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Akuter Myokardinfarkt
THE LANCET
Die Erfolgsgeschichte ist bekannt: Die Einführung von Koronareinheiten in Spitälern, die pharmakologische Reperfusionsbehandlung und zuletzt der verbreitete Einsatz von katheterbasierten Interventionen haben die Spitalmortalität beim akuten Myokardinfarkt massiv sinken lassen. Zusätzlich hat die Langzeittherapie mit Aspirin, Betablockern, ACE-Hemmern und Statinen die Langzeitprognose der Infarktüberlebenden verbessert. Dennoch ist der Erfolg nicht total, und der Herzinfarkt bleibt klinisch, psychologisch und sozial ein schwer wiegendes Ereignis.
Als Gründe für die immer noch nicht befriedigende Situation nennen die niederländischen Autoren dieser Übersicht zu neueren Tendenzen um das Krankheitsbild: Noch immer gibt es sehr viele asymptomatische Individuen, die aufgrund von Veranlagung, Rauchen, ungesunder Ernährung oder körperlicher Inaktivität ein hohes Herzinfarktrisiko tragen. Bei solchen Menschen und auch bei bekannten Koronarpatienten scheint die Ärzteschaft die notwendigen präventiven Massnahmen nur mit mässigem Elan in der Praxis auch umzusetzen. Noch immer dürften etwa ein Drittel der Patienten mit sich entwickelndem Herzinfarkt sterben, bevor sie das Spital erreichen. Schliesslich hat das verbesserte Überleben bei Patienten mit akuten Korornarsyndromen zu einer steigenden Zahl von chronisch Herzkranken geführt, bedingt durch das Altern der Bevölkerung. Der Myokardinfarkt bleibt also ein drängendes medizinisches Problem, das Theoretiker, Kliniker und Praktiker in Atem hält.
Pathophysiologie
Mit dem Begriff Myokardinfarkt meint man den Untergang von Myozyten aufgrund einer länger anhaltenden Ischämie. Als solches ist der Herzinfarkt ein akutes Koronarsyndrom unter anderen, das im natürlichen Verlauf der Atherosklerose auftreten kann (Kasten «Von der Wiege bis zur Bahre – Stadien der Atherosklerose»). Im fortgeschritteneren Stadium bilden sich Plaques, die aber das Lumen noch nicht entscheidend verlegen. Die Erkrankung kann jahrelang stumm bleiben. Irgendwann werden Stenosen funktionell wichtig und führen zu Symptomen. Während des chronischen Prozesses können atherosklerotische Plaques einreissen
Merk-
sätze (1)
q Heute wird der atherosklerotische Prozess als chronische Entzündung aufgefasst. Allen bisher anerkannten Risikofaktoren ist gemeinsam, dass sie auf verschiedenen Wegen zum Eindringen und zur Aktivierung von Entzündungszellen in die Arterienwand beitragen.
q Ziel der Behandlung des thrombotischen Koronarverschlusses ist die rasche, vollständige und dauerhafte Wiederherstellung der Koronarzirkulation. Dazu stehen heute verschiedene pharmakologische – thrombolytische, plättchenhemmende und antikoagulierende – Wirkstoffe sowie katheterbasierte Interventionen zur Verfügung.
