeit zur Koordination von abdominalen, rektoanalen und Beckenbodenmuskeln sein.
Merk-
punkte
q Die Obstipation lässt sich in drei Kategorien einteilen: solche mit normaler und mit verlängerter Transitzeit des Darminhalts durch das Kolon sowie Defäkationsstörungen.
q Zur Abklärung gehören eine ausführliche Anamnese, die Inspektion der Perianalregion und die digitale Rektaluntersuchung.
q Zunächst ist in der Behandlung eine Steigerung der Faserzufuhr anzustreben, einerseits über Änderungen der Ernährung (mehr Obst und Früchte), andererseits über Fasersupplemente.
q In einem nächsten Schritt sollen osmotische Laxativa versucht werden, bis zu deren Wirkungseintritt es jedoch einige Tage braucht.
q Stimulierende Laxativa sowie eine Therapie mit Tegaserod sollen für Patienten mit schwerer Obstipation reserviert bleiben, die mit Fasern und osmotischen Laxativa nicht befriedigend behandelt sind.
Obstipation mit verlängerter Transitzeit Diese Art der Verstopfung kommt am häufigsten bei jungen Frauen vor, die sehr seltenen Stuhlgang haben (einmal pro
ARS MEDICI DOSSIER XIIq2004 7
ÜBERSICHT q APERÇU
Chronische Verstopfung
Woche oder weniger). Der Beginn liegt oft in der Pubertät. Begleitsymptome sind seltener Stuhldrang, Blähungsgefühl und Bauchweh. Bei nur geringfügig verlängerter KolonTransitzeit können kulturelle und Ernährungsfaktoren zu den Symptomen beitragen. Hier kann eine gute Beratung und Anleitung zu einer faserreichen Ernährung das Problem beheben. Bei höhergradig verlängerter Transitzeit sind Fasern und Laxativa wenig wirkungsvoll. Solche Patienten haben eine verzögerte Entleerung des proximalen Kolons und weniger Propulsivkontraktionen des Kolons nach einer Mahlzeit. Histopathologische Studien bei Patienten mit stark verlängerter Transitzeit haben Veränderungen an den myenterischen Neuronen gezeigt. Der Morbus Hirschsprung ist die ausgeprägteste Form eines solchen myenterischen Defizits.
Tabelle 1:
Rom-II-Kriterien für Obstipation
Erwachsene 2 oder mehr der folgenden Kriterien während 12 (nicht zwingend konsekutiven) Wochen in den vorangegangenen 12 Monaten: q Anstrengung bei > 25% der Defäkationen q verklumpte oder harte Stühle bei > 25% der Defäkationen q Gefühl der unvollständigen Entleerung bei > 25% der Defäkationen q Gefühl der anorektale Blockade bei > 25% der Defäkationen q Manuelle Manöver zur Erleichterung bei > 25% der Defäkationen q < 3 Defäkationen pro Woche q keine Durchfälle und ungenügende Kriterien für ein Reizdarmsyndrom
Säuglinge und Kinder q kieselsteinähnliche, harte Stühle bei der Mehrheit der Darmentleerungen
während mindestens 2 Wochen
q feste Stühle ≤ 2-mal pro Woche während mindestens 2 Wochen
q keine Hinweise auf strukturelle, endokrine oder metabolische Erkrankungen
Abklärung
Eine gründliche Anamnese kann die meisten Ursachen für eine sekundäre Obstipation ausschliessen. Die Frage nach der Konsistenz der Stühle gibt Hinweise auf ausgeprägte Veränderungen der KolonTransitzeit. Zur Abklärung der Obstipation gehört auch die Inspektion der Analregion mit Suche nach Narben, Fissuren, Fisteln und äusseren Hämorrhoiden. Die Beobachtung des Perineums in Ruhe und beim Pressen gibt Hinweise auf eine Unfähigkeit zur Relaxation des Beckenbodens oder über eine Lockerung desselben, etwa nach Geburten oder jahrelangem heftigem Pressen bei der Defäkation. Im Normalfall senkt sich der Damm durch Pressen um 1,0 bis 3,5 cm. Notwendig ist zur ordentlichen Abklärung auch die digitale Rektaluntersuchung. Zu achten ist auf den Sphinktertonus in Ruhe und unter willkürlicher Anspannung sowie auf Kotimpaktation. Zu den Laboruntersuchungen, die gelegentlich nützlich sein können, gehören ein Schilddrüsentest, Messung von Kalzium, Glukose und Elektrolyten, Blutbild und Urinstatus. Bei den bekannten Warnsymptomen – neu aufgetretene oder akut
verschlechterte Obstipation, Blut im Stuhl, Gewichtsverlust, Fieber, Anorexie, Übelkeit oder Erbrechen sowie familiäre Belastung mit entzündlichen oder neoplastischen Darmerkrankungen – muss eine eingehende Untersuchung des Kolons erfolgen. Bei Personen unter 50 Jahren reicht eine Sigmoidoskopie aus, bei älteren soll ein Karzinom mittels Kolonoskopie (oder Sigmoidoskopie plus BariumEinlauf) ausgeschlossen werden. Weitergehende Abklärungen wie die Messung der Kolon-Transitzeit, eine anorektale Manometrie, ein Ballon-Expulsionstest oder eine Defäkografie nach Barium-Einlauf sind refraktären Fällen oder dem Verdacht auf eine sekundäre Ursache vorbehalten.
