Transkript
BERICHT
Ukrainehilfe der Schweiz
Ein Tropfen auf den heissen Stein
Die Ukrainehilfe der Schweiz mag winzig erscheinen, aber für manche Verwundete und Kranke ist sie lebensrettend. Kriegsreporter Kurt Pelda von CH Media berichtet, wie er mit seinem Verein «Swiss UAid» in der Ukraine gezielt humanitäre Hilfe leistet.
Der Pick-up ist hinter einem Haus unter einem Tarnnetz geparkt. Auf seiner Ladefläche befinden sich ein Reserverad, eine schmuddelige, rote Matratze und eine militärgrüne Rettungsdecke. Hier legen die ukrainischen Sanitäter, zwei Zwillingsbrüder aus dem Norden des Landes, Verwundete ab, um sie zum nächsten Spital zu bringen. Obwohl das Fahrzeug nur wenig Platz bietet, sagen die Zwillinge, dass sie bis zu drei Verwundete aufs Mal transportieren können. «Wir lassen niemanden zurück, wir sind hier die Lebenshoffnung für die Leute.» Mit «die Leute» meinen die Sanitäter sowohl Soldaten der ukrainischen Streitkräfte als auch die rund 500 Zivilisten, die in der kleinen Stadt Tschasiw Jar im Osten des Landes ausharren. Die Russen stehen bereits am östlichen
Angeblich bietet dieser Pick-up Platz für bis zu drei Verwundete. Bild: Kurt Pelda (K.P.)
Im verwüsteten Spital von Tschasiw Jar
Bild: K.P.
Rand der Siedlung. Die meisten zurückgebliebenen Zivilisten sympathisieren mit den Invasoren und warten auf die «Befreiung». Der Rest der Bevölkerung, die vor 2022 noch rund 11 000 Menschen umfasste, ist geflüchtet. Diese Zahlen geben einen guten Eindruck, wie klein der Anteil jener Bewohner im Osten ist, die tatsächlich lieber zu Russland als zur Ukraine gehören möchten. Die Sanitäterzwillinge schicken uns zum städtischen Krankenhaus. Wir sollen eine Kostprobe der Zerstörungen erhalten, die der Krieg hier angerichtet hat. Das Problem ist, dass praktisch alle ukrainischen Zivilspitäler auf den Satellitenbildern von Google markiert sind. Dementsprechend ist es für die russischen Truppen ein Leichtes, die Krankenhäuser mit Artillerie oder Fliegerbomben anzugreifen. Dass sie dies häufig mit Absicht tun, haben sie bereits bei ihren Einsätzen im syrischen Kriegsgebiet ab 2015 bewiesen. Auch die Propaganda, mit der Moskau heute die Verantwortung für solche Kriegsverbrechen entrüstet von sich weist, zeigt klare Parallelen zur Desinformation während des Syrienkriegs. Dem Kreml geht es dabei selten darum, eine «Gegenwahrheit» zu präsentieren, sondern im Westen Zweifel zu säen. Könnte es nicht sein, dass die Ukrainer in Tat und Wahrheit die eigenen Spitäler bombardieren, um diese Schandtat den Russen in die Schuhe zu schieben? So geschehen zum Beispiel nach der Attacke mit einem klar als russisch identifizierten Marschflugkörper auf die onkologische Abteilung des grössten ukrainischen Kinderkrankenhauses in der Hauptstadt Kiew Anfang Juli. Der Weg zum Spital von Tschasiw Jar führt uns durch Hinterhöfe voller Müll und Trümmer. Kein einziges Haus ist unbeschädigt, überall gähnen leere Fensterhöhlen, die Scheiben wurden durch Granatsplitter oder Druckwellen zerstört. Bei den wenigen Zivilisten, denen wir begegnen, handelt es sich fast ausschliesslich um alte Leute. Sie hausen in den Kellern ihrer Ruinen. Die Dachziegel eines Hauses sind von Explosionen abgedeckt, zu sehen ist nur noch der ausgebrannte Dachstock. Ein dreistöckiger Backsteinbau diente als Krankenhaus, doch nun sind Personal und Patienten evakuiert. Die Fenster sind ausnahmslos kaputt, manche wurden notdürftig mit Spanplatten geflickt. Wir betreten das Gebäude über eine metallene Rampe. Ein Schild neben dem Eingang warnt vor Rutschgefahr. Im Innern herrscht Chaos, überall liegen Trümmer, Glassplitter und zerstörtes Mobiliar herum. In einem oberen Stockwerk wurde ein Krankenzimmer durch eine Granate verwüstet. In einem Büro der Verwaltung steht noch eine ausgedörrte Topfpflanze auf einer Ablage. Im Flur hängt ein blaues Schild, das den Tagesablauf auf der Station
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Ein Leichtverwundeter in einem von Swiss UAid gelieferten
Fahrzeug
Bild: zVg
Vor Kurzem haben wir in Grossbritannien eine Ambulanz ersteigert, die
dank eines Grossspenders in der Schweiz mit modernen medizinischen
Geräten ausgestattet wurde.
