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BERICHT
Therapie chronischer Schmerzen
Schmerzpatienten in die Verantwortung nehmen
Die Therapie chronischer Schmerzen ist eine Herausforderung. Neben den medikamentösen Möglichkeiten kann auch der Patient zur Schmerzreduktion beitragen. Wie, das erklärte Dr. Monika Jaquenod-Linder, Wirbelsäulen- und-Schmerz-Clinic Zürich, Klinik Hirslanden, am Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) in Luzern.
Patienten mit chronischen Schmerzen sind eine Herausforderung. Denn sie delegieren die Schmerzlinderung an den Arzt und wollen alle Optionen durchprobieren, was hohe Kosten verursacht. Sie hätten kein Verständnis dafür, dass die moderne Medizin für ihr Problem keine Lösung biete, skizzierte Jaquenod die Situation. Deshalb sollten Schmerzpatienten in die Verantwortung eingebunden werden. Denn der Schmerzpatient könne wesentlich zur Schmerzlinderung beitragen, allerdings nicht ohne Aufwand. Körperliche Aktivität, beispielsweise 150 bis 300 Minuten pro Woche, verbessert die Immunfunktion und vermindert die Entzündung. Sie verbessert laut Jaquenod das Outcome bei Schmerzen, bei COVID19, bei malignen Erkrankungen, bei Herz-, Lungen- und Diabeteserkrankung. Kraft- und Ausdauertraining bewirkten epigenetisch Veränderungen in der Muskulatur, wohingegen Inaktivität unter anderem zu einer verminderten Kollagenproduktion der Sehnen und zu mehr Sehnenrissen führe, erklärte die Schmerzexpertin. Bei einer geplanten Operation ist es daher wichtig, den Patienten sowohl vor als auch nach dem Eingriff trainieren zu lassen. Vor einer Knieprothesenoperation beispielsweise sollte der Patient in die Physiotherapie geschickt werden, um aktiv den Quadrizeps möglichst gut aufzubauen. Denn die Stabilisation durch die Muskulatur ist für den Erfolg des Eingriffs wichtig. Wichtig für die Motivation ist auch, dass der Patient über die Gründe dieser Massnahmen informiert ist und diese mitträgt. Schmerztherapien sollten immer im Zusammenhang mit körperlicher
KURZ & BÜNDIG
� Schmerzen sind komplex – es gibt keine Patentrezepte.
� Medikamente allein genügen nie, die Steigerung der körperlichen Aktivität hilft zusätzlich.
� Massnahmen zur Schlafverbesserung einleiten.
� Den Patienten in die Verantwortung einbinden.
� Bei langfristiger Schmerztherapie eine Gewöhnung verhindern und retardierte Opioide verordnen.
Aktivität durchgeführt werden, so der Rat der Referentin. Hilfreich sei möglicherweise die Verwendung eines Schrittzählers. Damit der Muskelaufbau gelingt, braucht es auch Entspannung in Form von Schlaf. Ist dieser gestört, sind eine Beratung zu Schlafhygiene und ein geeignetes Schlafmittel hilfreich, wie beispielsweise Pregabalin, Antidepressiva (Trazodon), Sirdalud, Melatonin oder sporadisch Z-Substanzen. Chronische Schmerzen haben weitere Komponenten. Biologische Faktoren wie die Nozizeption durch Schmerzfasern und das Schmerzgedächtnis, psychologische Faktoren wie Angst, Panik und Erfahrung sowie soziale Schwierigkeiten bei der Arbeit und in der Familie können die Schmerzen verstärken. Diese Faktoren sollten behandelt werden, sonst entstehe eine Dekonditionierung (disuse syndrome), so Jaquenod.
