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Das Dekubitalulkus
Beurteilung, Behandlung und Infektionsbekämpfung
FRIEDHELM LANG UND HILDEGARD RÖTHEL
Ist trotz aller Prävention ein
Dekubitus entstanden, bedeu-
tet dessen Behandlung nicht
selten eine grosse Herausfor-
derung an das medizinische
und pflegerische Können, was
neben dem Fachwissen von
den Behandelnden vor allem
auch Geduld und Konsequenz
erfordert. Insbesondere sollte
die häufig zu beobachtende
polypragmatische Vorgehens-
weise zugunsten klarer
Behandlungskonzepte zurück-
gedrängt werden.
Wurde ein Dekubitus festgestellt, ist als erster Schritt die Gesamtsituation des Patienten zu beurteilen. Diese Beurteilung umfasst den Schweregrad und Zustand des Ulkus, den physischen und psychischen Status des Patienten sowie die grundsätzlichen Bedingungen für Behandlung und Pflege, die durch das Umfeld des Patienten (Klinik, Pflegeheim,
häusliche Pflege) vorgegeben sind. Die gewonnenen Daten sind die Grundlage zur Erstellung des Behandlungsplans und der Dokumentation.
Beurteilung des Dekubitalulkus
Bei der Erstbeurteilung werden die Ulzera nach Lokalisation, Stadium, Grösse (Länge, Breite, Tiefe), Taschenbildung, Unterminierung, Exsudatfluss und so weiter beurteilt (Abbildung 1). Die Ulkuslokalisation wird in das Zeichenschema eingetragen. Zusätzlich empfiehlt es sich, ein Farbfoto vom Ulkus zu machen und der Dokumentation beizufügen. Zur exakten Bestimmung von Grösse und Volumen eines Ulkus ist das «Auslitern» der Wunde ein praktikables, wenig zeitund kostenaufwändiges Verfahren. Die Wunde wird dazu mit einer Folie abgeklebt und mit Hilfe einer Spritze mit Flüssigkeit (z.B. Ringerlösung) aufgefüllt (Abbildung 2a/b). Das Auslitern sollte auch während des Wundheilungsverlaufs immer wieder zur Volumenbestimmung durchgeführt werden, da die gewonnenen Werte prognostisch hilfreich sind, aber auch die Dokumentation eindeutig absichern. Als Nebeneffekt dient das Auslitern auch gleichzeitig als Wundspülung. Wenn bekannt ist, bei welcher Gelegenheit und durch welche Art der Druckeinwirkung der Dekubitus entstand, ist dies ebenfalls in die Erstdokumentation mit einzutragen, so zum Beispiel durch OPbedingte Druckeinwirkung, im Zusammenhang mit einer Fiebererkrankung, durch Sturz und zu langes Liegen in der Wohnung und so weiter. Diese Information ist insbesondere für die Beurteilung der fortbestehenden Dekubitusgefährdung von Bedeutung.
Merk-
punkte
q Ohne Druckentlastung ist eine Heilung nicht möglich, und alle weiteren Massnahmen sind sinnlos. Eine mangelhafte Druckentlastung dürfte die häufigste Ursache für ein Nichtabheilen des Ulkus darstellen.
q Der «prophylaktische» Einsatz von Desinfektionsmitteln wird wegen der zum Teil erheblichen wundheilungshemmenden und toxischen Eigenschaften diverser antiseptischer Substanzen nicht mehr empfohlen.
q Die lokale Anwendung von Antibiotika wird heute als obsolet eingestuft.
