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Das Mammakarzinom im hohen Alter
Charakteristika und Therapieoptionen
RENÉ HORNUNG
Die Betreuung betagter Patientinnen mit Mammakarzinom ist häufig und stellt eine spezielle Herausforderung an die Therapie und Pflege dar. Physiologische Veränderungen der Brüste erleichtern die mammografische Diagnostik; zudem zeigen Mammakarzinome im Alter eine Tendenz zu weniger aggressivem Verhalten als bei jüngeren Frauen. Bei gesicherter Diagnose werden Fragen zur Operabilität sowie zur Indikation für adjuvante Therapien wie Chemo-, Radio- und endokrine Therapie unter dem Gesichtspunkt der Therapierbarkeit und des gewünschten Erfolges bei alten Patientinnen diskutiert.
Aufgrund von Veränderungen in Demografie und Medizin sehen sich immer mehr Ärztinnen und Ärzte mit der Abklärung, Behandlung und Betreuung von betagten Patientinnen mit Brustkrebs konfrontiert. Während die Abklärung und Therapie von Mammakarzinomen im Allgemeinen auf standardisierten Guidelines (z.B. so genannte St. Galler Guideline [1]) basiert, sind diese im hohen Alter nur bedingt anwendbar. Dieser Übersichtsartikel enthält ausgewählte Themen und diskutierbare Interpretationen.
Die Brust im Alter
Wie jedes andere Organ verändert sich auch die Brust im Lauf des Lebens. Inwiefern sich diese Veränderungen auf die Mammografie auswirken, hat eine Arbeitsgruppe letztes Jahr veröffentlicht (2). Dabei wurde unter anderem gezeigt, dass radiologisch dichte Mammae in der späten Postmenopause nur noch halb so häufig vorkommen (zirka 30% der Patientinnen) wie in der prämenopausalen Lebensphase (zirka 60% der Patientinnen). Es ist leicht nachvollziehbar, dass mit abnehmender radiologischer Dichte der Brüste maligne Veränderungen empfindlicher erkannt werden können. Während bei 40- bis 50-jährigen Patientinnen Mammakarzinome in rund zwei Dritteln aller Fälle im Mammografie-Screening erkannt werden können, steigt die Sensitivität bei 70- bis 90-Jährigen auf über 80 Prozent an. Die Abbildung zeigt die Mammografien einer 84-jährigen Patientin. Zum biologischen Verhalten des Mammakarzinoms: Im Allgemeinen geht man davon aus, dass sich das Mammakarzinom bei der alten Patientin weniger aggressiv verhält als bei der jüngeren Patientin. Unter anderem können das histo-
logische Grading des Tumors, die Häufigkeit der inflammatorischen Mammakarzinome und die Häufigkeit Östrogenrezeptor-positiver Karzinome einen Anhaltspunkt über das biologische Verhalten der Tumore geben. Wie die Tabelle zeigt, treten schlecht differenzierte Mammakarzinome (G3), welche generell mit schlechterer Prognose assoziiert sind, bei über 71-Jährigen deutlich seltener auf als bei jüngeren Patientinnen. Auch die ausserordentlich aggressiven inflammatorischen Mammakarzinome sind im Alter deutlich seltener als bei der jüngeren Patientin. Das Mammakarzinom der älteren Patientin wird zudem häufiger Östrogenrezeptoren exprimieren, woraus sich neben dem biologisch günstigeren Verhalten des Tumors therapeutische Optionen ergeben. Ähnliches trifft auch für den Her2/neuund p53-Status sowie den S-Phasen-Index zu (3).
Das Alter als Entscheidungskriterium
Mit der Frage nach der Rechtfertigung beziehungsweise Zumutbarkeit aufwändiger Behandlungen sind selbstverständlich nicht nur tumorassoziierte Eigenschaften, sondern auch diejenigen der alternden Patientin verbunden. Zu berücksichtigen sind grundsätzlich folgende mathematisch ermittelte Altersentwicklungen in den letzten 50 Jahren: Statistisch hat ein neugeborenes Mädchen heute eine mittlere Lebenserwartung von 82,5 Jahren; hat eine Frau 65 Jahre erreicht, so steigt ihre Lebenserwartung auf zusätzliche 20,7 Jahre, womit also eine 65-jährige Patientin nahezu 86 Jahre alt werden kann (4). Hat eine Frau gar das 80. Lebensjahr erreicht, kann sie sogar, statistisch gesehen, auf weitere 8 Jahre hoffen (5).