Möglichkeiten zur Schmerzlinderung
Zur pharmakologischen Analgesie gab die Schmerzexpertin folgende Tipps: Nicht steroidale Antiphlogistika (NSAID) sind entzündungshemmend, sie sollten weder miteinander noch mit Diuretika und ACE-Hemmern kombiniert werden. Bei Patienten mit Nieren-, Magen-Darm- und Herzkrankheiten sind sie mit Vorsicht einzusetzen. Die Patienten sollten zur intermittierenden Einnahme motiviert werden, eine langfristige Verordnung muss sehr gute Gründe haben. Paracetamol zeigt bei manchen Patienten eine gute Wirkung, bei anderen gar keine. Die Nebenwirkungen sind ähnlich wie bei NSAID, über 2 g wirkt es lebertoxisch. Metamizol wirkt analgetisch, antipyretisch, spasmolytisch und sehr schwach entzündungshemmend. In Pflegeheimen ist es das am meisten verwendete Analgetikum. Bei Langzeitanwendung besteht jedoch das Risiko für eine Toleranzentwicklung, was in Kombination mit Opioiden weniger auftritt. Mit Tramadol beziehungsweise Opioiden zusammen wird die Wirkung potenziert, der Mechanismus ist jedoch unklar. Als Nebenwirkung von Metamizol kann eine Agranulozytose auftreten, die sich mit Heiserkeit, Angina, Fieber, Rachenulzerationen zeigt. Sind die Schmerzen neuropathischer Art, kann mit medikamentösen antineuropathischen Therapien wie Antiepileptika
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und Antidepressiva eine Schmerzlinderung von 30 Prozent erreicht werden (1). Das trizyklische Antidepressivum Trimipramin ist in Tropfenform gut dosierbar, und die Patienten schlafen damit auch besser. Mit einer Initialdosis von 5 Tropfen (5 mg) am Abend kann es täglich um 1 Tropfen gesteigert werden (bis maximal 50–100 mg/Tag). Als Nebenwirkung kann es zu einer Gewichtszunahme kommen. Gabapentinoide wie Gabapentin und Pregabalin wirken stimmungsstabilisierend, verbessern den Tiefschlaf und wirken anxiolytisch. Gewichtszunahme, Müdigkeit und Schwindel können als Nebenwirkungen auftreten. Gabapentin sollte, beginnend bei 100 mg, während 4 bis 7 Tagen bis zum Auftreten von Nebenwirkungen oder bis maximal 3600 mg/Tag langsam gesteigert werden. Weitere Antiepileptika wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Topiramat und Lamotrigin haben unter vielen anderen Nebenwirkungen auch einen positiven psychotropen Effekt, der sie als Schmerzmedikation einsetzbar macht.
Opioide möglichst in retardierter Form einsetzen
Kurz wirksame Opioide haben ein grosses Suchtpotenzial, auch in Kombination mit ebenfalls kurz wirksamen Analgetika (z. B. Codein/Paracetamol). Patienten mit chronischen Schmerzen sollten daher langfristig auf retardierte Formen eingestellt werden. Der Therapiebeginn könne in der Titrationsphase wegen der Nebenwirkungen mit Tropfen erfolgen, dann aber sollte auf retardierte Präparate umgestellt werden, so die Empfehlung der Schmerzexpertin. Patienten mit einer Sucht auf kurz wirksame Opioide brauchen das Präparat nicht mehr nur zur Schmerzlinderung, sondern um «normal zu funktionieren» und um mehr Energie zu haben, wie eine Untersuchung über die Beweggründe einer jahrelangen Opioideinnahme zeigte (2). Entzugserscheinungen hindern sie daran und lassen sie müde werden. Denn Opioide bremsen das endogene Opioidsystem nachhaltig, das für die Schmerzlinderung und die körperliche Homöostase zuständig ist. Dazu gehören unter anderem Belohnung, sexuelle Aktivität, Gemütslage, soziales Funktionieren, Erinnerung, Atmung, Durst und Temperaturregulation. Exogene Opioide müssen demnach nicht nur zur Schmerzlinderung, sondern auch zur Wiederherstellung der körperlichen Homöostase und des damit verbundenen Lebensgefühls immer wieder eingenommen werden («... needing opioids to simply feel normal ...») (3). Die S3-Leitlienie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) empfiehlt das Setzen von realistischen Zielen, eine regelmässige Überprüfung der Indikation, die jederzeitige Erwägung eines Opioidstopps oder einer Opioidpause und die Einhaltung einer Höchstdosis von 120 mg Morphinäquivalenten pro Tag. Zudem ist eine gute Patientenaufklärung wichtig wie auch ein multimodaler Ansatz. Wenn die Schmerzlinderung keine Funktionsverbesserung bringt, sollte der Opioideinsatz reevaluiert werden (4).
