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BERICHT
Aktuelle Leitlinien
Nahrungsmittelallergien: Wie wird diagnostiziert, wie behandelt?
Allergische Reaktionen auf Nahrungsmittel können lebensbedrohlich sein – und sie treten immer öfter auf. Doch auch das Wissen um die Diagnostik und die Therapieoptionen ist gewachsen. Diese Erkenntnisse sind jetzt in 2 aktuellen Leitlinien der European Academy of Allergology and Clinical Immunology (EAACI) zusammengefasst worden.
Immer mehr Menschen reagieren auf Nahrungsmittel allergisch. Derzeit gehen Epidemiologen von einer Prävalenz von etwa 3 bis 10 Prozent bei Kindern und bis zu 10 Prozent bei Erwachsenen aus. Die Lebenszeitprävalenz einer Nahrungsmittelallergie (NA) wird bei Kindern auf 9,3 Prozent beziehungsweise 5,0 Prozent bei Erwachsenen geschätzt. In Europa zeigte eine Z ufallsstichprobe der Allgemeinbevölkerung von 7- bis 10-jährigen Kindern, dass die Prävalenz der selbstberichteten NA bis zu 24,6 Prozent betragen kann. Dabei ist eine NA keine Bagatelle: In der Maximalvariante kann die NA als anaphylaktische Reaktion lebensbedrohlich werden. Aber auch dann, wenn die Reaktion weniger dramatisch ist, kann das Vermeiden von bestimmten Lebensmitteln wie Hühnerei oder Kuhmilch die Lebensqualität ganzer Familien erheblich einschränken. Daher sind eine präzise Diagnose und ein patientengerechtes Management der NA von grosser Bedeutung, sowohl bei der Vermeidung von Allergenen und der Notfallbehandlung als auch bei der Vermeidung unnötiger diätetischer Einschränkungen. Wie bei Verdacht auf eine NA vorgegangen wird, hat eine EAACI-Expertengruppe anhand der in den letzten Jahren erarbeiteten Erkenntnisse zu einer Leitlinie zusammengefasst, die von der Erstautorin Prof. Alexandra F. Santos vom Kings College in London (GB) vorgestellt wurde (1).
KURZ & BÜNDIG
� Die EAACI hat kürzlich 2 Leitlinien – Diagnostik und Management – zu IgE-vermittelter Nahrungsmittelallergie (NA) herausgebracht.
� Die Diagnostik bei NA folgt dem Schema Anamnese – SkinPrick-Test und/oder Nachweis allergenspezifischer IgE – evtl. oraler Provokationstest.
� Zur Hebung der Toleranzschwelle bei NA auf Erdnüsse, Kuhmilch und Hühnerei stehen Immuntherapien (oral, sublingual oder epikutan) zur Verfügung.
� Auch gegen IgE gerichtete Antikörper wie Omalizumab können bei NA hilfreich sein.
NA werden je nach Beteiligung von IgE an der Pathogenese eingeteilt in s Typ-I-Überempfindlichkeit (IgE-vermittelt) s Typ-III- oder Typ-IV-Überempfindlichkeit (nicht IgE-ver-
mittelt) oder s Kombination aus IgE und zellulären Mechanismen (ge-
mischt IgE- und nicht IgE-vermittelt). Da die IgE-vermittelten NA die häufigsten seien, habe sich die Expertenkommission der EAACI in ihrer Leitlinie auf diese konzentriert, so Santos. Doch es gibt auch andere Ursachen für Lebensmittelnebenwirkungen, denen kein immunologischer Mechanismus zugrunde liegt, die aber differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden müssen. Solche klinischen Entitäten können metabolischen (z.B. Laktoseintoleranz), pharmakologischen (z. B. Histamin in fermentierten Lebensmitteln, Theobromin und Phenylalanin in Schokolade) oder toxischen (z. B. Histaminvergiftung) Ursprungs sein oder einen anderen zugrunde liegenden Mechanismus (z. B. psychogen) aufweisen.
A und O der NA-Diagnostik: Anamnese
Um eine echte NA von anderen Nahrungsmittelreaktionen abzugrenzen und sicher zu diagnostizieren, müsse zunächst eine ausführliche Anamnese erhoben werden, betonte Santos. Das beinhaltet Fragen zu Art und Schweregrad von Symptomen (Geschwindigkeit des Auftretens, Beteiligung von Organsystemen, Dauer etc.), zum Alter bei Symptombeginn, zur Behandlung früherer Reaktionen und natürlich zu den verdächtigen Lebensmitteln, zum Beispiel: s Welche Lebensmittel waren neu in der Ernährung des Be-
troffenen? Wurden die verdächtigten Lebensmittel zuvor problemlos gegessen? Wurden sie früher in einer anderen Form gegessen? Sind versteckte Allergene ein möglicher Auslöser? s Lebensmittel, die häufig an IgE-vermittelten Lebensmittelallergien beteiligt sind: Kuhmilch, Ei, Weizen, Soja, Sesam, Erdnüsse, Nüsse, Fisch, Schalentiere, Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse. s Häufige versteckte Allergene: Sellerie, Senf, Cochenille, Lupine, Soja, Bockshornklee, andere Hülsenfrüchte wie Erbsen-/Bohnen-/Linsenprotein, Insekten/Mehlwürmer, rosa Pfefferkörner.
