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Allgemeine Innere Medizin/ Hausarztmedizin
Dr. med. Adrian Müller FA für Allgemeine Innere Medizin in Horgen und Präsident der APA (Ärzte mit Patientenapotheke)
Zeitlimitationen respektlos gegenüber Hausarztmedizin
Welche neuen Entwicklungen des letzten Jahres fanden Sie für Ihr Fachgebiet besonders spannend? Die grösste Änderung der letzten Jahre ist sicher die starke Zunahme der Anwendung von Biologicals und Biosimilars. Diese Medikamente, die ein sehr enges und spezifisches Indikationsgebiet haben, helfen einem Teil der Patienten sehr gut. Bei anderen Patienten stehen jedoch die Nebenwirkungen im Vordergrund – Nebenwirkungen, die wir sonst so nicht kennen. Problematisch ist hierbei, dass die Fallkosten durch den grosszügigen Umgang mit diesen Medikamenten in einer Grössenordnung von mehreren Hundert oder gar Tausend Prozent ansteigen – selbst bei kleineren Indikationen wie einer geringgradigen Psoriasis. Dies könnte die Hausarztmedizin massiv verändern, da uns für andere Therapieformen und Abklärungen mit der Zeit schlicht das Budget fehlen wird. Ein weiteres Beispiel mit erheblichen Auswirkungen ist die Preisentwicklung bei Generika. Deren Preise wurden kontinuierlich gedrückt, weil Medikamente in der ambulanten Medizin zu teuer seien. Dabei wird ignoriert, dass Generika nur einen einstelligen Prozentanteil der gesamten Medikamentenkosten ausmachen. Die Folge: Generika sind teilweise nicht mehr lieferbar, da einige Anbieter sich vom Schweizer Markt zurückziehen.
Die KI ist in aller Munde und hat in der Medizin in gewissen Bereichen bereits Einzug erhalten. Nutzen Sie KI bereits für Ihre Arbeit? Grundsätzlich nutzen wir KI schon jetzt jedes Mal, wenn ein Patient uns eine Apple Watch mit einer Vorhofflimmerwarnung entgegenstreckt. Das ist sicherlich die pragmatischste und direkteste Anwendung in der Hausarztmedizin. Ich benutze zudem einen Mail-Client, der Mails anhand von Inhalt und Herkunft kategorisiert und gegebenenfalls zusammenfasst – steuerbar nach Herkunft. Ausserdem kann ich mir Vorschläge für Antworten unterbreiten lassen.
Gab es im vergangenen Jahr einen Fall, der Sie besonders beschäftigt oder berührt hat? Ich hatte einen 70-jährigen Patienten, der wegen einer bekannten kardialen Problematik im Unispital betreut wurde. Da er sich dort gut aufgehoben fühlte, habe ich ihn in dieser Zeit nicht gesehen. Als er mit zunehmender Dyspnoe zu mir
kam, habe ich ihn zur Abklärung ins Unispital geschickt. Trotz umfangreicher Untersuchungen, darunter ein kardiales MRI und ein hochauflösendes Lungen-CT, wurde nichts gefunden. Einfachere Untersuchungen wie ein Lungenröntgen wurden hingegen nicht gemacht. Der Patient wurde ohne Diagnose und mit unveränderter Dyspnoe zu mir zurückgeschickt, er konnte nicht einmal mehr Treppen steigen. Ich überwies ihn daraufhin an einen Pneumologen, der sehr pragmatisch abklärte. Mithilfe konventioneller Röntgentechnik erkannte dieser relativ schnell, dass die Restriktion in der Lungenfunktion auf eine beidseitige Zwerchfellparese zurückzuführen war. Es stellte sich heraus, dass der Patient an einer Sonderform von ALS litt. Mittlerweile erhält er Rilutek®, und obwohl wir erst spät mit der Behandlung beginnen konnten, hat er nun doch bereits elf Monate überlebt – was bei ALS in dieser Form nicht selbstverständlich ist.
Was hat Sie als Hausarzt 2024 am meisten gefreut und was hat Sie am meisten geärgert? Der TARDOC. Positiv ist, dass er trotz aller Initialhürden eingeführt wurde. Besonders erfreulich ist das separate Kapitel für die Hausarztmedizin, da unsere Spezialisierung nun als eigenständige Disziplin und fachärztliche Kompetenz wahrgenommen wird. Allerdings gibt es auch zahlreiche Ärgernisse. Der grösste Ärger ist sicherlich, dass uns Hausärzten immer vermittelt wird, wir müssten alles im Gespräch lösen und den Patienten zuhören – während Spezialisten vor allem Untersuchungen durchführen. Der TARDOC hat für Gespräche jedoch ein Limit von 20 Minuten, auch bei Hausbesuchen. Das ist absolut absurd, denn ein Notfall-Hausbesuch ist in dieser Zeit überhaupt nicht machbar. Es wird offenbar erwartet, dass wir gratis arbeiten – ebenso bei Leistungen in Abwesenheit des Patienten. Gleichzeitig fordern Krankenkassen und andere Institutionen immer mehr «Papier» von uns. Ein respektvoller Umgang mit der Hausarztmedizin sieht anders aus. Es ist schlicht unmöglich, in 20 Minuten mit einem Patienten über lebensverändernde Entscheidungen, wie beispielsweise einen Umzug ins Altersheim, zu sprechen. Dies ist respektlos gegenüber den Ärzten, aber auch gegenüber den Patienten.
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Ein zentrales Anliegen ist die Einführung eines funktionierenden elektronischen Patientendossiers (EPD). Es ist positiv, dass das bisherige System auf null gestellt wurde, da es von Anfang an eine Totgeburt war. Was wir benötigen, ist keine Sammlung von PDFs, die irgendwo abgelegt werden – denn das sehen wir täglich. Wir erhalten hunderte PDF-Seiten pro Tag per Mail und ertrinken in Überinformation. Das ist gefährlich für die Patienten und für uns nicht bewältigbar. Das Wichtigste an einem EPD ist eine klare Therapieübersicht: Welche Medikamente nimmt der Patient aktuell? Das muss zentral erfasst werden, damit sowohl der Patient als auch alle behandelnden Ärzte, Spitäler und Pflegeheime
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jederzeit informiert sind. Ich hoffe, dass endlich eingesehen wird, dass eine zentrale Datenbank für die Medikation aller Patienten das wichtigste Gut im ambulanten Gesundheitswesen ist. Ohne dieses Element wird ein EPD nie er-
folgreich sein. Alles andere – Laborwerte, Diagnosenlisten, PDFs – ist ein netter Luxus, aber ohne eine zentrale Medikationsübersicht wird das EPD nie funktionieren.
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