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Hypertoniebehandlung in der Geriatrie
AMERICAN JOURNAL OF GERIATRIC CARDIOLOGY
Ältere Hypertonikerinnen und
Hypertoniker sollten mit den-
selben Blutdruckzielen behan-
delt werden. Allerdings ist
dabei behutsamer und vor
allem auch langsamer vorzu-
gehen. Begleiterkrankungen
erfordern tiefere Blutdruck-
zielwerte.
Von einer «physiologischen» Altershypertonie mag heute niemand mehr sprechen. Vielmehr gilt ein (vor allem systolisch) erhöhter Blutdruck im Alter als pathophysiologische Manifestation einer veränderten Physiologie und Struktur von Herz und Gefässen, die sich in erhöhter kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität niederschlägt, wie der amerikanische Kardiologe Gary E. Sander in seinem Abriss im «American Journal of Geriatric Cardiology» einleitend festhält. Definiert man die ominöse BD-Grenze bei 140/90 mmHg, hat die Hälfte der Bevölkerung über 65 Jahre eine Hypertonie.
Besonderheiten der Hypertonie im Alter
Die geriatrische Hypertonie ist in der Regel salzsensitiv und oft begleitet von einer be-
einträchtigten Baroreflex-Antwort. Die Einschränkung der Salzzufuhr ist daher im Alter wichtig und effektiv; sie sollte vor oder zusammen mit jeder medikamentösen Therapie eingeleitet werden. Die Ergebnisse klinischer Studien stützen eine aggressive BD-Senkung auch bei geriatrischen Patienten. Entsprechend ermittelte eine Metaanalyse von acht Behandlungsstudien bei isolierter systolischer Hypertonie kürzlich eine Reduktion um 30 Prozent bei tödlichen und nichttödlichen Schlaganfällen, um 26 Prozent bei tödlichen und nichttödlichen kardiovaskulären Ereignissen sowie um 13 Prozent bei der Gesamtmortalität. Bei jüngeren Menschen wirksame Medikamente sind auch bei älteren Patienten effektiv: Diuretika (allein oder in Kombination mit kaliumsparendem Wirkstoff), Betablocker, lang wirkende DihydropyridinKalziumantagonisten, ACE-Hemmer und auch Angiotensin-Rezeptorhemmer (A-IIAntagonisten) haben ihre Wirksamkeit auch bei älteren Populationen bewiesen. Allerdings gilt es, die Definition «älterer» oder «geriatrischer» Patienten zu präzisieren. Im Einzelfall ist mit der Anzahl der Lebensjahre nicht alles gesagt; Altern ist ein funktioneller Prozess. Der funktionelle Zustand wird massgeblich bestimmt durch fehlende oder vorhandene Komorbiditäten. Im Auge zu behalten ist ferner, dass die Datenlage für ältere Menschen (über 65 Jahre) und erst recht für die geriatrische Population (über 75 Jahre) begrenzt ist. In besonderem Mass gilt dies für Frauen und Nichtweisse. Altersbedingt führen strukturelle und funktionelle Veränderungen vor allem in der Intima und der Media der grossen arteriellen Widerstandsgefässe zu einer Abnahme der Gefässelastizität. Korrelate sind eine relative Zunahme der Wand-
Merk-
punkte
q Die geriatrische Hypertonie ist in der Regel salzsensitiv. Die Einschränkung der Salzzufuhr ist daher im Alter wichtig und effektiv; sie sollte vor oder zusammen mit jeder medikamentösen Therapie eingeleitet werden.
q Die Ergebnisse klinischer Studien stützen eine aggressive Blutdrucksenkung auch bei geriatrischen Patienten.
q Bei jüngeren Menschen wirksame Medikamente sind auch bei älteren Patienten effektiv.
q Die potenzielle Rolle der NSAR – ob konventionelle oder COX-2Hemmer – bei Anstiegen des Blutdrucks oder plötzlich verschlechterter BD-Kontrolle darf nicht übersehen werden.
