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Neue HypertonieGuidelines der ESH/ESC
Europäische Richtlinien unterscheiden sich von den amerikanischen
ALEXANDRA SUTER
An einem Hearing in Oslo wurden die neuen Guidelines der Europäischen Gesellschaft für Hypertonie (ESH) und der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) erläutert. Gerade bei der Klassifikation des Bluthochdrucks zeigt sich, dass sich die europäischen Richtlinien beim Einsatz therapeutischer Massnahmen vermehrt nach dem individuellen kardiovaskulären Risikoprofil orientieren.
Seit Juni 2003 fährt Europa in Sachen Hypertonie-Guidelines einen eigenen Zug (1): Neue Richtlinien der ESH/ESC haben die Guidelines der WHO von 1999 abgelöst und unterscheiden sich zudem von den
Das Hearing zu den europäischen Hypertonie-Guidelines fand am 11. Oktober 2003 in Oslo statt.
neuen Richtlinien des amerikanischen Joint National Committee (2, 3). Laut Giuseppe Mancia, Mailand, liegt der Hauptgrund für diese Neupositionierung darin, dass Europa eine weit gehend homogene Region ist, die eine hohe Lebenserwartung, hohe Ressourcen und – trotz gut entwickelten Gesundheitssystemen – einen hohen Anteil an kardiovaskulären Erkrankungen aufweist. Damit sind die europäischen Guidelines dem Vorschlag der WHO/ISH-Empfehlungen gefolgt, Hypertonierichtlinien gezielter auf regionaler Ebene abzugeben.
Individuelles Risiko abschätzen
Bei der Klassifikation der Hypertonie finden sich nur geringe Unterschiede: Es bleibt bei der Einteilung «normaler Blutdruck» mit Werten von 120–129/80–84 mmHg und «hochnormaler Blutdruck» mit Werten zwischen 130–139/85–89 mmHg. Verzichtet haben die Europäer auf die Kategorie «Borderline-Hypertonie» (140–149/ 90–94 mmHg) der WHO/ISH. Angesichts der praktischen Schwierigkeit, eine klare Grenze zwischen Bluthochdruck und normalem Blutdruck zu ziehen, empfehlen sie dagegen, vermehrt individuelle Risikoprofile zu erstellen und darauf basierend therapeutische Massnahmen zu verordnen. Das heisst etwa: Personen mit Hypertoniegrad 1 und 2 (140–179/90–109 mmHg), aber niedrigem oder mässigem kardiovaskulärem Risiko bleiben für drei bis zwölf Monate ohne Antihypertonika. In diesem Fall sollte stattdessen versucht werden, den Blutdruck durch Allgemeinmassnahmen und das Gesamtrisiko durch spezielle Massnahmen (z.B. Lipidsenker, Rauchverzicht) zu senken. Demgegenüber werden Patienten mit hochnormalem Blutdruck
Merk-
sätze
q Oberstes Ziel einer Antihypertonie-Therapie ist die Senkung des Blutdrucks.
q Der Entscheid über Art und Eindringlichkeit einer Therapie sollte aufgrund eines individuellen Risikoprofils erfolgen.
q Alle wichtigen Substanzklassen eignen sich grundsätzlich für eine Therapie. Bei Begleiterkrankungen gilt es jedoch, Indikationen und Kontraindikationen für die einzelnen Substanzklassen zu berücksichtigen.
q Auch eine Weisskittel-Hypertonie ist medikamentös zu behandeln, wenn hohe kardiovaskuläre Risiken vorliegen oder ein Verdacht auf einen Endorganschaden besteht.
