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Hyperaktive Blase und Inkontinenz im Alter
REVIEWS IN UROLOGY
Mit der Zunahme älterer
Menschen nehmen auch
deren Inkontinenzprobleme
zu. Die oft multifaktorielle
Ätiologie ruft nach vielfälti-
gen Behandlungsansätzen, zu
denen Pflegeumgebung,
Verhaltenstraining und medi-
zinische Massnahmen wie
Medikamente und Chirurgie
gehören.
Harnentleerungsstörungen sind in der Geriatrie ein drängendes Problem. Inkontinenz betrifft 30 Prozent der zu Hause und 50 Prozent der in Pflegeheimen lebenden älteren Menschen. Häufig ist eine hyperaktive Blase, gekennzeichnet durch häufiges Wasserlassen und Harndrang, mit oder ohne Inkontinenz. Davon sind entgegen einer häufigen Annahme Männer ebenso häufig betroffen wie Frauen. Die Häufigkeit der hyperaktiven Blase ohne Inkontinenz nimmt bei älteren Frauen langsamer zu als bei Männern, hingegen erfährt die kombinierte Problematik von Blasenhyperaktivität und Urininkontinenz bei Frauen ab 35 Jahren einen abrupten Anstieg, während sie bei Männern mit dem Alter stetig zunimmt.
«Ältere Menschen» ist ein schwammiger Begriff. Auf er einen Seite steht der rüstige, zu Hause lebende 70-Jährige, auf der anderen die gebrechliche 85-Jährige im Pflegeheim – und dazwischen gibt es ein weites Spektrum.
Erfassung der Probleme
Ältere Menschen bringen Kontinenzprobleme notorisch zu selten vor. Oft steht dahinter die Vorstellung, dass diese normale Konsequenzen des Alterns seien. Hier hilft vorsichtiges Nachfragen, bei eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit auch die Fremdanamnese von Verwandten oder Pflegenden. Urodynamische Untersuchungen setzen eine gute Kognition und die aktive Partizipation voraus, die im Alter öfters nicht mehr gegeben sind. Zudem erschweren altersbedingte physiologische Veränderungen die Interpretation. Dazu gehören ungehemmte Detrusorkontraktionen (10% bei Frauen, 25–35% bei Männern), Zunahme der nächtlichen Flüssigkeitsausscheidung, Prostatavergrösserung bei Männern und Urethraverkürzung und Sphinkterschwäche bei Frauen sowie eine Abnahme der Blasenkapazität und möglicherweise auch der Detrusorkontraktilität. Blasenentleerungsstörungen sind bei Männern und Frauen mit Krebs, Diabetes, Herzinsuffizienz oder neurogenen Störungen wesentlich häufiger. Im Alter machen Komorbiditäten, Visuseinbussen, eingeschränkte manuelle Geschicklichkeit, kognitive Defizite und Begleitmedikationen die Erfassung und Therapie von Blasenproblemen deutlich komplexer. Diagnostische Schwierigkeiten können bei multifaktorieller Ätiologie entstehen. So können ein zerebrovaskuläres Geschehen und eine Ausflussbehinderung bei beni-
Merk-
punkte
q Normale altersabhängige Veränderungen können urodynamische Messwerte unabhängig von den Beschwerden beeinflussen, was die Interpretation erschwert.
q Die Harninkontinenz im Alter wird unterschätzt; viele Patienten glauben, sie sei ein unvermeidlicher Altersbegleiter.
q Eine erfolgreiche Therapie von Blasen- und Kontinenzproblemen setzt die korrekte Erfassung von Inkontinenztyp und Ursache voraus.
q Flüssigkeitseinschränkung und Toilettentraining helfen in vielen Fällen.
q Medikamente sollen, dem Einzelfall angepasst, ergänzend verschrieben werden.
q Bei den chirurgischen Verfahren stehen heute viele wenig belastende Optionen zur Verfügung.
gner Prostatahyperplasie beide zu einer hyperaktiven Blase führen. Bei Frauen sind Detrusorinstabilität und Stressinkontinenz nicht ohne weiteres auseinander zu halten.