Bild: K.P.
Unser Vertrauensmann Juri hat das Fahrzeug von Aadorf in die Ukraine überführt und es dort einer medizinischen Institution übergeben. Bild: zVg
von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends beschreibt. Der Dachstock ist durch eine Vielzahl von Einschlägen komplett zerstört, das Gebäude ist nun der Witterung schutzlos ausgeliefert. Das nächste funktionierende Spital liegt in der sehr viel grösseren Nachbarstadt Konstantinowka rund zwölf Kilometer Luftlinie entfernt. Die Zwillinge der Sanitätseinheit müssen ihre Verwundeten also über diese Strecke auf der offenen Ladefläche transportieren, über holprige und im Sommer staubige Pisten, die sich im Herbst und Winter in Schlamm verwandeln. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Fahrzeuge zu sehen bekomme, die für den Transport von Verwundeten nicht geeignet sind. Das war auch der Auslöser, dass ich mich schon im Frühling 2022 entschied, Geld- und Sachspenden zu sammeln, um den Ukrainern geräumige und geländegängige Occasionen zu spenden, in deren Kabine jeweils bis zu zwei Verwundete – vor Staub und Witterung geschützt – in ein Spital gebracht werden können. Evakuierungen laufen im ukrainischen Kriegsgebiet ungefähr so ab: In den Schützengräben an der Front müssen die Soldaten verwundete Kameraden bis zu einem Ort tragen, den ein gepanzertes Fahrzeug erreichen kann. Häufig sind das alte amerikanische Mannschaftstransporter wie die früher auch in der Schweiz verwendeten M113, die Verletzte abholen und ins rückwärtige Gebiet fahren. An der Front ist die Gefahr von Granateinschlägen und Drohnen viel zu gross, als dass man sich dort mit Fahrzeugen ohne Panzerung fortbewegen könnte. Als Nächstes folgt der Treffpunkt mit improvisierten Transportern wie jenem Pick-up der beiden Zwillingsbrüder in Tschasiw Jar. Reguläre Ambulanzen kommen nicht mehr bis in diese kleine Frontstadt, weil sie sonst von russischen Drohnen angegriffen werden. Also müssen die Zwillinge Verwundete entweder bis zu einem Krankenwagen oder direkt in ein Spital bringen. Mancherorts gibt es auch so genannte Stabilisierungspunkte, wo lebensrettende Massnahmen ergriffen werden, um den späteren Transport in ein Krankenhaus zu ermöglichen. Zivile Zentrumsspitäler lassen sich auf jedem Stadtplan und auf Google Maps problemlos finden. Darum sind die ukrainischen Streitkräfte dazu übergegangen, die Kapazität der häufig überlasteten zivilen Krankenhäuser zu erweitern, indem sie zum Beispiel in früheren Schulhäusern und anderen öffentlichen Gebäuden improvisierte Spitäler mit 50 bis 100 Betten einrichten. Der genaue Standort wird geheim gehalten, um russischen Angriffen vorzubeugen. Ausserdem werden Lastwagen zu Operationssälen auf Rädern umgebaut. So wird das Risiko, von Geschossen getroffen zu werden, minimiert, und ausserdem können diese OP-LKWs dann jeweils zum Ort des höchsten Bedarfs gefahren werden. Um dezentrale Krankenhäuser zu unterstützen – egal ob es sich dabei um zivile oder militärische Einrichtungen handelt –, hat mein Verein Swiss UAid 2023 begonnen, Spitalbetten und eine grosse Menge medizinischer Geräte aus Schweizer Krankenhäusern und Arztpraxen in die Ukraine zu transportieren. Allein aus dem ehemaligen See-Spital Kilchberg am Zürichsee haben wir mehr als 90 Betten und medizinisches Material mit einem Gesamtgewicht von 38 Tonnen auf sechs ukrainische Sattelschlepper verladen. Die Fracht wurde in ein zentrales Lagerhaus in der Region Kiew
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Verlad von Geräten und Mobiliar des See-Spitals Kilchberg auf einen
ukrainischen Sattelschlepper.
Bild: K.P.
Ein Zivilspital in der Region Charkiw hat soeben Material
aus dem See-Spital Kilchberg erhalten.
Bild: zVg
Blick in einen Gebärsaal der Frauenklinik von Cherson.