oder aufbrechen und eine intraluminale Thrombosierung einleiten. Dies geschieht im Allgemeinen bei angiografisch an sich unbedeutenden Stenosen. Die intraluminalen Thrombi können jedoch zum Totalverschluss einer Koronararterie führen, womit das entsprechende Areal des Herzmuskels von Sauerstoff und Ernährung abgeschnitten wird. Gefässspasmen und Mikroemboli können die Situation komplizieren. Bleibt die Durchblutung für mehr als 30 Minuten unterbrochen, besteht die Gefahr eines irreversiblen Myokardschadens, sprich Herzinfarkts. Je länger der Verschluss besteht, desto weiter breitet sich das Infarktgebiet aus. Nach
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Akuter Myokardinfarkt
Tabelle 1:
Etablierte kardiovaskuläre Risikofaktoren
Plasma-LDL-Cholesterin ➚ Plasma-HDL-Cholesterin ➘ Rauchen hoher Blutdruck Plasma-Glukose ➚ körperliche Aktivität Adipositas fortgeschrittenes Alter
++ ++ ++ ++ + + + +
++ = klare Evidenz; Modifikation senkt Risiko + = klare Evidenz; weniger klar, ob
Modifikation das Risiko senkt
ungefähr sechs Stunden wird das gesamte gefährdete Areal nekrotisch. Abnahme der linksventrikulären Funktion, der Lebensqualität und der Lebenserwartung sind die Folge. Diesem kurzen Abriss des Geschehens hat die Forschung weitere Aspekte hinzugefügt. Heute wird der atherosklerotische Prozess als chronische Entzündung aufgefasst. Allen bisher anerkannten Risikofaktoren (Tabelle 1) ist denn auch gemeinsam, dass sie auf verschiedenen Wegen zum Eindringen und zur Aktivierung von Entzündungszellen in die Arterienwand beitragen. Monozyten, die sich in aktivierte Makrophagen umwandeln, sowie Lymphozyten sind die hauptsächlichen Entzündungszellen, die unter das Endothel einwandern und dort ein Feuerwerk von Zytokinen und Wachstumsfaktoren entfachen, das den Schaden einleitet und verstärkt. Die fortschreitende Entzündung führt zum typischen Aufbau der atherosklerotischen Läsion mit einem Kern aus Lipiden und abgestorbenem Gewebe, umgeben von einer fibrösen Kapsel, die gern einreisst. Die Erkenntnis, dass es auch Infarktpatienten gibt, die keine etablierten Risikofaktoren haben, war für die Forschung nach weiteren Komponenten im Entzündungsschema der Atherosklerose stimu-
lierend. Inzwischen wird die Liste von Serummarkern für Entzündung als potenzielle Indikatoren einer Atherothrombose immer länger (Tabelle 2). Unter diesen neu hinzutretenden Faktoren («emerging risk factors») werden auch chronische Infektionen aufgezählt, obwohl hier die Datenlage doch sehr widersprüchlich ist. Der Ursprung der koronaren Herzkrankheit hat auch eine eindeutige genetische Komponente. Heute werden hier genetische Polymorphismen für Tumornekrosefaktor, transformierende Wachstumsfaktoren, Interleukin 1 und andere diskutiert. Ein weiteres Forschungsgebiet befasst sich mit Thrombosemarkern und dem Risiko koronarer Ereignisse. Die Liste der «emerging risk factors» wird immer länger – ob sich durch ihren Einbezug eine Verbesserung der Vorhersagekraft der bisherigen Risikofaktoren ergibt, bleibt aber abzuwarten.
Definitionen für den Myokardinfarkt
Laut WHO liegt ein Myokardinfarkt vor, wenn mindestens zwei der folgenden drei Kriterien erfüllt sind: q typischer ischämischer Brustschmerz q erhöhte Konzentration von Kreatin-
kinase-MB im Serum q typische EKG-Befunde inklusive
Entwicklung pathologischer Q-Wellen. Die Kreatinkinase-MB ist jedoch kein sensitiver Marker der Myokardnekrose. Die WHO-Definition hatte epidemiologische Zielsetzungen und verlangte nach hoher Spezifität, lässt aber manche Infarktpatienten durch die Maschen fallen. Im Hinblick auf Risikostratifikation und Therapieentscheidungen braucht es ein sensitiveres Kriterienbündel unter Einbezug der kardialen Troponine T und I. Die European Society of Cardiology (ESC) und das American College of Cardiology (ACC) haben daher gemeinsam eine neue Definition vorgeschlagen. Danach genügt irgendeines der folgenden Kriterien für die Diagnose eines sich entwickelnden, etablierten oder kürzlich durchgemachten Myokardinfarkts:
Tabelle 2:
Etablierte kardiovaskuläre Risikofaktoren
Entzündungsmarker:
C-reaktives Protein
+
Interleukine
+
Serum-Amyloid-A
+
Schwangerschaftsassoziiertes
Plasma-Protein-A
?
Chron. Infektion (Chlamydia
pneumoniae, H. pylori etc.) ?