Opioid nicht gleich Opioid
Zu den klassischen Opioiden gehören Morphin, Fentanyl, Hydromorphon und Oxycodon. Buprenorphin ist ein partieller Agonist am µ-Rezeptor, ein Antagonist am k-Rezeptor und ein Natriumkanalblocker. Methadon ist ein Agonist am
µ-Rezeptor und ein Antagonist am NMDA-Rezeptor. Tramadol wirkt sowohl als Serotonin- und NoradrenalinReuptake-Inhibitor als auch als Agonist am µ-Rezeptor. Tapentadol ist ein Agonist am µ-Rezeptor sowie ein Noradrenalin-Reuptake-Inhibitor. Bei Patienten mit palliativen Schmerzen soll die Schmerzlinderung möglichst früh einsetzen, dies ohne Begrenzung und immer mit einer Durchbruchmedikation in Reserve. Ziel ist eine möglichst gute Schmerzreduktion. Bei alten Patienten in Pflegeheimen, deren Schmerzen mit NSAID nicht ausreichend gelindert werden, kann Tramadol dazugegeben werden. Das Problem der Dosissteigerungen über die Jahre infolge Toleranzentwicklung bestehe hier nicht, doch sei zu bedenken, dass Tramadol die Sturzneigung erhöhe, erinnerte die Referentin. Bei allen anderen Patienten mit gutartigen Schmerzen kämen Opioide dagegen erst nach Prüfung von Alternativen in Betracht, und dies nur mit Dosisbegrenzung und wenig Durchbruchmedikation. Der Verbrauch sollte genau kontrolliert werden, ebenso die Abgabe, Dosissteigerungen sollten nicht unkritisch gewährt werden. Zudem sollten die Patienten zur Steigerung der körperlichen Aktivität angehalten werden.
Alternativen zu Opioiden
Eine weitere nicht opioide Möglichkeit stellt Capsaicin in
Form eines Pflasters dar (Qutenza®). Es werde bei peripheren
neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen eingesetzt und
wirke bei bis zu der Hälfte der Anwender, so Jaquenod.
Dabei ziehen sich die C-Fasern zurück, während neue, nor-
malisierte Fasern einwachsen. Wiederholte Behandlungen
erhöhen die Responserate, drei Applikationen scheinen zu
genügen.
Eine weitere Möglichkeit besteht in der Anwendung des
NMDA-Rezeptor-Blockers Ketamin. Der NMDA-Rezeptor
ist an der Entstehung und Aufrechterhaltung des Schmerz-
gedächtnisses und von chronischen Schmerzen wie auch an
der Entstehung der Toleranzentwicklung gegenüber Opioi-
den beteiligt. In der chronischen Schmerztherapie kann Keta-
min intravenös oder subkutan angewendet werden.
Auch bei Cannabis werde in Einzelfällen von guter Schmerz-
linderung berichtet, doch eine sichere Evidenz fehle dazu, so
die Schmerzexpertin abschliessend.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Der Wandel fordert die Schmerztherapie heraus». Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 20. bis 21. Juni 2024, Luzern.
Referenzen: 1. Moisset X et al.: Pharmacological treatments of neuropathic pain: real-
life comparisons using propensity score matching. Pain. 2022;163(5):964974. doi: 10.1097/j.pain.0000000000002461. 2. Barth KS et al.: Pain and motives for use among non-treatment seeking individuals with prescription opioid dependence. Am J Addict. 2013;22: 486-491. doi: 10.1111/j.1521-0391.2013.12038.x. 3. Ballantyne JC et al.: Discovery of endogenous opioid systems: what it has meant for the clinician’s understanding of pain and its treatment. Pain. 2017;158(12):2290-2300. doi:10.1097/j.pain.0000000000001043. 4. Deutsche Schmerzgesellschaft: Leitlinie Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS), 2. Aktualisierung, 2020. www.awmf.org
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