Bild: K.P.
gebracht. Dort durften sich dann Zivil- und Militärärzte aus dem ganzen Land aussuchen, was in ihren jeweiligen Spitälern oder Stabilisierungspunkten am nötigsten gebraucht wurde. Eine gemeinnützige ukrainische Stiftung, mit der wir im medizinischen Bereich zusammenarbeiten, lieferte die Sachspenden dann jeweils mit dem Lastwagen aus. So gelangten auch Mobiliar und Geräte aus dem See-Spital Kilchberg in ein kleines Zivilspital in der Region Charkiw. Bei einem Besuch im letzten Winter war die Klinik erst vor Kurzem eröffnet worden. Im Erdgeschoss behandelte das Personal bereits Pa-
tienten, während ein Operationssaal im ersten Stockwerk und diverse Krankenzimmer noch renoviert und mit dem Mobiliar aus Kilchberg ausgestattet wurden. Wie wertvoll gerade moderne Spitalbetten für Verwundete sind, erklärte mir ein junger Ukrainer, der auf eine russische Schmetterlingsmine getreten war. Sein Fuss musste letztlich unterhalb des Kniegelenks amputiert werden. Monatelang dauerte seine Odyssee durch ukrainische Spitäler, wo er meist flach auf einfachen Betten oder Matratzen untergebracht war. Ohne die Möglichkeit, sein Bett zu verstellen, wie das in jedem Schweizer Krankenhaus möglich ist, hatte er in der Anfangsphase mit Fixateur externe grösste Mühe, sich ohne Hilfe im Bett aufzurichten zu den Mahlzeiten, zum Stuhlgang und zum Urinieren. Attacken auf medizinische Einrichtungen wie das Kinderspital in Kiew schaffen es zwar in die Medien, doch der Beschuss oder die Bombardierung kleinerer Krankenhäuser wird im Westen meist nicht wahrgenommen. Zum Beispiel in der südlichen Stadt Cherson, die direkt am grossen Fluss Dnjepr (ukrainisch: Dnipro) liegt. Cherson wurde im Herbst 2022 von den Ukrainern eingenommen, nachdem sich die Russen auf das gegenüberliegende Flussufer zurückgezogen hatten. Von dort beschiessen sie die Stadt regelmässig mit Artillerie. Als ich das letzte Mal in Cherson war, zeigte mir der Direktor die Frauenklinik seines Spitals. Der Mann hatte auch während der russischen Besatzungszeit ausgeharrt. Nun, nach der Befreiung, erinnerten ihn die Explosionen russischer Geschosse daran, wie nahe die Invasoren immer noch waren. Ein Trakt der Frauenklinik wurde von einer russischen Grad-Rakete getroffen, doch glücklicherweise blieb der weiter im Inneren gelegene Gebärsaal unversehrt. Weniger Glück hatte ein Team des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) Anfang Februar 2024. Die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation waren etwas flussaufwärts mit zwei weissen Geländewagen, die klar als humanitäre Fahrzeuge gekennzeichnet waren, auf einer Erkundungsmission. Dennoch wurden sie von einer oder mehreren russischen Kampfdrohnen angegriffen. Zwei französische HEKS-Mitarbeiter fanden den Tod, und vier weitere Angestellte kamen mit verschiedenen Verletzungen davon. Beide Fahrzeuge brannten aus. Humanitäre Hilfe an Orten, die von kleinen russischen Kampfdrohnen erreicht werden können, ist gefährlich. Allgemein heisst es, dass die Quadcopter, die von den Russen als Kamikazedrohnen eingesetzt werden, bis maximal 20 Kilometer tief in ukrainisch kontrollierte Gebiete eindringen können. Für Swiss UAid sind dort Missionen nur dann zu rechtfertigen, wenn ich als Reporter der Zeitungen von CH Media ohnehin in diese Gefahrenzone fahren muss. Die meisten Hilfsgüter übergeben wir aber weit vor der Front an ukrainische Institutionen, denen wir vertrauen. So geschehen zum Beispiel mit einem ausgemusterten Löschfahrzeug, das die Stadt St. Gallen Swiss UAid überlassen hatte, damit wir es in den Donbass bringen. Die Übergabe erfolgte durch St. Galler Feuerwehrmänner nahe der ukrainisch-slowakischen Grenze ganz im Westen des Landes – an Feuerwehrleute aus dem Donbass. Diese fuhren das Löschfahrzeug dann umgehend in den Osten, in ihre Heimat. Später kontrollierten wir an Ort und Stelle, dass die Empfänger-
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Feuerwehrmänner mit schusssicheren Westen versorgen abgeschnittene Zivilisten im Donbass mit Wasser. Bild: zVg
gemeinde das Feuerwehrauto tatsächlich seinem Zweck zugeführt hatte. Weil die Front inzwischen immer näher rückt, tragen die Feuerwehrleute mittlerweile schusssichere Westen und Kampfhelme.