Gerinnungsmarker:
Homocystein
+
Gewebe-Plasminogen-
Aktivator
+
Plasminogen-Aktivator-
Inhibitor
+
Lipoprotein A
+
Prozessmarker:
Fibrinogen
+
D-Dimer
?
Koronarverkalkung
?
Genetische Faktoren:
Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) ?
Transforming Growth
Factors (TGF)
?
Interleukin 1
?
CD14
?
Adhäsionsmoleküle
?
++ = klare Evidenz; Modifikation senkt Risiko + = klare Evidenz; weniger klar, ob
Modifikation das Risiko senkt ? = Risikofaktor wird untersucht
1. typischer Anstieg und gradueller Abfall (Troponin) oder rascherer Anstieg und Fall (Kreatinkinase-MB) von biochemischen Markern einer Myokardnekrose zusammen mit mindestens einem der folgenden: a. ischämische Symptome b. Entwicklung von pathologischen Q-Wellen im EKG c. Ischämiezeichen im EKG (ST-Hebung oder ST-Senkung) d. Koronareingriff (z.B. Koronarangioplastie)
2. Krankheitszeichen eines akuten Myokardinfarkts.
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Die ESC/ACC-Definition orientiert sich eher am klinischen Verlauf. Die meisten Patienten kommen zunächst mit Brustschmerzen, die an eine Koronarerkrankung denken lassen. Dazu können dann biochemische oder EKG-Zeichen eines Myokardschadens hinzutreten. Kritiker haben den klinischen Wert eines geringfügigen Myokardschadens, der hier vor allem bei Koronarinterventionen auch unter die Infarktdefinition fällt, angezweifelt. Für den diagnostischen Allgemeingebrauch ist die ESC/ACC-Definition wenig geeignet, da sie sehr frühe und tödliche Fälle nicht umfasst.
Behandlung im Spital
Ziel der Behandlung des thrombotischen Koronarverschlusses ist die rasche, vollständige und dauerhafte Wiederherstellung der Koronarzirkulation. Dazu stehen heute verschiedene pharmakologische – thrombolytische, plättchenhemmende und antikoagulierende – Wirkstoffe sowie katheterbasierte Interventionen zur Verfügung.
Thrombolyse Die «Meilensteinstudien» GISSI-1 und ISIS-2 belegten eine 26-prozentige Reduktion der 30-Tage-Mortalität durch Lyse mit Streptokinase (Streptase®). GUSTO-1 zeigte dann eine weitere Mortalitätsreduktion mit Alteplase (Actilyse®). Während der Neunzigerjahre wurden verschiedene weitere Lysewirkstoffe, zum Beispiel Reteplase (Rapilysin®), Lanetoplase oder Tenecteplase (Metalyse®) evaluiert. Reteplase zeigte gegenüber Alteplase keine Überlegenheit, während Tenecteplase und Lanetoplase vergleichbare Resultate brachten. In einer Metaanalyse waren die als Bolus verabreichten Wirkstoffe mit einem höheren Risiko für intrakranielle Blutungen assoziiert. Insgesamt erbrachte die Einführung von BolusThrombolytika keinen klinischen Nettonutzen, dennoch ist ein Vorzug darin zu sehen, dass heute auch thrombolytische Wirkstoffe zur Verfügung stehen, die eine ähnliche Wirksamkeit und Sicherheit bieten wie Alteplase, aber einfacher zu verabreichen sind.