und sehr hohem Risiko bereits medikamentös behandelt. Bei Patienten mit einem hohem kardiovaskulären Risiko ist ein sofortiger Einsatz von Antihypertonika nötig. Als entsprechende Risikofaktoren gelten Schlaganfall, Myokardinfarkt, Koronarerkrankungen, Diabetes sowie weitere blutdruckassoziierte Begleiterkrankungen. Um bei einem Patienten die Notwendigkeit und die Art der Therapiemassnahmen in Erfahrung zu bringen, gilt es, das globale kardiovaskuläre Risiko abzuschätzen. Je höher das Risiko, desto eindringlicher sollte die Therapie gestaltet werden. Wie hoch das
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Neue Hypertonie-Guidelines der ESH/ESC
Tabelle 1: Risikoquantifizierung
Andere Risikofaktoren und Krankengeschichte
Keine anderen Risikofaktoren
1–2 Risikofaktoren
3 und mehr Risikofaktoren oder Endorganschaden oder Diabetes
Assoziierte klinische Bedingungen
Normal SBD 120–129 oder DBD 80–84 Mittleres Risiko
Niedriges zusätzliches Risiko Mässiges zusätzliches Risiko
Hohes zusätzliches Risiko
Hochnormal SBD 130–139 oder DBD 85–89 Mittleres Risiko
Niedriges zusätzliches Risiko Hohes zusätzliches Risiko
Sehr hohes zusätzliches Risiko
Blutdruck (mmHg) Grad 1 SBD 140–159 oder DBD 90–99 Niedriges zusätzliches Risiko Mässiges zusätzliches Risiko Hohes zusätzliches Risiko
Sehr hohes zusätzliches Risiko
Grad 2 SBD 160–179 oder DBD 100–109 Mässiges zusätzliches Risiko Mässiges zusätzliches Risiko Hohes zusätzliches Risiko
Sehr hohes zusätzliches Risiko
Grad 3 SBD ≥ 180 oder DBD ≥ 110 Hohes zusätzliches Risiko Sehr hohes zusätzliches Risiko Sehr hohes zusätzliches Risiko
Sehr hohes zusätzliches Risiko
(SBD: systolischer Blutdruck; DBD: diastolischer Blutdruck)
Risiko einzustufen ist, lässt sich anhand einer quantitativen Klassifikation eruieren (Tabelle 1).
Zentrales Anliegen: Blutdrucksenkung «per se»
Oberstes Ziel bei der Therapie von Hypertoniepatienten ist, das langfristige Gesamtrisiko kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität maximal zu senken. Dies erfordert die Behandlung aller reversiblen Risikofaktoren, einschliesslich Rauchen, Dyslipidämie oder Diabetes, sowie die Blutdrucksenkung «per se». Der Blutdruck sollte dabei mindestens unter 140/90 mmHg gesenkt werden, bei Diabetikern liegen die angestrebten Grenzen bei 130/80 mmHg. Dennoch kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass es vor allem bei älteren Menschen mit einem enormen Aufwand verbunden ist, den systolischen Blutdruck unter 140 mmHg zu bringen. Auch in solchen Fällen muss das individuelle Risiko- und Krankheitsprofil berücksichtigt werden: «Je ernsthafter eine Erkrankung ist, desto hartnäckiger sollte der Blutdruck gesenkt werden», betonte Hermann Haller, Hannover. Um einen optimalen Blutdruck erreichen
zu können, braucht die Mehrheit der Hypertoniker eine Kombinationstherapie, die bei Therapiebeginn niedrig dosiert werden sollte. Der Vorteil zweier niedrig dosierter Einzelsubstanzen liegt in der besseren Verträglichkeit, während sich die Verträglichkeit einer Monotherapie bei einer eventuell erforderlichen Dosissteigerung verschlechtern könnte. Allerdings tritt unter einer Kombinationstherapie eher das Problem der Non-Compliance auf. Die Entscheidung, ob mit einer Monooder einer Kombinationstherapie begonnen wird, sollte daher vom initialen Blutdruck, weiteren Risikofaktoren und einem eventuell schon vorhandenen Endorganschaden abhängig gemacht werden.