Sach- und Geldspenden ermöglichen konkrete Unterstützung
Das Feuerwehrauto eingerechnet, hat Swiss UAid inzwischen insgesamt 30 Fahrzeuge in der Ukraine verschenkt, darunter einige Autos, die uns von Schweizer Zeitungslesern als Sachspenden überlassen wurden. Geldspenden verwenden wir hauptsächlich, um gebrauchtes und manchmal auch neues medizinisches Material zu kaufen, für den Erwerb von Occasionsautos und die Kosten der Überführung in die Ukraine. Vor Kurzem haben wir in Grossbritannien eine Ambulanz ersteigert, die nun in der Schweiz mit modernen medizinischen Geräten ausgestattet wurde – dank eines Schweizer Grossspenders. Vor wenigen Tagen hat ein ukrainischer Vertrauensmann den Krankenwagen in die Ukraine überführt. Für meine eigene Reise in die Ukraine fülle ich meinen Ge-
Kurt Pelda
1965 in Basel geboren, Ökonomiestudium an der Uni Basel mit anschliessender Promotion. Schon im Alter von 19 Jahren als Kriegsreporter in Afghanistan unterwegs. Spätere journalistische Stationen waren die NZZ, für die er als Afrikakorrespondent arbeitete, die Financial Times Deutschland, die Weltwoche und Tamedia. Als freier Journalist schrieb er u.a. für The Economist, den Spiegel und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Heute arbeitet er für CH Media, vor allem in der Ukraine und Israel. 2014 wurde er mit dem Schweizer Menschenrechtspreis ausgezeichnet und zum Journalist des Jahres gewählt.
ländewagen mit einem neuen Notfallgenerator, einem ge-
brauchten OCT (optischer Kohärenztomograf) von Zeiss für
die Diagnose von Augenverletzungen und dem temperatur-
empfindlichen Herzstück eines Mammografen, den wir
schon vor ein paar Monaten in die Ukraine gebracht haben.
Der teure Mammograf – Sachspende einer Arztpraxis in Lu-
gano – hätte sich problemlos in der Schweiz wieder verkau-
fen lassen, doch der Facharzt für Gynäkologie mit dem Fach-
gebiet Senologie aus dem Tessin zog es vor, Ukrainerinnen
Zugang zu fortschrittlicher Krebsvorsorge zu ermöglichen.
Da viele Frauen aus den östlichen Kriegsgebieten in den Wes-
ten geflüchtet sind, kann der Mammograf, der in einer Frau-
enklinik in der westukrainischen Stadt Drohobitsch platziert
wurde, dort bestimmt gute Dienste leisten. Die meisten Hilfs-
güter liefern wir natürlich in den kriegsversehrten Osten des
Landes, wo die Not grösser ist als im grösstenteils friedlichen
Westen.
Als ich nach rund 1600 Kilometern Autofahrt in Droho-
bitsch ankam, um das letzte Teilstück des Mammografen
abzuliefern, wurde ich als Erstes ins Rathaus eingeladen.
Dort bedankte sich der Bürgermeister, ein sympathischer und
lebhafter Mann, für die Hilfe aus der Schweiz. Für den Tessi-
ner Arzt und Spender hatte er ein eingerahmtes Dankschrei-
ben anfertigen lassen. Man habe in Drohobitsch und wohl
auch in der gesamten Ukraine noch nie ein so modernes
Gerät zur Krebsvorsorge gesehen. Ausserdem – und da bin
ich mir ganz sicher – helfen solche Spenden nicht nur den
direkt betroffenen Frauen, sondern sie zeigen allen Ukrai-
nern, dass wir sie in dieser schwierigen Zeit nicht ganz ver-
gessen haben.
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Kurt Pelda
Spendenaufruf
Swiss UAid (www.swiss-uaid.ch) ist auf Sachspenden medizinischer Art angewiesen. Daneben suchen wir alte, aber fahrtüchtige Autos (Transporter, Minibusse, Geländeautos und Pick-ups), deren letzte MFK nicht länger als drei Jahre zurückliegt. Geldspenden helfen uns, zum Beispiel alte Ambulanzen zu kaufen und den Transport der Hilfsgüter in die Ukraine sicherzustellen. Wir sind im Handelsregister eingetragen und vom Kanton steuerbefreit, das heisst jede Spende kann von den Einkommenssteuern abgezogen werden. Swiss UAid, 8180 Bülach: IBAN CH25 0900 0000 1621 9814 9
Auskünfte gerne via: info@swiss-uaid.ch
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