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BERICHT
Leitlinien zur chronischen Niereninsuffizienz bei Diabetikern
«Alle Menschen mit Diabetes auf CKD screenen!»
Diese Forderung betonte Prof. Thomas Ebert, als er am Diabeteskongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Berlin die wesentlichen Punkte der verschiedenen Leitlinien für Patienten mit Diabetes und chronischer Niereninsuffizienz für die Praxis zusammenfasste. Darüber hinaus kündigte er eine mögliche Erweiterung der medikamentösen First-line-Optionen um GLP-1-Rezeptor-Agonisten an.
Nicht weniger als 5 für Patienten mit Diabetes und chronischer Niereninsuffizienz (CKD) relevante Leitlinien wurden in den letzten 2 Jahren publiziert. Dazu gehören die KDIGOLeitlinie 2022 (KDIGO: Kidney Disease: Improving Global Outcomes) (1), die 2024 publizierten Leitlinien der American Diabetes Association (ADA) (2), der KDIGO-ADA-Konsensus 2022 (3) und die Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) (4) sowie die neuen KDIGO-Leitlinien für alle CKD-Patienten (5). Angesichts der hunderten von Seiten, die diese Leitlinien umfassen, ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten. Für den Internisten und Diabetologen Prof. Thomas Ebert, Universitätsklinikum Leipzig, ist zunächst eine kürzlich publizierte klare Empfehlung der KDIGO wichtig: «Wir müssen alle Menschen mit Diabetes auf CKD screenen!» Auch Personen mit Prädiabetes zählen für ihn dazu, auch wenn diese nicht ausdrücklich in der Leitlinie erwähnt werden. Weitere wesentliche Punkte der 5 Leitlinien sind im Kasten 1 zusammengefasst.
KURZ & BