Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Degenerative Bandscheibenerkrankungen
Eine «Königsübung» für die lumbalen Bandscheiben
LOTHAR MARKUS
Dadurch, dass sich fast alle manuellen Aktivitäten (Heben, Tragen, Bücken etc.) im ventralen Raum, also vor uns, abspielen, ist der «Drang» der Bandscheibe nach dorsal nur natürlich. Ziel der «Königsübung für die lumbalen Bandscheiben» (1) welche vorbeugend schon frühzeitig eingesetzt werden sollte, ist, der geschilderten
Ein Blick auf die Bandscheiben
Die Bandscheiben (Disci intervertebrales) sind Verbindungsglieder zwischen den Wirbelkörpern und verbinden diese nach Art von Synchondrosen. Aufgrund ihrer besonderen Bauart ermöglichen sie die Bewegung der Wirbelsäule und fungieren zugleich als «Stossdämpfer», die den Druck auf die Wirbelsäule abfangen. Die Bandscheiben bestehen aus dem Gallertkern, dem Nucleus pulposus, und dem Faserring, dem Anulus fibrosus. Der Nucleus pulposus, der entwicklungsgeschichtlich aus Resten der Chorda dorsalis besteht, ist eine gallertige Masse mit einer hohen Wasserbindungskapazität und damit einem hohen Quellungsvermögen. Unter Druck ist er in der Lage, Flüssigkeit abzugeben, die er bei Entlastung wieder aufnimmt. Er kann sich so, ähnlich einem Wasserkissen, je nach Kräftewirkung anpassen. Der Anulus fibrosus besteht aus zugfesten kollagenen Fasern, die in zirkulären Schichten angeordnet und in den Deckplatten der Wirbelkörper verankert sind. Er bildet die seitliche Begrenzung für den Gallertkern und hält diesen in seiner zentralen Stellung. Durch sein hohes Quellungsvermögen übt der Gallertkern einen massiven Druck auf den Anulus fibrosus aus und droht diesen ständig zu sprengen. Dieser Druck auf den Anulus fibrosus und fehlende Reparationseigenschaften seines Gewebes sind wesentliche Voraussetzungen für degenerative Veränderungen. Bis zur Geburt waren die äusseren Schichten des Anulus fibrosus noch mit Blutgefässen versorgt (1, 7), welche ab dem 2. bis 4. Lebensjahr allerdings nicht mehr nachweisbar sind. Sie werden wahrscheinlich durch den hohen Druck auf die Bandscheiben beim Übergang zum aufrechten Gang mechanisch abgedrückt. Von diesem Zeitpunkt an werden die Bandscheiben ausschliesslich per diffusionem von den Wirbelkörpern durch die knorpeligen Deckplatten ernährt. Durch diese wesentlichen Veränderungen im Stoffwechsel sind Reparationsprozesse nicht mehr möglich.
Dorsalbewegung der Band-
scheibe entgegenzuwirken.
Es gibt kaum einen Menschen, der nicht irgendwann im Laufe seines Lebens an Beschwerden leidet, die auf degenerative Veränderungen seiner Bandscheiben zurückzuführen sind. Jeder zwölfte Patient in der Allgemein- und jeder dritte in der orthopädischen Praxis sucht den Arzt wegen eines Lumbalsyndroms auf. Hierbei handelt es sich nur um einen Bruchteil der Betroffenen – eine weitaus grössere Dunkelziffer behandelt die Beschwerden mit bekannten «Hausmitteln» selbst. Fast zwei Drittel aller
bandscheibenbedingten Erkrankungen betreffen die Lendenwirbelsäule (4).
Medizinisch und ökonomisch sehr bedeutend
Neben den Schmerzen für die Betroffenen verursachen bandscheibenbedingte Erkrankungen erhebliche sozioökonomische Folgen: Rückenschmerzen stehen in Deutschland derzeit hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitstage bei Männern an erster, bei Frauen an zweiter Stelle. Des Weiteren verursachen sie 17 Prozent aller Neuzugänge der BU- und EU-Renten sowie 36 Prozent aller stationären Rehabilitationsmassnahmen (6).
Verstärkt wird die medizinische und ökonomische Bedeutung des Lumbalsyndroms dadurch, dass vorwiegend Menschen im mittleren Lebensabschnitt, auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit, betroffen sind. Männer erkranken insgesamt etwas häufiger als Frauen (4). Die Beschwerden stellen sich bereits im 25. bis 30. Lebensjahr ein und erreichen um das 40. Lebensjahr ihre grösste Häufigkeit, mit den meisten Operationen lumbaler Bandscheibenvorfälle. Die Häufigkeit der Operationen geht nach dem 60. Lebensjahr deutlich zurück (4). Ursache für diese Altersverteilung ist die besondere «biomechanische Konstellation» der Bandscheibe.