Beurteilung des Patientenstatus
Die Beurteilung des Patienten sollte seinen körperlichen Allgemeinzustand, mögliche Komplikationen aus Begleiterkrankungen, seine Ernährungslage, das Ausmass eventuell vorhandener Schmerzen, aber auch eine sorgfältige Bestandesaufnahme der psychosozialen Situation umfassen. Körperlicher Allgemeinzustand: Die Wundheilung ist nicht nur ein lokales Ereignis, sondern steht in vielfältigen Wechselbeziehungen zum betroffenen Gesamtorganismus, weshalb eine Verbesserung des Allgemeinzustands grossen Einfluss auf die Heilungsvorgänge haben kann. Allerdings wird je nach Alter des Patienten und vorliegender Erkrankung eine Verbesse-
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Abbildung 1: Erfassungsschema zur Dekubitusbeurteilung
rung des Allgemeinzustands nicht immer kurzfristig erreichbar oder sogar stark eingeschränkt sein, so zum Beispiel bei multimorbiden Alterspatienten. In der Praxis werden die erforderlichen Daten zumeist aus der Krankengeschichte hervorgehen; falls nicht, sind sie durch eine umfassende Anamnese und körperliche Untersuchung zu erheben. Des Weiteren ist im Zusammenhang mit Druckulzera auf mögliche Komplikationen zu achten: zum Beispiel Endokarditis, Meningitis, septische Arthritis, Taschenund Abszessbildung, maligne Entwick-
lungen im Ulkusbereich sowie auf systemische Komplikationen der lokalen Behandlung (z.B. einer Jod-Toxizität bzw. -allergie). Schwer wiegende Komplikationen durch Infektionen sind Osteomyelitis, Bakteriämie und schliesslich generalisierte Sepsis. Ernährungsstatus: In vielen Untersuchungen wurde die schlechte Heilungstendenz von Druckulzera mit einer Malnutrition in Verbindung gebracht. Kachektische Zustände mit Eiweissmangel sind jedoch gerade bei älteren Patienten häufig zu beobachten, sodass hier eine Beurteilung der
Ernährungssituation in regelmässigen Abständen erfolgen soll. Oftmals findet sich bei älteren Patienten auch ein Zinkmangel, der ebenfalls zu Verzögerungen der Wundheilung führen kann und somit überprüft werden sollte. Zur Behandlung der Mangelernährung ist in Abstimmung mit den Wünschen des Patienten eine adäquate Nahrungsaufnahme mit erhöhtem Eiweissangebot und ausreichend Vitaminen und Mineralstoffen sicherzustellen. Als Eiweisssubstitution werden 1 g Protein/kg KG empfohlen, als Vitamin-C-Gabe werden 50 mg/Tag angegeben, Zink kann in Tablettenform zugeführt werden. Falls sich die normale Nahrungsaufnahme aber unzureichend gestaltet oder unmöglich ist, sollte eine Sondenernährung in Betracht gezogen werden. Des Weiteren ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr (2–3 Liter/Tag) zu achten. Schmerzen: Selbst wenn der Patient seine Schmerzen nicht zum Ausdruck bringen oder nicht auf sie reagieren kann, bedeutet das nicht, dass diese nicht vorhanden sind. Mit dem Druckulkus sind zumeist chronische, diffuse Schmerzen verbunden, die den ganzen Körper erfassen und jeden Lagewechsel zur Qual werden lassen. Leider wird der Schmerztherapie noch immer nicht jene Bedeutung zugemessen, die eigentlich von vielen Experten gefordert wird. Sie besteht üblicherweise in der Verabreichung von Schmerzmitteln «nach Bedarf». Mit der Schmerztherapie sollte jedoch dauerhaft eine weitestgehende Schmerzfreiheit erzielt werden, wozu eine regelmässige Applikation von Schmerzmitteln in einer individuellen Dosierung erforderlich ist. Psychosoziale Beurteilung: Unabhängig davon, ob der Dekubituspatient in der Klinik, im Pflegeheim oder zu Hause behandelt und gepflegt wird, sind grundsätzlich die gleichen Therapieprinzipien in der gleichen Qualität anzuwenden, da sonst wenig Aussicht auf Heilung besteht. Die individuelle, psychosoziale Situation des Patienten schafft jedoch mitunter sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Patienten und seine Motivation, an dem
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Abbildung 2 a/b: Das «Auslitern» der Wunde ist eine exakte und einfache Methode, um Grösse und Volumen einer Wunde zu bestimmen. Die Wunde wird mit einer Folie abgeklebt (2a) und mit Hilfe einer Spritze mit Flüssigkeit aufgefüllt (2b). Die eingespritzten ml beziehungsweise ccm entsprechen dem Volumen.
