Transkript
BERICHT
Stuhlinkontinenz
Mehr als nur unfreiwilliger Stuhlabgang
Menschen mit Stuhlinkontinenz müssen oft ihren Tagesablauf um ihre Entleerung herum planen oder auf Aktivitäten ganz verzichten, um Stuhlunfälle zu vermeiden. Scham, geringes Selbstwertgefühl und Depressionen beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich. Ein Patentrezept für die Therapie gibt es nicht. Ernährungsumstellung, Lebensstilanpassungen, Beckenbodenmuskelübungen und stuhlaufquellende Mittel können aber ein erster Schritt sein. Fehleinschätzungen aufgrund unzureichend gesicherter Erkenntnisse sind bei der Behandlung von Stuhlinkontinenz weit verbreitet. Wie häufige Fehler vermieden werden können, war am Jahreskongress der United European Gastroenterologists (UEG-Week) zu erfahren.
Von einer Stuhlinkontinenz ist die Rede, wenn wiederholt unkontrollierte Stuhlabgänge während der letzten drei Monate aufgetreten sind. Auch wenn die Patienten deswegen ärztliche Hilfe aufsuchen, ist die Scham, darüber zu reden, immer noch gross. Deshalb sollte die Anamnese gezielt mit den richtigen Fragen erhoben werden. Zusätzlich müssen Veränderungen von Stuhlgewohnheiten, Anstrengung bei der Entleerung, unvollständige Entleerung, vorhandenes oder fehlendes Dranggefühl und die Fähigkeit, die Defäkation zu verzögern, erfragt werden. An Krankheitsbilder, die eine fäkale Inkontinenz verursachen können, wie beispielsweise Darmkrebs, sollte gedacht werden (Kasten 1), ebenso an eine mögliche Beckenbodendysfunktion oder an gastrointestinale Probleme. Des Weiteren sollte nach bereits erfolgten Therapieversuchen gefragt werden.
optionen mit den Patienten zu diskutieren und auszuwählen. Die Zuweisung zu einer Selbsthilfegruppe zum Austausch mit anderen Betroffenen kann eine Hilfe für die Patienten sein.
Digital-rektale Untersuchung notwendig
Das Weglassen der digital-rektalen Untersuchung gilt als Fehler. Obschon die Diagnose der Stuhlinkontinenz aufgrund der Anamnese gestellt werden kann, gibt die digitalrektale Untersuchung Hinweise zu anderen Abnormitäten, die zur Stuhlinkontinenz führen können, wie beispielsweise Sphinkterdysfunktionen, Stuhlimpaktion, palpable maligne Neoplasien. Perianale Abszesse oder Fisteln und/oder Schmerzen bei der digital-rektalen Untersuchung können auf eine chronisch entzündliche Erkrankung hindeuten.
Komplexes anorektales Problem
Fäkale Inkontinenz sollte als ein komplexes, vielschichtiges anorektales Problem behandelt werden. Die Ursachen sind oft heterogener und multifaktorieller Natur. Dazu gehören beispielsweise gastrointestinale Funktionsstörungen, Beckenbodendysfunktion, psychologische und soziale Faktoren. Unter den gastrointestinalen Problemen bei diesen Patienten sind Symptome wie Obstipation, Diarrhö, Blähungen, Bauchkrämpfe und Bauchschmerzen häufig. Bei Beckenbodenproblemen können eine obstruktive Defäkationsstörung, ein Beckenorganprolaps, chronische Beckenschmerzen, Urininkontinenz sowie eine sexuelle Dysfunktion vorliegen.
Lebensqualität nicht ausser Acht lassen
Neben den physischen Symptomen sind die Auswirkungen der Stuhlinkontinenz auf die Lebensqualität beträchtlich. Die Tagesplanung dieser Patienten richtet sich oft nach der Erkrankung. «Normale» Aktivitäten wie beispielsweise Einkaufen, Sport, Reisen, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel wie auch soziale Kontakte werden vermieden, was in die Isolation führen kann. Zudem werden oft Ohnmachtsgefühle, Ängste und Depression beschrieben. Eine Berücksichtigung dieser Umstände kann helfen, die Therapie-
Unrealistische Erwartungen ausräumen
Obwohl bei einigen Patienten bestimmte Therapieoptionen zu einer vollständigen Beseitigung der Symptome führen, bewirken die Massnahmen oft nur eine Verringerung des Schweregrads und keine vollständige Heilung. Eine transparente Darstellung dieser Tatsache kann spätere Enttäuschungen verhindern. Wenn eine Behandlung zu einer teilweisen Linderung der Symptome geführt hat, können zusätzliche Behandlungsoptionen versucht werden.