Management
Eine Steigerung der Flüssigkeitszufuhr und der körperlichen Aktivität scheinen eine chronische Verstopfung nicht beheben zu können (ausser bei dehydrierten Patienten). Patienten mit normalem oder langsamem Kolontransit sollten ihre tägliche Zufuhr von Fasern auf 20 bis 25 g pro Tag steigern, entweder durch Ernährungs-
änderungen oder mittels kommerzieller Fasersupplemente. Wirkt die Fasertherapie nicht ausreichend, soll ein Versuch mit einem osmotischen Laxativum auf Basis von Lactulose (z.B. Duphalac®, Gatinar®, Rudolac®, Legendal®) oder Polyethylenglykol (Transipeg®) erfolgen (Tabelle 2). Die Dosis ist dabei so anzupassen, dass weiche Stühle erzielt werden. Stimulierende Laxativa – Bisacodyl (Dulcolax®) oder Senna-Präparate (z.B. Agiolax® mit Senna) – sowie eine Therapie mit dem partiellen 5-HT4-Rezeptoragonisten Tegaserod (Zelmac®) sollen für Patienten mit schwerer Obstipation reserviert bleiben, die mit Fasern und osmotischen Laxativa nicht befriedigend behandelt sind. Bei Defäkationsstörungen kann ein Training der Stuhlentleerung mittels Biofeedback Hilfe bringen. Schwere Defäkationsstörungen sprechen oft erst auf relativ hohe Dosen oraler Abführmittel an, die dann zu wässriger Diarrhö und anderen Nebenwirkungen führen können. Bei Kotimpaktation sollte eine manuelle Evakuation, allenfalls auch mit Einläufen, erfolgen. Um weitere solcher Episoden zu
8 ARS MEDICI DOSSIER XIIq2004
ÜBERSICHT q APERÇU
Chronische Verstopfung
Tabelle 2:
Häufig eingesetzte Medikamente bei Verstopfung
Quellmittel Erhöhung des Darminhalts im Kolon führt zur Stimulation der Peristaltik. Natürliche Fasern können bakteriell abgebaut werden und zu Blähungen und Flatus beitragen. Quellmittel sollten immer mit viel Wasser eingenommen werden, um intestinale Obstruktionen zu vermeiden. Allergische Reaktionen (Anaphylaxie, Asthma) sind selten.
Osmotische Laxativa Sie ziehen entlang des osmotischen Gradienten Wasser in die Därme. Bei salinischen Laxativa kann es zur Resorption geringer Mengen von Magnesium oder Phosphat kommen (cave: Niereninsuffizienz, Kinder).
Schwer resorbierbare Zucker, Zuckeralkohole, Polyethylenglykol Lactulose ist ein synthetisches Disaccharid, das im Dünndarm nicht resorbiert wird. Bakterieller Abbau führt zu kurzkettigen Fettsäuren. Blähungen und Flatus sind häufige Nebenwirkungen. Polyethylenglykol wird von Darmbakterien nicht metabolisiert.
Stimulierende Laxativa Dazu gehören Anthrachinone (z.B. Senna) oder Bisacodyl. Sie stimulieren direkt die intestinale Motilität und Sekretion. Anthrachinone werden durch Kolonbakterien in ihre aktive Form umgewandelt. Die resultierende Melanosis coli ist harmlos und gewöhnlich innerhalb von 12 Monaten nach Absetzen reversibel; eine Beziehung zu Kolonkarzinomen oder myenterischen Nervenschädigungen liess sich nicht nachweisen.
