Transkript
RÜCKBLICK | AUSBLICK
Neurologie
Dr. med. Daniel Eschle Facharzt für Neurologie, Physikalische Medizin und Rehabilitation Kantonsspital Uri
Kein Grund zur Neurophobie
Welche neuen Erkenntnisse des abgelaufenen Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend? Wenn wir Diabetespatienten über die Gefahren des hohen Blutzuckers aufklären, kommen Komplikationen wie die diabetische Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie zur Sprache. Gemäss verschiedenen epidemiologischen Studien besteht auch ein erhöhtes Parkinson-Risiko. Da ein Typ-2-Diabetes mehrheitlich mit Übergewicht assoziiert ist, kann die Krankheit durch eine Gewichtsreduktion erfolgreich kontrolliert werden. Kann daraus geschlossen werden, dass somit eine gewisse Parkinson-Prävention resultiert? Wahrscheinlich ja – zumindest stehen die Vorzeichen gut. In einer doppelblinden und plazebokontrollierten Studie mit Lixisenatid, einem GLP-1-Rezeptoragonisten, konnte eine Verschlechterung der motorischen Parkinson-Symptome verhindert werden (NEJM. 2024;390:1176-85). Somit eröffnet sich mit diesen neuen Erkenntnissen die Perspektive, mit Medikamenten, die schon im ärztlichen Alltag verankert sind und gar nicht erst auf eine Zulassung warten müssen, direkten Einfluss auf einen neurodegenerativen Krankheitsprozess zu nehmen.
Die künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde und hat in der Medizin in gewissen Bereichen bereits Einzug gehalten. Nutzen Sie KI bereits für Ihre Arbeit? Bis jetzt hat die KI noch keinen Einzug erhalten in meinen neurologischen Arbeitsalltag. Ich habe einen gewissen Respekt davor, da es meistens nicht möglich ist, die eigentliche Quelle und somit die Vertrauenswürdigkeit der Informationen zu überprüfen. Ich würde dafür plädieren – nach skandinavischem Vorbild –, grosse Datensätze aus Registern auszuwerten, um medizinische sowie gesundheitspolitische Fragestellungen zu beantworten. Das könnte in Zukunft mit dem «elektronischen Patientendossier» auch in der Schweiz einmal möglich sein.
Was hat Sie 2024 am meisten gefreut und was am meisten geärgert? Ich freue mich immer, wenn sich in unseren Zeiten mit steigenden Gesundheitskosten einfache und kostengünstige Massnahmen als wirksam erweisen. Streckmann et al. konnten nachweisen, dass mit einem physiotherapeutischen Trainingsprogramm die Häufigkeit einer chemotherapieinduzierten peripheren Neuropathie (CIPN) signifikant reduziert werden konnte (JAMA Intern Med. 2024;184(9):1046-1053). In dieser randomisierten Studie konnte je nach verwendetem Chemotherapeutikum eine Reduktion der CIPN-Inzidenz zwischen 50 und 70% erzielt werden. Das kann sich positiv auf die Lebensqualität sowie auf die Therapieadhärenz und somit den onkologischen Verlauf auswirken.
Ist 2025 in Ihrem Fachbereich etwas Besonderes zu erwarten / geplant und was versprechen Sie sich davon? Was erhoffen Sie sich von 2025? Die heutigen verlaufsmodulierenden Therapien für die Multiple Sklerose sind hoch wirksam und haben der Krankheit ein ganz neues Gesicht gegeben. Der Gedanke an den «Rollstuhl» ist nicht mehr zuvorderst. Mittlerweile dreht sich die Diskussion immer häufiger um den Zeitpunkt, wann solche Therapien wieder beendet werden können. In dieser Hinsicht wären serologische Biomarker hilfreich, um die Krankheitsaktivität zu monitorisieren: Wer muss mit der vollen Dosis weiterfahren, wer kann reduzieren und wer kann nach einigen Jahren mit «no evidence of disease activity» (NEDA) ganz aufhören? Ich hoffe, wir werden 2025 mehr dazu erfahren.
Was ist Ihre wichtigste «Message» für die Kolleginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis? Die Neurologie als Fachrichtung wird oft als komplex und teils sogar als angsteinflössend wahrgenommen – im englischsprachigen Raum ist von «neurophobia» die Rede. Das ist bedauerlich, da neurologische Fragestellungen wie Kopfweh oder Schwindel mit hoher Regelmässigkeit in der hausärztlichen Praxis anzutreffen sind und in vielen Fällen dort auch gut behandelt werden können. Ich würde es deshalb begrüssen, wenn sich angehende Hausärztinnen und Hausärzte mit dem Fachgebiet anfreunden könnten, zum Beispiel mit einem neurologischen Fremdjahr. Auch im Rahmen der Fortbildungspflicht sollten neurologische Themen mehr Raum bekommen, um beispielsweise bei der Diagnose und Therapie des besonders häufigen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels sattelfest zu werden.
22 ars medici 1 | 2025