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Bedeutung der Ernährung bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
URSULA WILLI
Die Ernährungstherapie bei
Patienten mit chronisch ent-
zündlichen Darmerkrankun-
gen (CED) hat zum Ziel, den
Ernährungszustand zu ver-
bessern, Ernährungsdefizite
auszugleichen, die Lebens-
qualität zu verbessern und
die Symptome im akuten Ent-
zündungsschub zu verringern.
Es gibt keinen klaren Hinweis, dass bestimmte Ernährungsformen an der Entstehung von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa beteiligt sind. Ein akuter Entzündungsschub wird nicht durch «falsches Essen und Trinken» hervorgerufen, und es gibt keine bestimmten Nahrungsmittel oder Speisen, die die Schwere der Erkrankung oder die Rezidivrate prinzipiell bei allen Patienten gleichermassen beeinflussen. Von pauschalen Crohn- oder KolitisErnährungsempfehlungen sowie unnötigen, nicht fundierten Nahrungsmitteleinschränkungen ist abzuraten. Sie erhöhen das Risiko einer Malnutrition. Hingegen hat die bedarfsgerechte Ernährung im akuten Entzündungsschub sowie in der Remission einen wesentlichen Einfluss auf Schweregrad und Verlauf der Erkrankung.
Einfluss der CED auf Energieund Substratstoffwechsel
Bei vielen Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen findet sich ein unzureichender Ernährungszustand. Die Ursachen, die zu Mangelzuständen führen, sind vielfältig: q Angst vor Schmerzen oder einem Rezi-
div. Der Patient handelt nach dem Grundsatz: «Ich esse lieber nichts als etwas Falsches.» q Verminderte Nahrungsaufnahme, bedingt durch Bauchschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit. q Malabsorption als Folge von Entzündungen im Dünndarm, Darmresektionen oder medikamentös induziert. q Intestinaler Proteinverlust (50–70% der Crohn-Patienten leiden im akuten Entzündungsschub unter intestinalem Proteinverlust). q Gesteigerter Energieverbrauch bei Sepsis oder Abszessen. Die Malnutrition wirkt sich negativ auf den Krankheitsverlauf, die postoperative Komplikationsrate und die Mortalität der Patienten aus. Der erforderliche stationäre Aufenthalt wird verlängert.
Die durch eine Malnutrition hervorgerufenen Komplikationen können den Patienten oftmals mehr schwächen als der zugrunde liegende entzündliche Prozess. Prävention und Behandlung der Malnutrition sollten daher obligate Bestandteile der Therapie chronisch entzündlicher Darmerkrankungen sein.
Ernährung in der akuten Entzündungsphase
Auch im akuten Entzündungsschub muss der Patient ernährt werden, wobei die orale Ernährung (falls keine Stenosen oder Fisteln vorliegen) zu bevorzugen ist. Dabei empfiehlt es sich, die Kost nahrungsfaserund laktosearm zu gestalten. Die Aktivität der Laktase kann im entzündlichen Schub (bei Morbus Crohn) vermindert sein. Sehr oft wird jedoch keine bedarfsdeckende orale Ernährung erreicht. In solchen Fällen kann sie durch bilanzierte, energiereiche Trinknahrung ergänzt werden. Im Mittel kann eine Kalorienzufuhr von zirka 600 kcal pro Tag zusätzlich zur normalen Kost erreicht werden. Bei höherem Kaloriendefizit wird eine enterale Ernährung (Sondennahrung) oder eventuell par-
Häufigkeit nutritiver Störungen und Nährstoffmängel
Untergewicht Anämie Folsäuremangel Vitamin-B12-Mangel Eisenmangel Intestinaler Proteinverlust im Schub Osteopathien Vitamin D Zink
Morbus Crohn 65–75% 25–80% 50–79% 16–39% 10–44% 50–70% 24–39% 25–75% 20–40%
Colitis ulcerosa 18–55% 22–68% 5–20% 8–30% 30–80%
0–15% 35%
24 A R S M E D I C I D O S S I E R X I I q 2 0 0 4
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Bedeutung der Ernährung bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
enterale Ernährung ergänzend zur oralen Ernährung notwendig. Die kontinuierliche Applikation der enteralen Sondennahrung sollte wegen der geringeren Komplikationsrate gegenüber der parenteralen Ernährung bevorzugt werden. Über die allgemeinen Kontraindikationen der enteralen Ernährung hinaus gibt es keine besonderen Kontraindikationen, die bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa zu beachten wären.
Ernährung in der Remission
Grundsätzlich ist zu sagen, dass es keine «Morbus-Crohn- oder Colitis-ulcerosaDiät» gibt. Die bis Anfang der Siebzigerjahre häufig verordnete «Darmschonkost» oder «Kolitis-Diät» war nahrungsfaserarm, enthielt keine blähenden Nahrungsmittel, wenig Fett und war schwach gewürzt. Ihr therapeutischer Effekt wurde niemals bewiesen. Die Betroffenen sollen essen, was ihnen gut bekommt. Unverträgliche Lebensmittel werden von den meisten Patienten automatisch gemieden. Entscheidend während der Remission ist es jedoch, eine bedarfsdeckende, ausgewogene Ernähr-
ung zu erreichen. Dabei sollen die Empfehlungen einer gesunden Ernährung (Lebensmittelpyramide) die Basis bilden. Die beschwerdefreie Zeit soll genutzt werden, um Defizite bei den Mikronährstoffen – zum Beispiel Eisen, Folsäure, Vitamin B12, Vitamin D, Kalzium – auszugleichen und den Gewichtsverlust aufzuholen.
Ernährungsberatung bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen
Durch die individuelle Beratung können Ängste vor dem Essen abgebaut werden. Wichtig ist es, die Bedenken der Patienten und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen und einfühlsam damit umzugehen. In der Beratung sollen die Gefahren einer einseitigen Ernährung unbedingt thematisiert werden. Durch eine bedarfsgerechte, ausgewogene Ernährung in der Remission können sich die Betroffenen eine gute «Ernährungsausgangslage» für einen nächsten Entzündungsschub schaffen. Dessen sind sie sich oft zu wenig bewusst. Hier soll die Beratung ansetzen. Von pauschalen Empfehlungen, zum Beispiel Abgeben von Listen mit geeigneten/unge-
eigneten oder leicht/schwer verdaulichen Lebensmitteln, ist in der Beratung abzusehen. Damit werden unnötigen Einschränkungen und Ängste gefördert. Die Patienten sollen dazu ermutigt werden, Unverträglichkeiten, die sehr individuell sein können, selbst zu eruieren. Die Beratung hat klar zum Ziel, Ernährungsdefizite zu erkennen (Ernährungsanamnese) und Massnahmen zum Ausgleich vorzuschlagen. Eine längere Betreuung (über den stationären Aufenthalt hinaus) kann durchaus sinnvoll sein, um den Ernährungszustand zu überwachen und die Patienten zu begleiten.q
1. Thieme, aktuelle Ernährungsmedizin, Januar 2003. 2. Thieme, Checkliste Ernährung, P. Sutter Ernährungsumschau 49 (2002) Heft 3.
Ursula Willi Dipl. Ernährungsberaterin
Kantonsspital Baden E-Mail: ursula.willi@ksb.ch
Interessenkonflikte: keine
ARS MEDICI DOSSIER XIIq2004