dicke und eine Einengung des Lumens. Weiter nimmt die Ansprechbarkeit des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Renin-Systems zunehmend ab, was sich teilweise mit einer Abnahme der zentralnervösen sympathischen Reaktivität erklären lässt. Zwar nehmen die Plasma-NoradrenalinSpiegel mit dem Alter zu, gleichzeitig nimmt aber die Betarezeptor-Empfindlichkeit ab. Die im Alter zu beobachtende Abnahme der Myokardkontraktilität lässt sich durch eine Abnahme der Katecholamin-Konzentrationen im Herzmuskel erklären. Die geriatrische Hypertonie ist in der Regel salzsensitiv. Diese erhöhte Salz-
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Hypertoniebehandlung in der Geriatrie
Ta b e l l e :
Antihypertensiva mit belegter Effektivität bei alten Patienten
q Thiazide (allein oder mit kaliumsparendem Wirkstoff)
q Betablocker
q lang wirkende DihydropyridinKalziumantagonisten
q ACE-Hemmer
q A-II-Antagonisten
empfindlichkeit hat zum Teil mit einer eingeschränkten Fähigkeit zur Salzausscheidung zu tun, die auf die Abnahme der Nierenfunktion einerseits, auf eine abnehmende Produktion saluretischer Substanzen wie Prostaglandin E2 und Dopamin andererseits zurückzuführen ist. Eine alternsbedingte Abnahme der Aktivität der Membran Na+/K+-ATPase kann zu höheren intrazellulären Kalziumkonzentrationen und damit zu einem gesteigerten Gefässwiderstand führen.
Blutdruckmessung Im Alter lässt sich ferner ein beeinträchtigter Baroreflex beobachten, mit inadäquatem Anstieg der Herzfrequenz und Orthostaseproblemen. Puls und BD sollten daher immer im Sitzen und im Stehen gemessen werden. Pathophysiologie und Praxis begegnen sich auch beim Phänomen der Pseudohypertonie, die durch nicht komprimierbare verdickte Arterien falsch hohe BD-Werte vortäuscht. Hier hilft das Osler-Manöver, also die gleichzeitige Palpation der A. radialis während des Aufpumpens der Manschette. Ein im Alter häufiges und charakteristisches Zeichen ist auch ein sehr labiler systolischer Blutdruck als Ausdruck einer mangelhaften Adaptation starrer Gefässe an vorübergehende Zunahmen der Auswurfleistung, etwa bei Anstrengung oder emotionaler Belastung. Bei alten Patienten ist schliesslich mit einer arteriosklerotischen Verengung der proximalen Arterienabschnitte zu rechnen. Sie
kann zu Seitenunterschieden bei den am Oberarm ermittelten BD-Werten führen, nach denen aktiv zu suchen ist. Zeigt sich eine deutliche Diskrepanz, sind die höheren BD-Werte für die Hypertonieeinschätzung massgebend.
Therapie
Nichtpharmakologische Therapie Auch im Alter sind nichtpharmakologische Massnahmen zur BD-Senkung effektiv. Dies zeigten Intervention zur Salzeinschränkung und zu Gewichtsabnahme bei Übergewichtigen in der TONE-Studie, die überdies zum Schluss kam, dass bei älteren Menschen Antihypertensiva dann abgesetzt werden können, wenn der BD unter 150/90 mmHg liegt und mit nichtpharmakologischen Massnahmen unter guter Kontrolle bleibt.