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Das Mammakarzinom im hohen Alter
Tabelle: Biologische Parameter: Bei älteren Patientinnen sind schlecht differenzierte, inflammatorische oder
Östrogenrezeptor-negative Mammakarzinome seltener als bei jüngeren Patientinnen.
Biologischer Parameter Grading G3 (10)
Jüngere Patientin < 71 Jahre 39% Ältere Patientin > 71 Jahre 24%
p < 0,001 Inflammatorisches Mammakarzinom T4d (11) 40–60 Jahre 10–16% 70–85 Jahre 2–8% < 0,001 Abbildung: Mammografien einer 84-jährigen Patientin: Die obere Serie zeigt die kraniokaudale Projektion rechts (CCR) und links (CCL), wobei aussen auf der Mammografie auch lateral der Patientin bedeutet. Die darunter liegende Serie zeigt die mediolateralen Projektionen derselben Patientin, ebenfalls jeweils rechts und links (MLR, MLL). Der Primärtumor mit einem Durchmesser von mindestens 3 cm liegt relativ zentral in der rechten Brust im oberen äusseren Quadranten und ist eingekreist. Vom Primärtumor ausgehend erstreckt sich eine perlschnurartige Transparenzverminderung, welche Lymphknotenmetastasen entspricht. Die grösste davon ist in beiden Projektionen mit einem Pfeil markiert. Deutlich sind die Seitenasymmetrie, als ein Zeichen der Malignität, und die starke Kontrastierung malignen Gewebes in der späten Postmenopause erkennbar. In einer 2001 publizierten Studie wurde gezeigt, dass über 40 Prozent der Mammakarzinom-Patientinnen über 80 Jahre mindestens eine schwere Komorbidität (z.B. Herzerkrankungen, Zweitkarzinome, Apoplexien etc.) haben (6). Diese Tatsache beeinflusst natürlich das Management einer betagten Patientin mit Mammakarzinom nachhaltig. Zum einen müssen die Komorbiditäten in die Risikobeurteilung hinsichtlich einer Operation mit einbezogen werden. Zum anderen werden die anderen Erkrankungen die Überlebenswahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Brustkrebs beeinflussen. So wurde Östrogenrezeptor (ER) ER-positiv (10) ER-positiv (3) ER-positiv (12) < 71 Jahre 59% 55–75 Jahre 85,1% 55–70 Jahre 51–63% > 71 Jahre 77% > 75 Jahre 90% > 75 Jahre 75%
< 0,001 < 0,001 signifikant CR = Complete Response, PR = Partial Response, ER = Estrogen-Receptor, LK = Lymphknoten. Der Überbegriff «endokrine Therapie» umfasst in erster Linie Tamoxifen, aber auch Aromatasehemmer (z.B. Anastrozol, Letrozol, Exemestan). beispielsweise in derselben Arbeit gezeigt, dass bei 75- bis 84-jährigen Patientinnen mit Brustkrebs in rund 45 Prozent das Mammakarzinom auch die Todesursache ist. Im entsprechenden Krankenkollektiv im Alter über 85 Jahre sinkt der Anteil derjenigen, welche an Brustkrebs versterben, auf rund 28 Prozent (6). Konsequenzen im klinischen Alltag: Diagnostik- und ... Ein Denkanstoss zum Thema Krebsmanagement, Multimorbidität und Alter: Eine Untersuchung aus den USA fragte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, anlässlich einer Hospitalisation auch eine Mammografie zu erhalten bei einem Patientinnenkollektiv, welches im Mittel 80 Jahre alt war und zusätzlich nahezu drei Komorbiditäten aufwies. Wurden die Patientinnen aufgrund einer Schenkelhalsfraktur hospitalisiert, so sank, im Vergleich zu Gleichaltrigen, die Wahrscheinlichkeit, eine Mammografie zu bekommen, auf 0,53. Wurde die Patientin hingegen aufgrund einer Hypertonie, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung oder eines Karzinoms hospitalisiert, dann stieg die Wahrscheinlichkeit auf 1,28, 1,43 respektive auf 1,33 (7). Etwas unerwartet steigt also mit zunehmender Komorbidität auch die Wahrscheinlichkeit von ScreeningUntersuchungen. Es ist auf keinen Fall die Absicht des Autors, im vorliegenden Artikel die ganzheitliche Arbeitsweise von zuverlässigen Kollegen zum einen oder problemorientiertes Arbeiten anderer Disziplinen zum anderen zu kritisieren. Es ist nicht grundsätzlich die eine oder andere Arbeitsweise richtig oder falsch, sondern es geht meines