Einläufe und Suppositorien Sie fördern die Stuhlentleerung durch Dehnung des Rektums und Aufweichung harter Stühle sowie topische Stimulation der Kolonmuskulatur.
Cholinergika Bethanechol (Myocholine-Glenwood®) scheint bei durch trizyklische Antidepressiva verursachter Obstipation nützlich zu sein.
Prokinetika Zu ihnen gehörten das wegen Arrhythmieproblemen zurückgezogene Cisaprid und neuerdings Tegaserod. Tegaserod verringert Schmerzen und Blähungen und erhöht die Stuhlfrequenz und -konsistenz bei Frauen mit Reizdarmsyndrom, bei denen die Verstopfung das überwiegende Symptom ist.
verhüten, ist auf eine ausreichende Faserzufuhr zu achten, und es sind Abführmittel so einzusetzen, dass es zu regelmässigen Stuhlabgängen kommt.
Quellmittel Die Compliance lässt beim Einsatz von Fasersupplementen oft zu wünschen übrig, da die Patienten durch Nebenwirkungen wie Flatulenz, Blähungen und unangenehmen Geschmack gestört werden. Um solche Probleme zu umgehen, sollte der Rat erfolgen, die tägliche Faserzufuhr über einen Zeitraum von zwei Wochen nur langsam auf 20 bis 25 g zu steigern. Zunächst sollen vermehrt faserreiches Obst und Gemüse verzehrt werden. Wenn dies nicht ausreicht, sollte man einen Versuch mit einem Supplement, beispielsweise mit Flohsamen (Agiolax®, Metamucil®), machen.
Laxativa Osmotische Laxativa werden schlecht oder gar nicht resorbiert und führen zur Wasserausscheidung in den Darm. Die meisten osmotischen Laxativa benötigen bis zum Wirkungseintritt mehrere Tage. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz oder kardialer Dysfunktion können osmotische Abführmittel zu Elektrolyt- und Volumenüberlastung führen. Bei übersteigertem Einsatz kann es zur Dehydratation kommen. Stimulierende Laxativa erhöhen die intestinale Motilität und Sekretion. Sie wirken innerhalb von Stunden und können Bauchkrämpfe hervorrufen. Stimulierende Laxativa hatten eine Zeit lang einen schlechten Ruf. So sollten sie einen Verlust der Kolonhaustrierung verursachen, was aber durch Daten nicht gestützt wird, und
die braunschwarze Verfärbung der Kolonschleimhaut (Melanosis coli) unter Anthrachinonen sollte mit Dickdarmkrebs und anderen Kolonstörungen in Beziehung stehen, was sich ebenfalls nicht hat beweisen lassen. Nach Absetzen der Medikation verschwindet die Melanosis coli übrigens mit der Zeit. Tegaserod verbessert die Stuhlkonsistenz und -frequenz bei Frauen mit Reizdarmsyndrom und Obstipation.
Biofeedback Bei der Biofeedback-Therapie erhalten die Patienten visuelle oder akustische Signale, die ihnen helfen, ihren Analsphinkter und die Beckenbodenmuskeln anzuspannen und zu entspannen. Für den Erfolg sind eine gute Patientenschulung und ein guter Rapport zwischen Therapeut und
10 A R S M E D I C I D O S S I E R X I I q 2 0 0 4
Chronische Verstopfung
Patient ausschlaggebend. In einem syste-
matischen Review ergab sich eine Gesamt-
erfolgsrate von 67 Prozent, kontrollierte
Studien fehlen aber. Der Nutzen des Bio-
feedbacks scheint lang anhaltend zu sein.
Diese Therapie ist bei Dammsenkung je-
doch weniger effektiv als bei anderen De-
fäkationsstörungen.
Bei spastischen Beckenbodenmuskeln
sind auch Injektionen von Botulismustoxin
in den M. puborectalis versucht worden,
offenbar mit Erfolg. Kontrollierte Studien
fehlen, sodass diese Behandlung vorläufig
keine valable Alternative zum besser do-
kumentierten Biofeedback ist.
q
Anthony Lembo, Michael Camilleri (Gastroenterolgoy Division, Beth Israel Deaconess Medical Center, Boston, and Gastroenterology Division, Mayo Clinic, Rochester/USA): Chronic constipation. NEJM 2003; 349: 1360–1368.
Halid Bas
Interessenkonflikte: Beide Autoren deklarieren Beraterhonorare mehrerer grosser Pharmafirmen. Die Übersicht im NEJM wurde durch Gelder der National Institutes of Health, Bethesda, unterstützt.