Pharmakologische Therapie Ältere Patienten, vor allem solche mit isolierter systolischer Hypertonie, haben sehr oft Begleiterkrankungen und Endorganschäden wie reduzierte Herzauswurfleistung, reduzierte Leber- und Nierenfunktion oder Diabetes. Im Allgemeinen darf man davon ausgehen, dass der Nutzen einer BD-Senkung umso grösser ausfällt, je höher das kardiovaskuläre Risiko ist. In klinischen Studien trat dies oft nicht in angemessener Weise zutage, da gerade Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) oder erheblicher systolischer linksventrikulärer Dysfunktion oder renaler Beeinträchtigung ausgeschlossen wurden. Die Bedeutung der Komorbidität liegt in ihrer wegweisenden Funktion beim Entscheid zur Therapie, bei der Festlegung der BD-Zielwerte und bei der Wahl der dabei eingesetzten Medikamente. So wird man bei Patienten mit Status nach Myokardinfarkt oder mit aktiver KHK eher Betablocker einsetzen und bei Diabetes einen tiefen BD-Zielwert anstreben (130/85 mmHg nach den JNC-VI-Kriterien oder bei Proteinurie wenn machbar 125/75 mmHg). Bei linksventrikulärer systolischer Dysfunktion sollte der systolische BD sogar unter 120 mmHg gesenkt werden, sofern dies die Myokardperfusion zulässt.
Die Interpretation der klinischen Studien wird durch verschiedene ConfoundingFaktoren behindert. Die meisten Untersuchungen bei «älteren» Hypertonikern nahmen Patienten über ein weites Altersspektrum auf. Es ist jedoch problematisch, die Ansprechraten und Behandlungserfolge bei 60- und bei 75-Jährigen zu vergleichen. Auch gibt es weniger Daten über Frauen und Nichtweisse, die vermutlich anders reagieren als weisse Männer. Auch erhielten viele zu Plazebo randomisierte Teilnehmer im Studienverlauf doch eine aktive Therapie, was das Ausmass des Therapieerfolgs mindert. Schliesslich war bei vielen Teilnehmern in der aktiven Therapiegruppe die Zugabe eines oder mehrerer weiterer Antihypertensiva notwendig, sodass Patienten, die entweder zu Diuretikum oder zu Betablocker randomisiert worden waren, schliesslich beides erhielten. Solche notwendigen Kombinationstherapien machen direkte Vergleiche zwischen einzelnen blutdrucksenkenden Wirkstoffen schwierig. Die auch bei älteren Patienten erwiesenermassen effektiven Antihypertensiva sind in der Tabelle aufgelistet. Die klinischen Daten zeigen, dass niedrig dosierte (≤ 25 mg) Thiazid-Diuretika, allein oder zusammen mit einem Kaliumsparer, die Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse bei Älteren signifikant senken. Dies gilt für erhöhte systolische und diastolische BDWerte, wobei die Risikoreduktionen bei Diabetes und eingeschränkter Nierenfunktion proportional grösser ausfallen. Die Risikoreduktion ist für Schlaganfall und Herzinsuffizienz grösser als für KHK. Die Überwachung des Kaliumspiegels ist von grosser Wichtigkeit. Thiazide scheinen auch einen Beitrag zur Erhaltung der Knochendichte im Alter zu leisten. Dihydropyridin-Kalziumantagonisten sind in der Behandlung der isolierten systolischen Hypertonie ebenfalls wirksam. Betablocker verringern die Häufigkeit zerebrovaskulärer Ereignisse, scheinen aber den BD weniger effektiv zu senken und führen nicht zu signifikant weniger Koronarereignissen oder zu einer signifikant tieferen Gesamtmortalität. Einige Studien haben auf eine Überlegen-
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heit der ACE-Hemmer im Vergleich zu den Kalziumantagonisten hinsichtlich der Verhütung kardiovaskulärer Ereignisse schliessen lassen, was jedoch weiterer Abklärungen bedarf. Inzwischen gibt es einige Untersuchungen, die zeigen, dass die A-II-Antagonisten auch bei älteren Patienten den systolischen und den diastolischen BD effektiv senken und sich zur Behandlung der isolierten systolischen Hypertonie eignen. Noch stehen jedoch Daten aus, die klar belegen, dass die BD-Senkung mit einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse einhergeht. Alphablocker werden zur Behandlung der Hypertonie bei älteren Männern propagiert, da man sich eine gleichzeitige günstige Beeinflussung von durch Prostatavergrösserung bedingten Beschwerden versprechen darf. Der Abbruch des Doxazosin-Behandlungsarms der ALLHAT-Studie wegen erhöhter Flüssigkeits- und Salzretention sowie vermehrten kardiovaskulären Ereignissen im Vergleich zum Thiazid-Arm mahnt jedoch zur Vorsicht.