Keine Einheitslösung
Weil es sich bei der Stuhlinkontinenz um eine heterogene Störung in Bezug auf Ätiologie, Pathophysiologie und Patientencharakteristika handelt, sind mehrere Ursachen für den Zustand möglich, und die genaue Ätiologie kann unklar bleiben. Es können unterschiedliche Symptome und Beschwerden zu unterschiedlichen Tageszeiten auftreten. Ätiologie und Pathophysiologie sind individuell meist verschieden, damit auch die nutzbringenden Therapiemassnahmen. Eine Therapie, die für alle passt, gibt es nicht. Berichtet der Patient über eine flüssige Stuhlkonsistenz, kann diese mit Loperamid oder Psyllium (Flohsamen) verbessert werden, vor allem wenn sie mit einer Diätänderung oder Medikationsänderung
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BERICHT
Kasten 1:
Häufige Erkrankungen, die eine Stuhlinkontinenz verursachen können (Auswahl)
▲ Kolonkarzinom ▲ kolorektales Trauma oder Operation ▲ chronisch entzündliche Darmerkrankung oder Proktitis ▲ Zöliakie ▲ neurologische Erkrankungen ▲ kognitive Erkrankungen
Kasten 2:
Behandlungsalgorithmus bei Stuhlinkontinenz gemäss Guidelines der UEG/ESCP/ESNM/ESPCG
First-Line-Therapie: ▲ Information einschliesslich Verhaltensberatung (z. B. Toiletten-
routine/Darmtraining) ▲ Ernährungsumstellung (z. B. ballaststoffreich, koffeinarm,
FODMAP) ▲ Lebensstilanpassung (z. B. Rauchstopp, Gewichtsabnahme) ▲ absorbierende Produkte ▲ Hautbarrierecremes (bei inkontinenzbedingter Dermatitis) ▲ Beckenbodenmuskelübungen mit oder ohne Biofeedback ▲ Quellmittel (z. B. Fasern) ▲ Medikamente gegen Durchfall (z. B. Loperamid)
Second-Line-Therapie nicht chirurgische Interventionen: ▲ perkutane posteriore Tibialisnervstimulation ▲ transanale Spülung ▲ Analeinlagen chirurgische Interventionen: ▲ sakrale Neuromodulation ▲ Sphinkterplastik ▲ Stoma
Quelle: mod. nach (1).
einhergeht. Bei der Therapie sollten die Präferenzen des Patienten wie auch dessen Möglichkeiten berücksichtigt werden. Eine transanale Irrigation beispielsweise kann für einen Rentner, der seinen Tag frei planen kann, richtig sein, für eine berufstätige Person eher weniger. In schweren Fällen kann auch ein Stoma das Richtige sein. Je nach der Aktivität, die ein Patient wieder aufzunehmen wünscht, ist die passende Therapiemassnahme anders. Deshalb ist es wichtig, die Bedürfnisse des Patienten zu erfragen und bei der Therapieplanung entsprechend zu berücksichtigen.
Verbesserung der Stuhlkonsistenz als erster Schritt
Eine Stuhlkonsistenz, die zu Durchfall, Verstopfung oder einer Kombination von beidem führen kann, ist ein wesentlicher Faktor oder Ursache für die Stuhlinkontinenz.
Die Optimierung dieser Konsistenz mit Psyllium oder Loperamid ist der erste Schritt in der Behandlung. Eine genaue Instruktion ist jedoch nötig. Psyllium sollte nicht zusammen mit Süssstoffen wie Sorbitol eingenommen werden, da Letzteres selbst diarrhoisch wirkt. Psyllium ist ein Quellmittel, das grosse Mengen von Wasser binden kann, aber selbst nur schwer wasserlöslich ist. Es sollte mit Haferflocken, Joghurt oder Pudding eingenommen werden, um den Geschmack zu verbessern. Unmittelbar nach der Einnahme sollte die Flüssigkeitszufuhr beschränkt werden, damit das Psyllium die überschüssige Flüssigkeit im Dickdarm aufnehmen kann. Zur Festigung von flüssigem Stuhl kann auch Loperamid eingenommen werden. Dieses soll vorsichtig und in der niedrigstmöglichen Dosis eingenommen werden, da es leicht zu Verstopfung führen kann.
Zügig überweisen
Kann dem Patienten nicht mehr weitergeholfen werden, sollte man sich für eine Überweisung an den Spezialisten entscheiden. Der allgemeine Mangel an Evidenz in Kombination mit der heterogenen und vielschichtigen Natur der Erkrankung kann es nämlich schwierig machen, den besten Behandlungspfad für jeden Fall zu finden. Die meisten Behandler fühlen sich wohl, wenn sie mit einer Erstlinienbehandlung, wie in Kasten 2 beschrieben, beginnen. Allerdings ist ein multidisziplinärer Ansatz zu bevorzugen, wenn diese Optionen versagen oder nicht zu einer ausreichenden Reduktion der Symptome führen. Sollte kein multidisziplinäres oder Expertenteam in der Nähe zur Verfügung stehen, ist es wichtig herauszufinden, wo ein solches Team verfügbar ist. Auf diese Weise können alle Fälle besprochen und bei Bedarf weitergeleitet werden, um sicherzustellen, dass die bestmögliche Hilfe gegeben wird.
Sakrale Neuromodulation
Seit der Einführung der sakralen Neuromodulation 1995
haben viele Patienten mit Stuhlinkontinenz davon profitiert.
Oft ist ein Rückgang der Symptome zu beobachten, manch-
mal auch ein Stopp. Beides führt zu einem enormen Gewinn
an Lebensqualität. Der Vorteil dieser Methode liegt darin,
dass die Patienten die Kontrolle über ihr Device haben. Das
kann manchmal auch ein Nachteil sein. Für manche kann die
sakrale Neuromodulation die Lösung aller Probleme bedeu-
ten, bei anderen hilft sie nicht oder nur kurze Zeit. Die an-
haltende Wirksamkeit liegt zwischen 44 und 86 Prozent;
über den Zeitverlauf nimmt sie jedoch ab. Als potenzielle
Nebenwirkungen sind die chirurgischen Risiken zu nennen
sowie mögliche Schmerzen oder Unbehagen aufgrund des
Implantats. Ein Batteriewechsel wie auch eine Bleimigration
erfordert eine Reoperation.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Mistakes in faecal incontinence management and how to avoid them.», Jahreskongress der United European Gastroenterologists (UEGWeek), 14. bis 17. Oktober 2023 in Kopenhagen.
Referenz: 1. Assmann SL et al.: Guideline for the diagnosis and treatment of faecal
incontinence – a UEG/ESCP/ESNM/ESPCG collaboration. United European Gastroenterol J. 2022;10(3):251-286.
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