Behandlungsprogramm «mitzuarbeiten». Ziel der psychosozialen Beurteilung ist es deshalb, Informationen darüber zu gewinnen, mit wie viel Bereitschaft des Patienten und seiner Angehörigen zu rechnen ist beziehungsweise was getan werden kann (z.B. durch aufklärende Gespräche, Schulung, Einsatz geeigneter Hilfsmittel usw.), um die konsequente Einhaltung des Behandlungs- und Pflegeplans zu sichern. Eine realistische Beurteilung der psychosozialen Situation ist dabei vor allem in der häuslichen Pflege von grösster Bedeutung. Beurteilt werden sollten der mentale Zustand des Patienten, seine Lernfähigkeit, Zeichen von Depression, das soziale Umfeld, die Beziehung zu den pflegenden Angehörigen sowie der Lebensstil und ethnisch bedingte Problematiken. Des Weiteren sind die zur Behandlung und Pflege verfügbaren Mittel zu beurteilen, zum Beispiel die Verfügbarkeit und Fähigkeiten von Pflegepersonen, finanzielle Mittel, Geräte und so weiter. Wenn trotz aller Bemühungen keine Umgebung geschaffen werden kann, die der Einhaltung des Behandlungsund Pflegeplans dienlich ist, sollte die Behandlung des betroffenen Patienten in der Klinik in Betracht gezogen werden.
Behandlungsplan und Dokumentation
Die Behandlung des Dekubitalulkus stützt sich auf drei Therapiesäulen: q Vollständige Druckentlastung des ge-
schädigten Hautgebietes während der ganzen Behandlungsdauer zur Wiederherstellung der Blutversorgung q Phasengerechte Wundbehandlung zur
Reinigung und Konditionierung des Ulkus mit dem Ziel eines möglichst raschen Wundverschlusses (ggf. ist auch ein plastisch-chirurgisches Vorgehen angezeigt) q Adjuvante Therapien zur Verbesserung des Allgemeinzustandes und der Ernährungssituation sowie zur Schmerzbekämpfung. Die Dokumentation des Behandlungsund Pflegeverlaufs ist aus mehreren Gründen zwingend: q Fortschritte, Stagnation oder auch Rückschläge in der Behandlung lassen sich sicher einschätzen, sodass Behandlungsmassnahmen gegebenenfalls begründet geändert werden können q Die Dokumentation sichert den Informationsfluss unter den Ärzten und Pflegekräften. So kann zum Beispiel verhindert werden, dass von einem Verbandwechsel zum anderen völlig gegensätzliche Massnahmen (und Verbandstoffe) ergriffen werden, nur weil dann eine andere Pflegeperson die Wunde versorgt q Der Bundesgerichtshof hat den Nachweis einer dem aktuellen Standard entsprechenden ärztlich-pflegerischen Versorgung zur selbstverständlichen Pflicht erhoben, sodass die schriftliche Dokumentation zur (haftungs-)rechtlichen Absicherung der ärztlichen und pflegerischen Leistung unabdingbar geworden ist. Mündliche Mitteilungen, wie zum Beispiel anlässlich der Stationsübergabe, sind nicht geeignet, den geforderten Qualitätsnachweis von Behandlung und Pflege zu erbringen.
