Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Man wird Ameisen nicht los, indem man Mauern baut. Was hilft, ist, den Honigtopf fest zu verschliessen.
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So wie es «overtourism» gibt, nämlich saisonal von Touristen überhordete Orte wie beispielsweise Barcelona, Dubrovnik, Venedig oder Mallorca, gibt es weitere «overs» («Zuviels»). Sogar in der Kunst. Kunst ist wichtig, Kunst tut gut, Kunst ist unverzichtbar, auch wenn keiner weiss, was Kunst ist. Früher waren Künstler stadtbekannt. Die erfolgreicheren sogar schweizweit oder international. Und heute? Es gibt Dutzende, Hunderte, Tausende. Als hätten sie alle Joseph Beuys’ berühmten Satz begriffen: «Jeder Mensch ist ein Künstler.» Nicht dass das schlecht wäre. Künstler sind uns allemal lieber als Kriminelle. Allerdings: Sie sind nicht der Grund, aber der Anlass, dass es von etwas zahlenmässig («gefühlt») fast gleich viel, jedenfalls eher zu viel, gibt – nämlich Kunstpreise, Auszeichnungen, Förderpreise, Stipendien, Ehrungen. Sie vermehren sich inflationär, je wohlhabender wir werden. Nahezu jeder Verein, jeder Industrielle, überhaupt jeder Reiche, jede Institution, jede Stadt, jeder Grosskonzern, sowieso jede Stiftung und jeder einigermassen beflissene Kulturbeauftragte mit zu viel Geld stiftet einen Preis. Kaum ein Künstler, kaum eine Künstlerin mehr ohne Auszeichnung – englisch: «award». Noch ist der Begriff nicht geboren, aber es steht vor der Tür – das Problem des «overawardism».
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Auch Onkel Hugo sieht sich seit Kurzem als Künstler – trotz seines fortgeschrittenen Alters. Oder vielleicht gerade deswegen. Am nächsten 1. August werde er einen einzigartigen Scheiterhaufen bauen, nicht aus Reisig und Wellen, sondern einen aus lauter Davo-
ser Schlitten. Schönen alten, handgemachten, wie er sie in seiner Kinderzeit kannte. Am besten Dutzenden. Und die werde er dann anzünden. Zuoberst ein Böögg und eine Bööggin. Einer heidnischen Ritual-Performance gleich. Hugo schaut – klar, er lebt in keiner kulturellen Blase – nur in verständnislose Augen. Und lächelt. Kunst, schmunzelt er, es sei Kunst! Aber, merkte er schelmisch an, nicht das «Davoser Feuer» sei die Kunst. Das könne sschliesslich jeder, und zerstören erst recht. Seine, Hugos, eigentliche Kunst bestehe darin, für seine Schei**(und er meint nicht etwa «**terhaufen»)-Aktion eine wohlklingende Begründung zu liefern. Das Veraschen von Davoser Schlitten werde er voraussichtlich als Hinweis auf den Bedeutungsverlust «des Kulturguts Schlitten» infolge des Schneemangels in den Bergen und somit als Mahnmal für den Klimawandel verkaufen. Oder die ganze Performance als Verdeutlichung der Dialektik des ewigen Auf und Ab – talwärts (im Winter auf Kufen) und himmelwärts (in des Sommerfeuers Rauch) – feiern. Oder als Menetekel für die Vergänglichkeit von allem, sogar von Qualitätsarbeit! Für alles einen profunden Hintersinn oder eine hintersinnige Profundität zu (er)finden, nichts anderes zeichne einen guten Aktionskünstler (und vor allem seine Laudatoren) heute aus. Sagt es und lupft seinen Filzhut vor den baffen Zuhörern. Er gehe jetzt ein Spiegelei braten. Auch das, so Hugo, inszeniere er künftig immer als Aktion «zur Überwindung des tradierten Kunstbegriffs». Als Aktion, bei der durch die aktive Beteiligung des Künstlers die Grenze zwischen Schöpfer und Werk aufgehoben werde – spätestens, wenn das Spiegelei den Dünndarm erreicht habe und sich damit Kunst und Lebensnotwendigkeit vereint hätten. Hat er nicht einen Preis verdient, der Hugo?
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Wir sind uns einig in der Gruppe: Es gibt mehr und mehr Themen und Leute auf dieser Welt, über die und mit denen zu diskutieren, zu streiten, ja überhaupt zu reden sich nicht lohnt. Ein paar junge Sozialisten provozieren ihre innigst gehassten Feinde, «die Reichen», mit der Androhung einer Erbschaftssteuer von 50 Prozent des Vermögens. Ihren ehrlichen Hass verbrämen sie mit dem Kampf für die gerechte Finanzierung von Massnahmen zur Rettung des Klimas. Darf‘s was Originelleres sein? Nein, ist ihnen nicht eingefallen. Ein paar alte Sozialisten unterstützen ihre Kinder bei deren Initiative. Was sollten sie sich auch anderes trauen zu tun? Da spricht uns Keanu Reeves (der Schauspieler, bekannt z. B. aus «Matrix», der natürlich nichts weiss von einer Jungsozialisteninitiative) gerade aus der Seele mit seinem Statement: «Ich bin in einem Stadium des Lebens (er ist auch schon 60!), wo mir manches egal ist. Wenn du behauptest, 1 plus 1 sei 5, dann sei’s so: Du hast recht. Hab Spass damit.» Kollege Markus meint vermutlich dasselbe, wenn er feststellt, es lohne sich nicht, mit Jungen übers Alter zu diskutieren. Oder mit Jungsozialisten über Unternehmer und deren Steuern, mit denen alle Wohlfahrt bezahlt wird. Recht hat er: Es ist sinnlos. Nur seine Frau warnt: «Täuscht euch nicht! Wenn ihr zulasst, dass Dummköpfe behaupten, 1 plus 1 sei 5, kann es passieren, dass ihr früher oder später von lauter verarmten, mathematisch verluderten und erst noch neidischen Idioten umgeben seid.» Nun sind wir uns uneins: Zwingend 2 oder gleichgültig 5? Wir entscheiden uns für einen Primitivo.
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Und das meint Walti: Zoos sind die einzigen Gefängnisse, in denen alle Gefangenen unschuldig sind.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 19 | 2024
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