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Hilfreich sind oft auch detaillierte Fragen, unter anderem zur Auftretesituation (zu Hause, unterwegs, in der Schule, Restaurant etc.), zur Menge des verdächtigen Lebensmittels (1 Bissen, 1 Portion), zur Garmethode (roh oder gekocht) oder nach potenziellen Kofaktoren (körperliche Anstrengung, Medikamente). Auch nach anderen Allergien (z. B. Heuschnupfen) und atopischen Erkrankungen beim Patienten und bei der Familie sollte gefragt werden.
Allergenspezifisches IgE im Serum
Nach einer allergiefokussierten Anamnese gilt es, den Verdacht zu erhärten beziehungsweise die Diagnose einer IgE-vermittelten NA zu unterstützen. Die Sicherung der Diagnose kann durch 1 oder mehrere der folgenden Tests erbracht werden: s Haut-Prick-Test (SPT) mit Allergenextrakten oder fri-
schen Lebensmitteln s spezifisches IgE zu Allergenextrakten (sIgE) s spezifisches IgE für einzelne Allergenkomponenten s Basophilenaktivierungstest (BAT): Der Anteil der in vitro
allergenaktivierten Basophilen spiegelt die Menge der Mediatoren wider, die von zirkulierenden Basophilen nach Stimulation mit Allergenen freigesetzt werden. Dieser Funktionstest verwendet patienteneigene Basophile und weist die kombinierte intrinsische zelluläre Reaktion und Wirkung der Allergen-IgE-Bindung nach. Für alle verdächtigen Lebensmittel sollte nach Beweisen für eine IgE-Sensibilisierung gesucht werden, sagte Santos. Die Diagnose einer Allergie gegen einige Lebensmittel wie Erdnuss und Cashewnuss wird durch SPT und Serum-sIgE gut unterstützt. Bei anderen Lebensmittelallergenen wie Weizen und Soja sind diese Tests weniger aussagekräftig. Die Messung von sIgE zu Allergenbestandteilen wie Ara h 2 aus Erdnuss, Chor a 14 aus Haselnuss und Ana o 3 aus Cashewnüssen könne insbesondere bei pollensensibilisierten Personen nützlich sein, um die Diagnose weiter zu unterstützen, erläuterte die Allergologin. BAT zu Erdnuss und Sesam können zusätzlich verwendet werden. Wenn diese Tests kein klares Ergebnis gebracht haben, kann mit einem ärztlich überwachten oralen Provokationstest (oral food challenge, OFC) ein Verdacht bestätigt werden.
Allergen meiden – nicht so einfach
Wenn das allergieauslösende Nahrungsmittel identifiziert wurde, ist die erste Therapiemassnahme klar: Allergen vermeiden. Doch das ist nicht immer möglich, besonders wenn das Allergen in vielen Nahrungsmitteln enthalten ist, wie zum Beispiel Eier oder Milch. Hier könne eine Eliminationsdiät zu umfangreichen diätetischen Einschränkungen oft für die ganze Familie führen, sagte Santos, die auch an der zweiten EAACI-Leitlinie «Management der IgE-vermittelten NA» mitgearbeitet hat. Gefährlich wird es bei einer niedrigen Toleranzschwelle, das heisst, wenn schon Spuren des Allergens wie zum Beispiel bei Erdnüssen heftige Reaktionen wie eine Anaphylaxie auslösen – Stress und Angst sind in solchen Fällen allgegenwärtig.