Druckentlastung zur Wiederherstellung der Blutversorgung
Oberstes Gebot jeder Dekubitusbehandlung ist die Wiederherstellung der Blutversorgung des geschädigten Hautgebiets durch eine vollständige Druckentlastung. Dabei ist die Druckentlastung über die gesamte Behandlungszeit aufrechtzuerhalten. Jede auch nur Minuten dauernde Belastung bewirkt erneut eine Schädigung und führt zu Rückschlägen im Heilungsverlauf. Zur vollständigen Druckentlastung ist der Patient so zu lagern, dass er unter keinen Umständen auf der Wunde zu liegen kommt. Welche Lagerungen durchgeführt werden können, ist abhängig von der Dekubituslokalisation. Wie oft umgelagert werden muss, ergibt sich aus dem Gefährdungsgrad des Patienten. Der patientenindividuelle «Lagerungsplan» wird schriftlich festgelegt und ist für alle an der Behandlung und Pflege Beteiligten verbindlich.
Lokale Ulkusbehandlung
q Für Stadium I mit intakter Haut besteht die Behandlung in der sofortigen vollständigen Druckentlastung. Eine zusätzliche Versorgung der Hautrötung durch geeignete Wundverbände wie zum Beispiel feuchtigkeitsspendende Hydrogele ist zur schnelleren Abheilung der Hautirritationen empfehlenswert.
q Stadium II (oberflächliche Ulzeration) bis Stadium III (tief reichendes Ulkus, aber mit noch intakter Muskelfaszie und Muskulatur über nichtinfizierten Knochen) werden in der Regel konservativ mit hydroaktiven Wundauflagen behandelt.
q Stadium IV hingegen (mit Muskel- und Knochenbeteilung und ossärer Infektion) stellt heute nach adäquater chirurgischer Intervention und Wundkonditionierung eine Indikation zum operativen Wundverschluss mit Hilfe von Lappenplastiken dar. Dabei sollten nicht nur jüngere Patienten, sondern mehr und mehr auch geriatrische Patienten von diesen Verfahren profitieren.
Welche Massnahmen wiederum im Rah-
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men der konservativen Wundbehandlung wann zu erfolgen haben, ist vorgegeben durch die in Phasen stattfindende Wundheilung, die auch bei chronischen Wunden, wenngleich unter teilweise erheblichen Verzögerungen und Störungen, ablaufen.
Reinigungsphase
In der Reinigungsphase werden untergegangenes Gewebe und Keime durch autolytische Prozesse abgeräumt. Da das Ausmass devitalisierten Gewebes bei einem Stadium-II- bis -III-Dekubitus häufig jedoch so gross ist, dass eine Wundreinigung durch die körpereigenen Vorgänge allein nicht mehr bewältigt werden kann, braucht die Wunde externe Unterstützung durch ein sorgfältiges Débridement. Dies kann chirurgisch oder physikalisch durch eine feuchte Wundbehandlung erfolgen. Das schnellste Verfahren zur Nekrosenabtragung ist das chirurgische Débridement mit Skalpell oder Schere (Abbildung 3a–d). Eine möglichst rasche Abtragung von Nekrosen ist deshalb von Bedeutung, weil nekrotisches, devitalisiertes Gewebe ein ideales Milieu für das Bakterienwachstum darstellt und so das Angehen von Infektionen begünstigt, aber auch die nutritive Situation des Gewebes weiter verschlechtert. Unter geschlossenen Nekrosekappen können sich zudem bereits eitrige Infektionen verbergen, die sich in tiefere Gewebsschichten ausbreiten und zu Osteomyelitis führen können. Indikationsstellung, Anordnung und ordnungsgemässe Durchführung des Wunddébridements sind sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich ärztliche Tätigkeiten. Die Pflicht des Arztes zur persönlichen Leistungserbringung schliesst jedoch nicht aus, dass er die Durchführung des Débridements im Einzelfall an Assistenzpersonal delegieren darf, vorausgesetzt, er hat überprüft, dass der beauftragte Mitarbeiter zur Erbringung dieser Leistung qualifiziert ist. Die in der Praxis nicht selten vorzufindende Situation, dass an den Wunden «herumgeschnipselt» wird, dürfte aufgrund der
Abbildung 3a–d: Verlauf eines chirurgischen Débridements unter OP-Bedingungen bei einem Dekubitalulkus. Es zeigte sich, dass die Schädigung bereits weitaus tiefer reichte, als dies die relativ kleine äussere Läsion erkennen liess.