Therapeutische Strategien
Transiente Inkontinenz Auf vorübergehenden Ursachen beruhende Inkontinenzprobleme liegen bei einem Drittel der daheim lebenden älteren
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Menschen und bei über der Hälfte der hospitalisierten Patienten vor. Hier hat die Therapie des zugrunde liegenden Faktors Vorrang. Delirien und Verwirrungszustände erfordern ein umfassendes medizinisches Management. Symptomatische Harnwegsinfekte führen zu Harndrang, Dysurie und bei Älteren auch zu Inkontinenz. Eine asymptomatische Bakteriurie verursacht hingegen keine Inkontinenz. Bei atrophischer Vaginitis und Urethritis ist die Inkontinenz im Allgemeinen mit Harndrang verbunden. Niedrig dosierte Östrogene (oral oder vaginal) beheben Trockenheit und Atrophie, aber die Patientinnen brauchen gegen die Dranginkontinenz auch eine begleitende Verhaltenstherapie oder Anticholinergika. Zu den Medikamenten, die eine Inkontinenz begünstigen können, gehören Sedativa, Diuretika und auch anticholinerge und adrenerge Substanzen. Hier kann eine Umstellung der Medikation helfen. Psychologische Ursachen sind bei älteren Menschen vergleichsweise seltener. Wurde eine Depression erfolgreich behandelt, muss eine fortbestehende Inkontinenz weiter abgeklärt werden. Eine exzessive Urinproduktion kann auf übermässiger Flüssigkeitszufuhr, Diuretika oder Hyperglykämie beziehungsweise Hyperkalzämie beruhen. Herzinsuffizienz (Nykturie) oder Kalziumantagonisten begünstigen eine Inkontinenz ebenfalls. Eine häufige Ursache ist die eingeschränkte Mobilität im Alter. Finden sich dafür behandelbare Ursachen (z.B. degenerative Gelenkserkrankungen, Visus- oder Fussprobleme), bessert sich auch die Inkontinenz. Stuhlimpaktation führt zur Aktivierung von Opiodrezeptoren mit Drang- und/ oder Überlaufinkontinenz. Typischerweise liegt gleichzeitig auch eine Stuhlinkontinenz vor. Die Stuhlevakuation behebt diese Probleme.
Verhaltenstherapie und Umgebungsanpassungen Die nächtliche Polyurie ist eine besonders häufige Klage. Hier helfen Flüssigkeitsrestriktion, ein Diuretikum am Nachmittag
oder frühen Abend, Stützstrümpfe und Hochlagerung der Beine, wann immer sich die Betroffenen tagsüber hinsetzen. Zur Symptomlinderung bei an sich intaktem Sphinkter kann das Toilettentraining mit vorbestimmten Intervallen viel beitragen. Bei stärkerer kognitiver Beeinträchtigung können Pflegende instruiert werden, den Patienten regelmässig zum Wasserlassen aufzufordern. Bei Pflegebedürftigen kann damit die Zahl der Inkontinenzepisoden halbiert werden, allerdings ist dies arbeitsintensiv.
Medikamentöse Therapie Eine weitere Verbesserung erzielt bei Dranginkontinenz die Kombination von Verhaltensmassnahmen mit einer medikamentösen Therapie. Medikamente sollten das Toilettentraining ergänzen, nicht ersetzen, betonen die Autoren. Behandlungsziel bei alten Patienten ist es, einen sozial akzeptablen Grad der Inkontinenz zu erreichen, sodass Einlagen soweit wie möglich vermieden werden können. Die Blasenkontraktion ist das Resultat einer durch Acetylcholin hervorgerufenen Stimulation von parasympathischen muskarinischen Rezeptoren an den glatten Muskelzellen der Blase. Atropin oder Atropin-ähnliche Anticholinergika können daher unwillkürliche Kontraktionen verschiedener Ätiologie unterdrücken. Oxybutynin (Ditropan®) mit direkter Freisetzung und Imipramin (Tofranil®) sind gut untersuchte Substanzen, können aber unerwünschte Wirkungen, vor allem mässige bis ausgeprägte Mundtrockenheit, hervorrufen. In einer Studie bei gesunden Freiwilligen rief Oxybutynin, nicht aber Tolterodin (Detrusitol®) oder Trospiumchlorid (SpasmoUrgenin® Neo) deutliche EEG-Veränderungen hervor, was angesichts der Bedenken wegen kognitiver Beeinträchtigungen durch Anticholinergika erwähnenswert ist. Für Tolterodin mit verzögerter Freisetzung (Detrusitol® SR) wurde gegenüber der Darreichungsform mit direkter Freisetzung eine marginale Überlegenheit mit weiterer Abnahme der Mundtrockenheit nachgewiesen, schreiben die Autoren. Sie weisen aber auch darauf hin, dass viele
Studien nur eine beschränkte Anzahl von über 65-jährigen Teilnehmern und verschwindend wenige hochbetagte Patienten umfassten. Daher seien die theoretischen Vorteile einer einmal täglichen Verabreichung bei alten Patienten nicht gut abgesichert. Bei alten Frauen mit gemischter Inkontinenz können Imipramin oder Phenylpropanolamin (Kontexin® retard) den Widerstand am Blasenausgang erhöhen, begleitende Hypertonie oder Arrhythmien limitieren jedoch den Einsatz. Steht eine Nykturie im Zusammenhang mit der Inkontinenz im Vordergrund, steht pharmakologisch Desmopressin (Minirin®, Nocutil®) zur Verfügung. Dabei ist aber eine gute Überwachung der Elektrolyte (Hyponatriämie) zwingend, und eine kongestive Herzinsuffizienz ist eine Kontraindikation. Welches Medikament man auch verschreibt, immer muss bei alten Patienten mit einer niedrigen Dosis begonnen werden, und diese darf nur langsam gesteigert werden.