Erachtens um die individuell und situativ adaptierte Beurteilung einer Patientin. ... Therapiefragen bei alten Patientinnen Nach gesicherter Diagnose (gleiche Vorgehensweise wie bei jüngeren Frauen) müssen die therapeutischen Möglichkeiten evaluiert werden. In internistischanästhesiologischen Konsilien sollte als Erstes die Frage der Operabilität geklärt werden. Sollte eine operative Therapie 30 A R S M E D I C I D O S S I E R I X q 2 0 0 4 FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE Das Mammakarzinom im hohen Alter nicht möglich oder nicht erwünscht sein, bietet sich eine hormonelle Therapie an. Bei Östrogenrezeptor-positiven Tumoren, wie sie im Alter häufig vorkommen, kann unter einer antiöstrogenen Therapie mit einem Ansprechen («Complete Response» oder «Partial Response») in rund 90 Prozent der Fälle während anderthalb bis zwei Jahren gerechnet werden (8). In den meisten Fällen wird heutzutage allerdings eine operative Behandlung möglich sein, die der Patientin und ihren Angehörigen zumindest angeboten, wenn nicht empfohlen werden sollte. Im Gesamtkontext – das heisst unter Berücksichtigung pflegerischer und psychosozialer Aspekte, der Präferenzen und des allgemeinen Zustandes der Patientin – kann man je nach Tumorgrösse und -lokalisation ein brusterhaltendes Verfahren empfehlen, wenn die Patientin mit einer anschliessenden Radiotherapie der Restbrust einverstanden ist und diese durchführbar erscheint. Bei klinisch freien Lymphknotenstationen drängt sich die Sentinel-Lymphknotenbiopsie zum Staging der Axilla als Alternative zur axillären Lymphonodektomie zum einen und zum expektativen Verhalten zum anderen geradewegs auf. Andererseits können mit der Entfernung klinisch positiver Lymphknoten teilweise schmerzhafte Komplikationen verhindert werden. Anders als bei der jungen Patientin mit Brustkrebs steht bei der operativen Therapie der Betagten nicht das Langzeitergebnis, sondern die Erhaltung beziehungsweise Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund. Somit sind neben onkologisch-chirurgischen Überlegungen auch solche über Aetas, Komorbiditäten, Wünsche der Patientin und ihrer Angehörigen sowie pflegerische Aspekte vermehrt zu berücksichtigen. Die adjuvante Radiotherapie bei brusterhaltend operierten Mammakarzinomen ist relativ wenig belastend, die Indikation kann grosszügig gestellt werden. Sollte der Patientinnentransport für die täglichen Bestrahlungen ein Problem darstellen, müsste dies allenfalls auch bei der Diskussion der Operationsmodalität zur Sprache kommen. Was die adjuvante Hormontherapie an- geht, so ist diese bei den gehäuft Östro- genrezeptor-positiven Tumoren im Alter eher grosszügig zu indizieren, wobei immer die Gesamtsituation mitzuberück- sichtigen ist. Speziell sind allfällige Risiko- faktoren für thromboembolische Gesche- hen (v.a. unter Tamoxifen) mit dem betreuenden Internisten zu diskutieren. Alternativ wäre die Gabe von Aromatase- hemmern in Erwägung zu ziehen. Bei der adjuvanten Chemotherapie der betagten Patientin unterscheidet sich das Prozedere deutlich von demjenigen bei jüngeren Patientinen. Während bei diesen der Benefit einer adjuvanten Polychemo- therapie als gesichert gilt, konnte dieser für Patientinnen über 70 Jahre nicht gezeigt werden (9). Deswegen wird, auch angesichts des Wirkungs-Nebenwirkungs- Profils der Chemotherapeutika, die Indi- kation bei betagten Patientinnen eher restriktiv gestellt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Betreuung betagter Patientinnen mit Mammakarzinom anspruchsvoll, aber auch sehr befriedigend sein kann. Neben Kriterien der Evidence based Medicine aus onkologischer Sicht müssen weitere «Ge- setze» der medizinischen Kunst berück- sichtigt werden, um einer individuellen Beurteilung und Behandlung der betag- ten Patientin gerecht zu werden. q Literatrur: 1. 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