Von der Wiege bis zur Bahre – Stadien der Atherosklerose
Geburt
Präklinisch: q genetische Disposition q Familienanamnese q Umwelt q «Lifestyle»
Klinisch – begünstigende Erkrankungen: q Diabetes mellitus q Hypertonie q Dyslipidämie
Klinisch – chronisch: q periphere arterielle Gefässerkrankung q koronare Herzkrankheit q zerebrovaskuläre Erkrankung
Klinisch – akut: q Hirnschlag / transiente ischämische Attacke q Aortenaneurysma q kritische Extremitäten-Ischämie q Myokardinfarkt
Klinisches Endstadium: q Herzinsuffizienz q schwere Invalidität
To d
Plättchenhemmung Eine adäquate Gefässdurchgängigkeit garantiert noch keine Durchblutung des Herzmuskelgewebes. Im Zusammenhang mit der Lysetherapie ergeben sich drei Probleme: q Der Thrombus kann unter der Therapie
zerfallen und eine distale Mikroembolisierung verursachen. q Die Thrombolyse greift nur den fibrinreichen roten Thrombusanteil an, während der plättchenreiche weisse Anteil unberührt bleibt. q Die Thrombolyse bewirkt erhöhte Konzentrationen an freiem Thrombin, was zur Aktivierung der Plättchen-
aggregation führt und die Mikrozirkulation weiter beeinträchtigen kann. Diese Überlegungen haben zur Kombination von Lyse und aggressiver Plättchenhemmung geführt. Die ISIS-2-Studie hatte gezeigt, dass die frühzeitige Verabreichung von Aspirin bei vermutetem Herzinfarkt nützlich ist. Gegenüber dem schwachen Plättchenhemmer Aspirin sind die Glycoprotein-IIb/IIIa-Hemmer wesentlich potenter. In klinischen Studien wie GUSTO-5 oder ASSENT-3, welche die Kombination von Lyse und Abciximab (ReoPro®) untersuchten, ergab sich übereinstimmend folgendes Bild: Die zusätzliche aggressive Plättchenhemmung hat
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keinen Einfluss auf die Mortalität, reduziert jedoch signifikant die Häufigkeit kombinierter Endpunkte inklusive Myokardinfarkt, ist aber mit einem erhöhten Risiko grösserer Blutungen belastet.
Antithrombine Um die erwähnte Thrombinfreisetzung aus dem Thrombus zu beeinflussen, könnten Lyse und Plättchenhemmung mit einer Antikoagulation oder Antithrombintherapie kombiniert werden. Entsprechende Untersuchungen mit unfraktioniertem Heparin ergaben jedoch keine eindrückliche Beeinflussung von Frühmortalität oder Reinfarktrate. Direkte Thrombininhibitoren wie Hirudin oder Bivalirudin haben gegenüber Heparin eine höhere antagonistische Potenz. In klinischen Studien bei Patienten mit STHebung ergab sich eine signifikante Reduktion der 30-Tages-Mortalität oder Reinfarktrate ohne Erhöhung der Blutungskomplikationen. Auch niedermolekulare Heparine bieten in der Klinik Vorteile gegenüber unfraktioniertem Heparin. In der ASSENT-3-Studie hatten Lysepatienten, die zusätzlich zu Enoxaparin (Clexane®) randomisiert wurden, ein geringeres Todes- und Reinfarktrisiko innert der ersten 30 Tage.
Perkutane Koronarinterventionen Randomisierte Studien zeigen bessere klinische Resultate mit der mechanischen Reperfusion im Vergleich zur pharmakologischen Wiederherstellung des Blutflusses. So fand eine Metaanalyse von 23 randomisierten Studien eine 27-prozentige Reduktion der Frühmortalität zugunsten der perkutanen Angioplastie. Der Unterschied hängt jedoch auch stark von der Art der verglichenen Lysetherapie ab: in fibrinspezifischen Studien war er geringer, auf Streptokinase basierenden Regimes deutlich höher. Für viele Diskussionen gesorgt hat die Frage, ob eine Verlegung zur Katheterintervention einer sofortigen Lysebehandlung im Einweisungsspital überlegen ist. Inzwischen sehen amerikanische Guidelines die primäre perkutane Koronarintervention als eine der Lyse ebenbürtige
Merk-
sätze (2)
q Inzwischen sehen amerikanische Guidelines die primäre perkutane Koronarintervention als der Lyse ebenbürtige Alternative, und die Empfehlungen der European Society of Cardiology betrachten das primäre invasive Vorgehen als bevorzugte Option, wenn der Eingriff innert 90 Minuten nach dem ersten Arztkontakt erfolgen kann.
q Für die Langzeittherapie nach durchgemachtem Herzinfarkt ist der Wert von Aspirin, Betablockern und ACE-Hemmern eindeutig belegt. Etwas weniger eindeutig ist die Datenlage hinsichtlich Antikoagulation und Statinen.
q Noch immer lässt die medizinische Praxis ein substanzielles Potenzial zur Verhütung von erneuten Erkrankungen und Todesfällen bei Koronarpatienten brachliegen.