rechtlichen Bestimmungen so also nicht eintreten. Kleinere Ulzerationen können unter adäquater Schmerzausschaltung, zum Beispiel unter Anwendung lokalanästhesierender Cremes, am Bett debridiert werden. Ausgedehnte Nekrosen oder auch Ulzerationen, bei denen noch nicht feststeht, wie weit sie in die Tiefe reichen, werden unter OP-Bedingungen debridiert. Nach dem Débridement wird sich in den überwiegenden Fällen die Konditionierung der Wunde mit Hilfe der feuchten Wundbehandlung anschliessen, das heisst, es muss Granulationsgewebe zur Defektfüllung aufgebaut werden. Von Fall zu Fall kann aber auch direkt im Anschluss an das Débridement eine Deckung mittels Lappenplastiken die Therapie der Wahl sein. Ist ein chirurgisches Débridement nicht möglich (zum Beispiel bei hochbetagten Patienten mit schlechtem Allgemeinzustand, bei Patienten unter Marcumarbzw. Heparin-Therapie, bei Patienten mit Fieber, Lungenentzündung, frischem Apoplex usw.), ist ein physikalisches Débridement die Alternative. Physikalisches
Débridement bedeutet, Nekrosen beziehungsweise fibrinöse Beläge mit Hilfe hydroaktiver Wundauflagen aufzuweichen und abzulösen. Dies bietet einige praktische Vorteile: Es ist selektiv, da nur devitalisiertes Gewebe aufweicht und abgeräumt wird – gesundes Gewebe wird nicht traumatisiert. Durch das feuchte Wundmilieu werden zudem die für die Reinigung und Proliferation zuständigen Zellen geschont und in ihrer Aktivität gefördert. Ausserdem ist die Methode sicher und «nebenwirkungsfrei» und in allen medizinischen Bereichen einfach durchzuführen, so zum Beispiel auch bei der Dekubitusbehandlung in der häuslichen Pflege. Zu berücksichtigen ist allerdings auch ein «Nachteil» des Verfahrens: Das physikalische Débridement ist nicht so schnell und nicht so effektiv wie das chirurgische, und die Reinigung wird längere Zeit in Anspruch nehmen – was Geduld von Seiten des Behandelnden und des Patienten erfordert. Das physikalische Débridement hat sich insbesondere zur Ablösung trockener Nekrosen an den Fersen bewährt. Diese sollten nämlich nicht chirurgisch abgetragen
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werden, um der Gefahr von Knochenentzündungen vorzubeugen. Zu beachten ist hingegen, dass feuchte Nekrosen wegen der Gefahr tiefer Eiterbildung sofort abgetragen werden müssen. Feuchte Nekrosen sind bei der Palpation an ihrer schwammigen Konsistenz wie auch an der Sekretabsonderung erkennbar. Zur praktischen Durchführung des physikalischen Débridements stehen verschiedene hydroaktive Wundauflagen zur Verfügung. Gegebenenfalls sind zur Unterstützung der feuchten Wundbehandlung Wundspülungen, zum Beispiel mit Lavasept oder Ringerlösung, hilfreich. Sie können kontinuierlich über einen eingelegten Katheter erfolgen, zum Beispiel bei schwierigen, infektiösen Wundzuständen, oder jeweils beim Verbandwechsel.