Keine Präferenzen bei den Substanzklassen
Grundsätzlich lassen die europäischen Hypertonierichtlinien offen, welche Arten von Antihypertonika zur Anfangsbehandlung eingesetzt werden sollen. Aufgelistet werden die wichtigsten Substanzklassen, wie Diuretika, Alphablocker, Betablocker, Kalziumantagonisten, ACE-Hemmer und A-II- Antagonisten. Bei Begleiterkrankungen sind die Empfehlungen differenzierter: Die
ESH/ ESC-Richtlinien geben für jede Substanzgruppe die entsprechenden Indikationen und die relativen und absoluten Kontraindikationen an (Tabelle 2). Von den Untersuchungen, welche Therapien mit verschiedenen Substanzklassen bezüglich Mortalitäts- und MorbiditätsEndpunkten vergleichen, wurden besonders die beiden Studien ALLHAT und LIFE erwähnt (4,5). ALLHAT ist eine der Studien, die darauf hinweist, dass der Gewinn von Antihypertonika weit gehend auf der blutdrucksenkenden Wirkung basiert. Bei LIFE hingegen fand sich eine signifikante Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen, wenn Patienten mit linksventrikulärer Hypertrophie mit dem A-IIAntagonisten Losartan (Cosaar®) behandelt wurden (gegenüber dem Betablocker Atenolol [Tenormin® und Generika]), obwohl beide Substanzen den Blutdruck im selben Ausmass senken konnten.
Nicht zu vernachlässigen: Weisskittel-Hypertonie
Es ist charakteristisch, dass der Blutdruck innerhalb eines Tages und zwischen Tagen stark schwankt. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Diagnose einer Hyperto-
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Tabelle 2: Substanzgruppen: Indikationen und Kontraindikationen
Substanzgruppe Thiaziddiuretika
Schleifendiuretika Aldosteronantagonisten Betablocker
Kalziumantagonisten (Dihydropyridine)
Kalziumantagonisten (Verapamil, Diltiazem) ACE-Hemmer
AT1-Blocker (A-II-Antagonisten)
Alphablocker
Indikation
Herzinsuffizienz Ältere Hypertoniker Isolierte systolische Hypertonie Afrikaner
Niereninsuffizienz Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz Zustand nach Myokardinfarkt
Angina pectoris Zustand nach Myokardinfarkt Herzinsuffizienz Schwangerschaft Tachyarrhythmien
Ältere Hypertoniker Isolierte systolische Hypertonie Angina pectoris Periphere arterielle Verschlusskrankheit Karotissklerose Schwangerschaft
Angina pectoris Karotissklerose Supraventrikuläre Tachykardie
Herzinsuffizienz LV-Dysfunktion Zustand nach Myokardinfarkt Nichtdiabetische Nephropathie Diabetes-Typ-1-Nephropathie Proteinurie
Diabetes-Typ-2-Nephropathie Diabetische Mikroalbuminurie Proteinurie LV-Hypertrophie ACE-Hemmer-Husten
Prostatahyperplasie Hyperlipidämie
Absolute Kontraindikation Gicht
Niereninsuffizienz Niereninsuffizienz Asthma COPD AV-Block Grad 2 und 3
AV-Block Grad 2 und 3 Herzinsuffizienz Schwangerschaft Hyperkaliämie Beidseitige Nierenarterienstenose
Schwangerschaft Hyperkaliämie Beidseitige Nierenarterienstenose Orthostatische Hypotonie
Relative Kontraindikation Schwangerschaft
Periphere arterielle Verschlusskrankheit Glukoseintoleranz Sportler Tachyarrhythmien Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz
(AV: atrioventrikulär; LV: linksventrikulär)
nie auf mehrere Blutdruckmessungen abzustützen, die zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgen. Bei nur leicht erhöhtem Blutdruck sind wiederholte Messungen über mehrere Monate erforderlich. Bei markant erhöhten Blutdruckwerten, bei blutdruck-