Alternative, und die Empfehlungen der European Society of Cardiology betrachten das primär invasive Vorgehen als bevorzugte Option, wenn der Eingriff innert 90 Minuten nach dem ersten Arztkontakt erfolgen kann. Heute ist die primäre Stenteinlage zudem eine sichere Alternative, welche die angiografischen und klinischen Resultate der Ballondilatation zusätzlich verbessern kann. Als weitere Bereicherung der Therapie ist die Kombination mit GlykoproteinIIa/IIIb-Inhibitoren anzusehen, welche die Folgen von während der Stentplatzierung beziehungsweise Ballondilatation entstehenden Gefässläsionen bekämpft.
Zeit ist Herzmuskel Als eine der wichtigsten Determinanten für den Erfolg einer pharmakologischen
Reperfusionstherapie gilt die Zeit zwischen Symptombeginn und Behandlung. Entsprechend wurde nach Wegen gesucht, die Fibrinolysetherapie schon vor Eintreffen im Krankenhaus zu beginnen. Zwei Metaanalysen deuten auf eine signifikante Mortalitätsreduktion bei diesem Vorgehen, zumal eine derart frühe Lysebehandlung auch dreimal häufiger zu einer Unterbrechung der eben beginnenden Infarktentwicklung führt. Die primäre Angioplastie geht im Vergleich zur Lyse mit einer längeren Behandlungsverzögerung einher. Wie lange diese Verzögerung sein müsste, um den Behandlungsvorteil der Angioplastie zunichte zu machen, bleibt aber unklar. Eine grosse Beobachtungsstudie sah einen Anstieg der Mortalitätsraten, wenn zwischen Spitaleintritt und Dilatation mehr als zwei Stunden vergingen. Allerdings erhalten vielerorts nur wenige Patienten innerhalb von zwei Stunden nach Symptombeginn eine primäre Angioplastie.
Prävention und Langzeitbehandlung
Nach einem Myokardinfarkt ist eine gute Risikostratifikation hinsichtlich weiterer Koronarereignisse wichtig. Bei Hochrisikopatienten ist eine Koronarintervention zu erwägen. Im Allgemeinen müssen die Anstrengungen aber schwergewichtig auf eine Beeinflussung ungünstiger Faktoren der Lebensführung zielen, mit individualisierten Ratschlägen zu Rauchverzicht, Ernährung, Gewichtskontrolle und Training. Daneben ist für die Langzeittherapie der Wert der pharmakologischen Prävention mit Aspirin, Betablockern und ACE-Hemmern eindeutig belegt. Etwas weniger eindeutig ist die Datenlage hinsichtlich Antikoagulation und Statinen.
Aspirin Hauptkronzeuge für die Langzeittherapie mit Aspirin ist eine Metaanalyse von 25 randomisierten Studien in der kardiovaskulären Sekundärprävention, die auch zehn Postinfarktstudien mit Plättchenhemmung umfasste. Gesamte vaskuläre
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Mortalität, nichttödliche Reinfarkte und Hirnschläge sowie schwer wiegende vaskuläre Ereignisse waren unter Plättchenhemmung signifikant seltener. Zwar besteht kein allgemeiner Konsens, aber aus indirekten Daten kann man doch schliessen, dass Aspirin nach Infarkt zeitlich unbeschränkt verordnet werden sollte.
Betablocker In der akuten Phase unmittelbar nach Infarktbeginn kommen intravenöse Betablocker für Patienten mit Tachykardie (ohne Herzinsuffizienz), Hypertonie oder opiatrefraktärem Brustschmerz in Betracht, sofern keine Kontraindikationen offensichtlich sind. Die kurzfristige Betablockade scheint jedoch keinen Morbiditäts- oder Mortalitätsvorteil zu bringen, sofern sie nicht langfristig weitergeführt wird. Aufgrund von Langzeitstudien sollten Betablocker nach einem durchgemachten Herzinfarkt unbefristet weitergeführt werden.