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Degenerative Bandscheibenerkrankungen
Tabelle 1: Unterscheidungskriterien Bandscheibenprotrusion und -prolaps
Protrusion
äussere Fasern des Anulus fibrosus noch intakt; Prozess unter bestimmten Bedingungen reversibel; klinisch: so genanntes lokales Lumbalsyndrom (bei akuter Symptomatik spricht man von Lumbago)
Prolaps
Nucleus pulposus sprengt den Anulus fibrosus; Prozess irreversibel; meist kommt es zu einer Irritation des Spinalnervs und neurologischen Erscheinungen in den unteren Extremitäten (lumbales Wurzelreizsyndrom)
Die Übergänge zwischen Protrusion und Prolaps sind fliessend und können oftmals nur schwer voneinander abgegrenzt werden (4).
Tabelle 2: Kontraindikationen
q Lumbales Wurzelreizsyndrom (neurologische Reizerscheinungen im Bereich der unteren Extremitäten, evtl. verursacht durch einen bereits bestehenden Prolaps): Die Übung führt hier zu einer massiven Schmerzverstärkung mit Ausstrahlung in die unteren Extremitäten, da die bereits vorgefallenen Bandscheibenmassen durch die Erhöhung des Drucks verstärkt auf den Spinalnerv und das hintere Längsband gedrückt werden
q Pseudoradikulärsyndrom (als Folge von Reizerscheinungen im Bereich der Facettengelenke)
q Spondylarthrose: Beim Aufrichten des Oberkörpers kommt es zu einer erheblichen Reizung der Intervertebralgelenke, ihres Kapsel- und Bandapparats
q Alle entzündlichen Erkrankungen der Wirbelsäule q Tumore q Wirbelkörperverletzungen
Die «Königsübung für die lumbalen Bandscheiben»
Der Patient liegt horizontal auf einem Übungsgerät, auf welchem das Becken und die Beine fixiert werden, der Oberkörper hängt frei über (Abbildung 1). Aus diesem Überhang wird der Oberkörper bis in die Horizontale aufgerichtet (Abbildung 2). Hierzu ist eine erhebliche Anspannung vorwiegend der lumbalen Rückenstrecker erforderlich. Der Kopf wird in leicht anteflektierter Stellung gehalten, um eine Reizung von Halswirbelsäule und Nackenmuskulatur zu vermeiden. Das Aufrichten des Oberkörpers wird wiederholt, bis es zu einem leichten Ziehen der lumbalen Rückenstrecker kommt, dann wird pausiert. Ein untrainierter Patient sollte die Übung anfangs zirka zehnmal durchführen können, je nach Trainingszustand ist eine Steigerung ohne weiteres möglich. Bei wiederholter Durchführung der Übung kommt es zu einer Kräftigung insbesondere der lumbalen Rückenstrecker. Im Gegensatz zum Kieser-Training ist dies eine positive Begleitreaktion, nicht Hauptinhalt (3). Ziel der «Königsübung für die lumbalen Bandscheiben» ist es, der oben geschilderten Dorsalbewegung der Bandscheibe entgegenzuwirken.
Protrusion und Prolaps
Die klinisch bedeutsamsten degenerativen Veränderungen an den Bandscheiben sind die Bandscheibenprotrusion und der Bandscheibenprolaps (Tabelle 1). Beide Erscheinungen beruhen auf Masseverschiebungen innerhalb der Bandscheibe, so genannten intradiskalen Masseverschiebungen, bei welchen der gallertige Nucleus pulposus den faserigen Anulus fibrosus aufsprengt, in diesen eindringt und sich in Richtung dorsale Bandscheibenbegrenzung ausbreitet. Dort drückt er auf die dorsalen Begrenzungsschichten, das Ligamentum longitudinale posterius und die eng angrenzende Lamina externa der Dura mater spinalis. Beide Gewebe werden sensibel vom Ramus meningeus ver-
sorgt, einem Ast des Spinalnervs, sodass Druck und Zug auf das dorsale Längsband sofort zu starker Schmerzempfindung führen. Die zum Teil erheblichen Drücke unter verschiedenen Belastungssituationen wurden wiederholt gemessen. Besonders das Heben einer Last in der Vorhalte führt zu einer massiven asymmetrischen Bandscheibenbelastung. Hier ist die intradiskale Masseverschiebung in den ersten drei Minuten am stärksten und erfolgt mit einer Geschwindigkeit von 0,6 mm/min (4). Gerade dadurch, dass sich unsere gesamten manuellen Aktivitäten (Heben, Tragen, Bücken etc.) im ventralen Raum, also vor uns, abspielen, ist die Kinetik der Bandscheibe nach dorsal nur natürlich.