assoziierten Organschäden oder bei einem sehr hohen kardiovaskulären Risikoprofil sind Messungen innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen notwendig. Ort und Art der Messungen (Heimmessung, Praxismessung, 24-Stunden-Mes-
sung) sollten bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden. Bei etwa zehn Prozent der Bevölkerung tritt eine Weisskittel-Hypertonie (isolierte Praxis-Hypertonie) auf, und zwar überproportional bei Patienten, bei denen bereits eine Hypertonie
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diagnostiziert worden ist (6). Es hat sich
gezeigt, dass bei Patienten mit Weisskit-
tel-Hypertonie ein tieferes kardiovaskulä-
res Risiko besteht als bei Hypertonikern,
bei denen die Messung sowohl zu Hause
wie auch in der Praxis erfolgt ist. Dennoch
gibt es mehrere Studien, die darauf hin-
weisen, dass die Weisskittel-Hypertonie
mit Endorganschäden und Stoffwechsel-
Abnormitäten assoziiert ist (7). Was in
den Guidelines nicht explizit beschrieben
ist, am Hearing von Thomas Hedner,
Göteborg, jedoch betont wurde: «Die
Weisskittel-Hypertonie ist als Hypertonie
zu werten und zu behandeln». Nach den
Richtlinien muss die Diagnose «isolierte
Praxis-Hypertonie» gestellt werden, wenn
der Praxis-Blutdruck bei verschiedenen Mes-
sungen ≥ 140/90 mmHg beträgt, während
die 24-Stunden-Messung < 125/80 mmHg anzeigt. Eine medikamentöse Therapie ist angesagt, wenn Hinweise auf Endorgan- schäden oder ein hohes kardiovaskuläres Risikoprofil vorliegen. Ist das nicht der Fall, sind Lebensstiländerungen und baldige Wiederholungen der Blutdruckmessung angezeigt. q Literatur: 1. 2003 European Society of Hypertension: European Society of Cardiology guidelines for the management of arterial hypertension. J of Hypertension 2003, 21: 1011– 1053. 2. Guidelines Sub-Committee: 1999 World Health Organization – International society of Hypertension guidelines for the management of hypertension. J of Hypertension 1999; 17: 151–183. 3. The Seventh Report of the Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation and Treatment of High Blood Pressure (The JNC 7 Report); JAMA 2003, 289: 2560–2572. 4. The ALLHAT Officers and Coordinators for the ALLHAT Collaborative Research Group: Major outcomes in high-risk hypertensive patients randomised to angiotensin-converting enzyme inhibitor or calcium channel blocker vs diuretic: The Antihypertensive and Lipid-Lowering treatment to prevent Heart Attack trial (ALLHAT). JAMA 2002; 288: 2981–2997. 5. Dahlöf B., Devereux R.B., Kjeldsen S.E. et al.: Cardiovascular morbidity and mortality in the Losartan Intervention for End- point reduction in hypertension study (LIFE): A randomized trial against atenolol. Lancet 2002; 359: 995–1003. 6. Pickering T.G., Coats A. Mallion J.M., Mancia G., Verdecchia P.: Task Force V. White-coat hypertension. Blood Press Monit 1999; 4: 333–341. 7. Sega R., Trocino G., Lanzarotti A., Carugo S., Cesana G., Schiavina R. et al.: Alterations of cardiac structure in patients with isolated office, ambulatory or home hypertension. Data from the general PAMELA population. Circulation 2001; 104: 1385–1392. Alexandra Suter Zielstrasse 15 8400 Winterthur E-Mail: a.suter@rosenfluh.ch Interessenlage: Die Berichterstattung wurde von Merck Sharp & Dohme-Chibret AG finanziell unterstützt. Der Inhalt wurde in keiner Weise beeinflusst und entspricht der Meinung der Autorin. 8 ARS MEDICI DOSSIER Xq2004