NA verwächst sich – manchmal
Wie kann den Patienten – zusätzlich zu einer diätetischen Beratung sowie einer Ausrüstung und Schulung für den Not-
fall – geholfen werden? Die gute Nachricht: Eine NA kann sich spontan auflösen, insbesondere in der frühen Kindheit und bei bestimmten Lebensmitteln (z. B. Kuhmilch, Ei, Weizen und Soja) (1). Zum Beispiel erleben im Schulalter (5–6 Jahre) etwa 50 bis 90 Prozent der Kinder mit Kuhmilch- oder Eierallergien, 20 bis 30 Prozent der Kinder mit Erdnussallergie und 9 Prozent mit Baumnuss- oder Sesamallergien eine spontane Auflösung ihrer NA, und 45 Prozent verlieren ihre Fischallergie im Jugendalter. Die Wahrscheinlichkeit, dass die NA verschwindet, ändert sich mit dem Alter – das heisst, je älter die Person, desto geringer die Chance einer Toleranzentwicklung. Bei lebensmittelallergischen Kindern kann es daher sinnvoll sein, Allergietests und/oder die OFC in längeren Abständen zu wiederholen. Falls eine orale Toleranz erworben wurde, können dann die entsprechenden Lebensmittel wieder in die Ernährung aufgenommen werden.
Immuntherapie soll Toleranzschwelle anheben
Doch in der Regel können die Betroffenen beziehungsweise die Eltern nicht auf den Toleranzerwerb warten. Eine Massnahme ist, die Toleranzschwelle anzuheben, sodass die Betroffenen erst bei einer höheren Allergenmenge reagieren. Das lindert vor allem bei Patienten, die bereits eine anaphylaktische Situation hinter sich haben, die Angst. Die Anhebung der Toleranzschwelle ist Ziel der Immuntherapie (IT), die sich bei anderen allergischen Reaktionen, beispielsweise bei Pollenallergie, bereits bewährt hat. Anders jedoch als bei diesen gibt es bisher nur für wenige Allergene entsprechende Studien zur IT, was die Erstellung der EAACI-Leitlinie zum Management von NA erschwert hat (2). Am besten untersucht ist die orale Immuntherapie (OIT) bei NA auf Erdnüsse (z. B. mit Palforzia®, Erdnussprotein in Kapselform mit steigender Dosierung). Mit dem vorliegenden Studienmaterial kamen die Leitlinienautoren zu dem Ergebnis, dass die OIT mit einer relativen Wahrscheinlichkeit (RR) für Toleranzentwicklung von 11,94 im Vergleich zu Vermeidung oder Plazebo am besten wirkt. Die sublinguale IT (SLIT) erreichte nur ein RR von 3,00 und die epikutane IT (EPIT) ein RR von 2,16. Auch für die Allergien gegen Kuhmilch und Hühnereier liegen Ergebnisse für die Wirkung von IT vor. Bei Kuhmilchallergie wirkt die OIT mit einem RR von 5,88 ebenfalls am besten, bei Eierallergie beträgt das RR 3,43. Für SLIT oder EPIT lagen keine ausreichenden Daten für die Behandlung von Eier- und Milchallergien vor (2).
Biologika auch für NA
Auch der Einsatz von Biologika kann bei IgE-vermittelter NA erwogen werden. Die meisten Studienergebnisse gibt es zu Omalizumab, das an freies IgE bindet und so Komplexe bildet, die in der Kaskade der Allergieauslösung unwirksam sind. Unter der Anwendung sinkt die Konzentration an freiem IgE um über 90 Prozent. In der Metaanalyse zeigte Omalizumab für jede der untersuchten NA ein RR von 2,17. Allerdings liegt derzeit keine Zulassung für Omalizumab in dieser Indikation vor. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Biologika und IT, allein oder in Kombination, wirksam sind, um eine Desensibilisierung während der aktiven Behandlung zu erreichen, aber es sind weitere Beweise für die Langzeittoleranz
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erforderlich, da die derzeitige Evidenz nicht von hoher Quali-
tät ist (2). Unerwünschte Ereignisse während der Therapie
sind im Allgemeinen leicht bis mittelschwer, aber es fehlen
umfassende Daten zum langfristigen Sicherheitsprofil. Es be-
steht ein dringender Bedarf, Desensibilisierungsprotokolle
und Ergebnismessungen zu optimieren und zu standardisie-
ren, um das Verständnis der Wirksamkeit und Sicherheit zu
fördern und einen Vergleich zwischen den Interventionen zu
ermöglichen.
s
Quelle: Jahreskongress der European Academy of Allergology and Clinical Immunology(EAACI), Plenary Session 4: «EAACI Guidelines: key highlights» am 1. Juni 2024 in Valencia (Spanien).
Literatur: 1. Santos AF et al.: EAACI guidelines on the diagnosis of IgE-mediated food
allergy. Allergy. 2023;78(12):3057-3076. doi: 10.1111/all.15902. 2. Riggioni C et al.: Immunotherapy and biologics in the management of
IgE-mediated food allergy: Systematic review and meta-analyses of efficacy and safety. Allergy. 2024 (Epub ahead of print). doi: 10.1111/all.16129.
Angelika Ramm-Fischer
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