Problematische NSAR Konventionelle nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sind dafür bekannt, dass sie Ödeme und Hypertonie hervorrufen können. Dies scheint auf einer Hemmung der Produktion vasodilatierender Prostaglandine zu beruhen. NSAR haben in mannigfachen klinischen Studien zu einem statistisch signifikanten BD-Anstieg um 3 bis 6 mmHg und zu einer Zunahme
kardiovaskulärer Ereignisse geführt. NSAR heben den Effekt der meisten Antihypertensiva auf. Besonders gilt dies für ACEHemmer und Betablocker; zentrale Alpha2-Blocker und Kalziumantagonisten scheinen gegenüber NSAR-Effekten relativ resistent zu sein. Piroxicam (Felden® u.a.), Naproxen (Proxen® u.a.) und Indometacin (Indocid® u.a.) haben den grössten negativen Effekt auf die BD-Kontrolle, bei Acetylsalicylsäure (Aspirin® u.a.) und Ibuprofen (Brufen® u.a.) sind die BD-Auswirkungen weniger ausgeprägt. Wichtig zu wissen ist auch, dass die neueren COX-2-spezifischen Antirheumatika wie Celecoxib (Celebrex®) oder Rofecoxib (Vioxx®) ebenfalls zu Salzund Wasserretention führen können. Eine gleichzeitig eingeschränkte Nierenfunktion macht ältere Hypertoniker für die Ödemneigung empfindlicher. Die Entwicklung von Ödemen korrelierte mit dem Verlust der Hypertoniekontrolle. Daher darf die potenzielle Rolle der NSAR – ob konventionelle oder COX-2-Hemmer – beim Anstieg des Blutdrucks oder bei plötzlich verschlechterter BD-Kontrolle nicht übersehen werden. Selbst kleine Blutdrucksteigerungen können grosse Folgen haben: in grossen Behandlungsstudien erklärten anhaltende Anstiege des systolischen Blutdrucks um 3 mmHg 10 bis 20 Prozent der Zunahme von kongestiver Herzinsuffizienz, 15 bis 20 Prozent der Zunahme von Schlaganfällen und 12 Prozent der Risikozunahme für Angina pectoris.
Blutdruck-Zielwerte Auch ältere Patienten sollten auf dasselbe BD-Ziel (< 140/90 mmHg) hin therapiert werden wie jüngere Hypertoniker. Der Weg dahin sollte jedoch länger sein, beispielsweise kann vorerst ein Zwischenziel von systolisch < 160 mmHg ratsam sein. Liegen Begleiterkrankungen vor, muss der Blutdruck wie erwähnt jedoch tiefer gesenkt werden. Sicher ist zunächst wenn möglich eine Monotherapie vernünftig, wobei die Anfangsdosis nur halb so hoch zu wählen ist wie bei Jüngeren. Bei der Therapieüberwachung sind die BD-Werte im Sitzen und im Stehen (nach 1 und 3 min) zu messen. Die sorgfältige Befragung nach Nebenwirkungen und die Überwachung der Elektrolytwerte und Nierenparameter verstehen sich von selbst. q Gary E. Sander (Section of Cardiology, Department of Medicine, Louisiana State University Health Services Center, New Orleans/USA): High blood pressure in the geriatric population: Treatment considerations. Am J Geriatr Cardiol 2002; 11 (3): 223–232. Halid Bas Interessenkonflikte werden in der Originalpublikation nicht deklariert. 42 A R S M E D I C I D O S S I E R I I I q 2 0 0 4