Katheter Bei Detrusorhyperaktivität mit eingeschränkter Kontraktilität der Blase ist ein individualisiertes Vorgehen notwendig. Vor allem gilt es, das Restharnvolumen zu reduzieren, falls vorhanden eine Hydronephrose zu beseitigen und einer Urosepsis vorzubeugen. Beträgt das Restharnvolumen über 600 ml, wird zunächst versucht, mittels Dauerkatheter für ein bis zwei Wochen die Blase zu entlasten, während eventuelle begünstigende Faktoren (Stuhlimpaktation, Medikamente) korrigiert werden. Wenn die Dekompression die Blasenfunktion nicht völlig wiederhergestellt hat, können forcierte Entleerungen (Credé-Handgriff, ValsalvaManöver) helfen. Gelegentlich soll Bethanecholchlorid (Myocholine®) helfen, bringt aber nach Erfahrung der Autoren bei Detrusorhyperaktivität mit eingeschränkter Kontraktilität kaum etwas. Bleibt das Entleerungsproblem auch nach der Dekompression bestehen, sind weitere Interventionen aussichtslos und entweder die intermittierende Katherisierung oder ein Dauerkatheter unumgänglich.
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Hyperaktive Blase und Inkontinenz im Alter
Während bei intermittierender Katheterisierung und Risikokonstellation (rezidivierende symptomatische Infekte, Herzklappenfehler oder orthopädische Prothesen) eine antibiotische Prophylaxe gegen Harnwegsinfekte sinnvoll sein kann, ist sie bei Dauerkatheter-Tragenden nicht indiziert. In Pflegeinstitutionen ist angesichts der Gefahr virulenter Keime eine sterile (und nicht bloss «saubere») Katheterisierungstechnik angezeigt.
Chirurgische Eingriffe Beim Versagen verhaltenstherapeutischer Massnahmen und der Medikamente kann ein chirurgisches Management zum Zug kommen. Worauf die Wahl fällt, sollte auch durch die Wünsche von Patient und Familie und durch den Mentalstatus mitbestimmt werden. Geringere Invasivität und Länge der Hospitalisation sowie raschere Erholung zählen bei alten Patienten mehr als der langfristige Operationserfolg.
Bei alten Patienten, die unter Antikoagulation oder Plättchenhemmung stehen, sollte die Medikation eine Woche vor dem elektiven Eingriff abgesetzt und erst 24 bis 48 Stunden danach wieder aufgenommen werden. Zur Detrusorhyperaktiviät kann es im Rahmen des physiologischen Alterungsprozesses kommen, sie kann aber auch Folge von Ausflussobstruktion oder neurologischer Ursachen sein. Die Behinderung der Urinentleerung durch eine benigne Prostatahyperplasie (BPH) kann bei alten Männern ebenso behandelt werden wie bei jüngeren. Alphablocker (Hytrin® BPH, Pradif®, Xatral®) können selbst bei behinderten Pflegepatienten mit kardiovaskulären Erkrankungen sicher eingesetzt werden. Daneben steht inzwischen eine Vielfalt mehr oder weniger invasiver chirurgischer Eingriffe zur Verfügung (transurethrale Prostatektomie, Prostatainzision, Mikro-
wellen- oder Laserablation; permanente Prostatastents, temporäre Stent-Überbrückungen). Bei alten Frauen mit Stressinkontinenz sind heute verschiedene minimalinvasive Eingriffe zur Fixierung der Urethra mittels Schlingen oder Tapes weit gehend Routine geworden.
Darshan Shah, Gopal Badlani (Depart-
ment of Urology, Long Island Jewish Me-
dical Center, New Hyde Park, NY/USA):
Treatment of overactive bladder and in-
continence in the elderly. Rev Urology
2002; 4 (Suppl. 4): 38–43.
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Halid Bas
Interessenkonflikte werden in der Originalpublikation nicht deklariert.
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