ACE-Hemmer Sofern keine gewichtigen Kontraindikationen vorliegen, sollten ACE-Hemmer in der frühen Phase nach hämodynamischer Stabilisation begonnen werden. Verschiedene klinische Studien haben belegt, dass dies zu weniger Reinfarkten sowie zu einer günstigen Beeinflussung des ventrikulären Remodellings führt, was die Entwicklung einer Herzinsuffizienz und derer Folgen verhüten hilft. ACE-Hemmer sind wahrscheinlich bei Hochrisikopatienten und asymptomatischen Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion am wirkungsvollsten. Wird die Behandlung gut vertragen, sollte sie unbeschränkt weitergeführt werden.
Statine Zwei Beobachtungsstudien haben gezeigt, dass Überlebende akuter Koronarsyndrome nach sechs Monaten und
einem Jahr eine geringere Mortalität aufwiesen, wenn sie das Spital mit einer Statinverordnung verlassen hatten. In der MIRACL-Studie wurden Patienten mit akutem Koronarsyndrom entweder zu Atorvastatin (Sortis®) oder Plazebo randomisiert. Die Mortalitätsreduktion war nicht signifikant, hingegen brachte das Statin eine signifikante Reduktion beim zusammengesetzten Endpunkt Tod, nichttödlicher Reinfarkt, Herzstillstand mit Reanimation und symptomatische Myokardischämie. Werden Statine bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom nach Spitaleintritt abgesetzt, sind Todesfälle und Reinfarkte gegenüber Patienten, welche die Statine weiter erhalten, häufiger.
Antikoagulation Eine orale Antikoagulation könnte auch längerfristig eingesetzt werden. Die meisten derartigen Studien stammen allerdings noch aus der Zeit vor dem Siegeszug von Aspirin. Die Kombination von Aspirin mit mehr oder weniger intensiver Antikoagulation hat nicht ganz eindeutige Resultate gebracht, und im Hintergrund steht immer das erhöhte Blutungsrisiko.
Wie weiter?
Mit dem Konzept der Koronaratherosklerose als Entzündungskrankheit wird die Forschung sich auf die Entwicklung und weite Erfassung von Entzündungsparametern konzentrieren, die sich schon bei geringgradiger Entzündung der Gefässwand als Serummarker eignen. Diese Jagd nach neuen Risikomarkern sollte jedoch die Aufmerksamkeit nicht von dem ablenken, was schon bekannt ist. In dieser Hinsicht haben die EUROASPIRE-Erhebungen nämlich eindrücklich gezeigt, dass zwischen Mitte und Ende der letzten Dekade keine wirklichen Erfolge bei der Risikofaktormodifikation erzielt wurden – sei
dies bei der Häufigkeit des Rauchens, der
Bekämpfung von Übergewicht und Dia-
betes oder bei der Prävalenz von Hyperto-
nie und Hypercholesterinämie. Diese Be-
funde sind als Zeugnis eines kollektiven
Versagens der medizinischen Praxis ge-
geisselt worden, das ein substanzielles
Potenzial zur Verhütung von erneuten Er-
krankungen und Todesfällen bei Koronar-
patienten brachliegen lässt.
Ähnlich erscheint die Situation auch bei
der Akutbehandlung. Einerseits ent-
wickelt sich die Reperfusionsbehandlung
ständig weiter, wird immer raffinierter;
von der Forschungsarbeit unter anderem
mit niedermolekularen Heparinen, Anti-
Faktor-Xa-Wirkstoffen oder Clopidogrel
(Plavix®) darf man sich weitere Fortschritte
versprechen. Andererseits werden beste-
hende Reperfusionstherapien mit beleg-
ter Wirksamkeit immer noch zu selten
eingesetzt. Auch zu dieser Feststellung
gibt es gute Erhebungen, die in vielen,
auch europäischen Ländern unverändert
häufig zu selten verabreichte oder zu spät
beginnende Reperfusionsbehandlungen
vorfanden.
q
Eric Boersma et al. (Erasmus University Medical Center and Thoraxcenter, Department of Cardiology, Rotterdam/NL): Acute myocardial infarction. Lancet 2003; 361: 847–858.
Halid Bas
Interessenkonflikte: keine deklariert
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