Infektionsprophylaxe und -bekämpfung
In der Reinigungsphase ist die Frage der Infektionsprophylaxe beziehungsweise -bekämpfung besonders akut. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass jeder Dekubitus bakteriell kontaminiert ist, was jedoch nicht gleichbedeutend ist mit einer manifesten Wundinfektion. Erst wenn sich eingedrungene Keime in der Wunde vermehren und durch ihre Toxine das Gewebe schädigen, kann vom Bestehen einer Infektion gesprochen werden. Die Anzeichen wie Rötung, Schwellung und Überwärmung im Wundgebiet sowie Schmerz, Fieber, Schüttelfrost und Leukozytose dienen als Entscheidungshilfe zur Erkennung. Je massiver ein Ulkus kontaminiert ist, um so grösser ist die Gefahr für das Angehen einer Infektion, weshalb die Keimbesiedelung möglichst gering zu halten ist. Grundlegende Massnahmen hierzu sind die Wiederherstellung einer ausreichenden Blut- und Sauerstoffversorgung der Wunde durch Druckentlastung, weil die immunkompetenten Zellen wie Leukozyten und Makrophagen zur Phagozytose Sauerstoff benötigen, sowie die Entfernung nekrotischen Gewebes, um dem Keimwachstum den Nährboden zu entziehen. Unterstützend trägt auch das Ab-
Abbildung 4: Schema Behandlungsablauf
saugen keimbelasteten Exsudats durch den Wundverband hier wirkungsvoll zur Keimeliminierung bei. Ist der Dekubitus klinisch manifest infiziert und sollen Antiseptika zur Desinfektion zur Anwendung kommen, ist bei der Wahl des Antiseptikums darauf zu achten, dass es keine Schmerzen verursacht und die Wundheilung möglichst wenig beeinträchtigt. Insbesondere sollte ein Risiko durch Resorption ausgeschlossen sein, was vor allem bei tiefen und grossflächigen Dekubitus mit ihrer langen Behandlungsdauer von Bedeutung ist. Als noch problematischer wird die lokale Anwendung von Antibiotika eingestuft, die heute als obsolet gilt. Sie beinhaltet das Risiko der Resistenzentwicklung und des Erregerwandels sowie ein höheres Risiko der Allergisierung, als dies bei Anti-
septika der Fall ist. Zudem ist es schwer, einen ausreichenden Wirkstoffspiegel zu erreichen und die Hemmung von Wundheilungsprozessen einzuschätzen. Bei schweren Infektionen wird die systemische Gabe von Antibiotika empfohlen, wobei zur Optimierung der Therapie möglichst eine Keim- und Resistenzbestimmung vorzunehmen ist.
Granulationsphase
Das Dekubitalulkus ist eine sekundär heilende Wunde, das heisst, zum Auffüllen des Defekts muss Ersatzgewebe, das so genannte Granulationsgewebe, aufgebaut werden. Diese Phase durchzustehen, bereitet in der Praxis vielfach erhebliche Schwierigkeiten, weil sie eine lange Zeit in Anspruch nimmt und absolute Konse-
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Abbildung 5a/b: Mullverbandstoffe verkleben mit der Wunde (links), beim Verbandwechsel wird neu gebildetes Gewebe mitabgerissen. Diese Wundheilungsstörung lässt sich durch die Verwendung atraumatischer Wundauflagen, wie zum Beispiel Gel bildender Kalziumalginat-Kompressen (rechts), problemlos vermeiden.