Starker Mobilisationsdruck nach ventral
Durch den massiven Zug der Rückenstrecker beim Aufrichten des Oberkörpers wird ein erheblicher dorsaler Kantendruck auf die lumbalen Bandscheiben ausgeübt. Dies verursacht einen hohen Druck auf die dorsale Bandscheibenregion, sodass ein starker Mobilisationsdruck auf die Bandscheibe nach ventral ausgeübt wird. Die Folge ist eine intradiskale Masseverschiebung nach ventral und eine sofortige Druck- und Zugentlastung des dorsalen Längsbandes, mit sofortiger Schmerzlinderung. Aufgrund dieses ventralen Mobilisationseffekts ist die Übung nicht nur für die Therapie, sondern ganz besonders auch für die Prophylaxe des lokalen Lumbalsyndroms geeignet. Der dorsalen Masseverschiebung in den lumbalen Bandscheiben
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und damit der Protrusion und dem Prolaps kann mit dieser Übung wirksam entgegengearbeitet werden.
Übungen müssen schmerzlos sein
Grundsätzlich können bei der Durchführung der Übung keine Fehler gemacht werden. Es dürfen jedoch ausser dem oben genannten «leichten Ziehen» der lumbalen Rückstrecker bei der Ausführung der Übung keine Schmerzen im Bereich der LWS auftreten. Treten Schmerzen auf, muss die Übung abgebrochen und nach Kontraindikationen (Alter und Mobilität
Abbildung 1: Die «Königsübung für die lumbalen Bandscheiben» – Freier Überhang des Oberkörpers
Abbildung 2: Die «Königsübung für die lumbalen Bandscheiben» – Aufrichten in die Horizontale
des Patienten sind zu berücksichtigen) gesucht werden (Tabelle 2).
Bereits frühzeitig vorbeugen
Da die intradiskalen Masseverschiebungen nach dorsal fast zu den «physiologischen» Altersveränderungen gehören, sollte diese Übung zur Prophylaxe schon frühzeitig eingesetzt werden. Ganz besonders indiziert ist sie bei dem Personenkreis, deren lumbale Bandscheibenregion durch bestimmte körperliche Belastungen (z.B. Heben und Tragen von Lasten, längeres Stehen und Sitzen in zum Teil ungünstigen Haltungen) besonders gefährdet ist.
Die Übung ist vor allem für die regelmäs-
sige Durchführung im Heimgebrauch zu
empfehlen. Sie sollte aber auch in physio-
therapeutische Programme und alle Pro-
gramme der «Rückenschule» eingebaut
werden. Derzeit sind im Handel leider
noch keine entsprechenden Geräte ver-
fügbar; bei dem in Abbildung 1 darge-
stellten Gerät handelt es sich um einen in-
dividuell angefertigten Umbau.
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Literatur: 1. Bertolini, Rolf (Hrsg.) (1995): Systematische Anatomie des Menschen. Ullstein Mosby, Berlin – Wiesbaden. 2. Bullough, P.G., Boachie-Adjei, O. (1994): Farbatlas der Wirbelsäulenerkrankungen. Schlütersche Verlagsanstalt, Hannover. 3. Kieser, W. (2001): Ein starker Körper kennt keinen Schmerz. Gesundheitsorientiertes Krafttraining nach der Kieser-Methode. Heyne Verlag, München. 4. Krämer, J. (1994): Bandscheibenbedingte Erkrankungen. Thieme Verlag, Stuttgart – New York. 5. Krämer, J.(1986): Bandscheibenschäden. Vorbeugen durch Rückenschule. 9. Aufl., W. Heine Verlag, München. 6. Sohn, W. (1999): Prävention von Haltungsschäden – Erkrankungen der Wirbelsäule. Der Allgemeinarzt 21: 895. 7. Strempel, A.v. (Hrsg.) (2001): Die Wirbelsäule. Thieme Verlag, Stuttgart – New York.
Dr. med. Lothar Markus Facharzt für Allgemeinmedizin
D-04103 Leipzig
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese hier leicht gekürzte Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 4/2003. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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