quenz bei der Einhaltung der Behandlungsprinzipien erfordert. Ein Wachstum des Granulationsgewebes kann nur dann stattfinden, wenn folgende Bedingungen erfüllt werden: q Das Ulkus muss über die gesamte Zeit
hinweg vollständig druckentlastet sein, damit die Durchblutung des Wundgebietes gesichert bleibt. q Das Wundbett darf nie austrocknen und muss permanent feucht gehalten werden. Trocknet die Wunde aus, sterben die zum Gefäss- und Gewebeaufbau notwendigen Zellen ab. Ein feuchtes Wundmilieu hingegen fördert die Proliferation der Zellen und stellt somit die beste Pflege von Granulationsgewebe dar. Die zur Verfügung stehenden hydroaktiven Wundauflagen ermöglichen es dabei, die Wunde problemlos dauerhaft feucht zu halten. q Die Wunde muss sowohl vor chemischer als auch mechanischer Irritation geschützt werden. Der Gebrauch lokaler Antiseptika sollte in dieser Phase deshalb unterbleiben. Befinden sich Partien der Wunde noch in der Reinigungsphase und müssen diese noch desinfiziert werden, ist um das Granulationsgewebe herum besondere Sorgfalt geboten. Mechanische Irritationen entstehen, wenn der Wundverband mit der Wunde verklebt und beim Verbandwechsel neu gebildetes Gewebe mitabgerissen wird (Zellstripping). Um diese erhebliche Wundheilungsstörung zu vermeiden, müssen die verwendeten Wundauflagen über atraumatische Ei-
genschaften verfügen, das heisst, sie dürfen auch bei längerer Anwendung auf sezernierenden Wunden nicht verkleben (Abbildung 5a/b). Alle hydroaktiven Wundauflagen sind atraumatisch und bieten deshalb auch in dieser Hinsicht absolute Sicherheit bei der Wundversorgung. q Weiter muss die Wunde vor Sekundärinfektion geschützt werden. Auch dazu sind entsprechende Wundauflagen mit keimdichten Oberflächen ein probates Mittel sowie selbstverständlich steriles Arbeiten beim Verbandwechsel. In dem Bemühen, den Aufbau des Granulationsgewebes bis zur Spontanepithelisierung oder Transplantationsreife zu beschleunigen, wird in der Praxis eine Vielzahl verschiedenster Substanzen zur Granulationsförderung eingesetzt. In klinischen Versuchen wurde allerdings für die meisten dieser Substanzen bisher keine eindeutig granulationsfördernde Wirkung festgestellt. Als wundheilungsfördernde Externa werden unter anderem Elektrolytlösungen, Dexpanthenol, Tetrachlordecaoxid, Kalzium, Zink und Zucker diskutiert. Insbesondere können durch Ringerlösung essenzielle Elektrolyte wie Natrium-, Kalium- und Kalziumionen zugeführt werden.
Epithelisierungsphase
Die Epithelisierung durch Mitose und Migration von Epithelzellen bringt die Wundheilung zum Abschluss. Auch für diese Phase sind das Feuchthalten der
Wundfläche und der Schutz des jungen
Epithels vor Zellstripping beim Verband-
wechsel die bedeutendsten Behandlungs-
massnahmen, abgesehen davon, dass
weiterhin eine vollständige Druckentlas-
tung stattfinden muss.
Allerdings epithelisieren gerade Dekubi-
talulzera in der Regel schlecht. Wie Seiler
et al. 1989 nachweisen konnten, zeigen
Epithelzellen am unmittelbaren Ulkusrand
eine stark eingeschränkte Migration. Die
Auswachsrate betrug lediglich 2 bis 7 Pro-
zent, gesunde Haut zeigte dagegen in der
Kontrolle eine Auswachsrate von zirka
80 Prozent. Gegebenenfalls ist deshalb
vor allem bei grossflächigen Ulzerationen
ein Wundverschluss durch Spalthauttrans-
plantation oder Reverdin-Plastiken in Erwä-
gung zu ziehen.
Nicht selten bei den langen chronischen
Heilungsverläufen ist auch die Konstella-
tion, dass die Wundränder epithelisieren
und sich nach innen einstülpen. Da dann
vom Wundrand aus keine weitere Epithe-
lisierung mehr stattfinden kann, ist ein
Anfrischen der Wundränder mit dem
Skalpell oder einer scharfen Schere ange-
zeigt.
q
Friedhelm Lang Abteilungsleitung Chirurgie am
Kreiskrankenhaus Leonberg D-71229 Leonberg
Hildegard Röthel CMC Medical Information
D-89522 Heidenheim
Genehmigter Nachdruck aus «Hartmann WundForum» 2/99. Diese Arbeit erschien auch in «Der Allgemeinarzt» 4/2003. Die Übernahme erfolgt mit Genehmigung von Verlag und Autoren.
Interessenkonflikte: keine
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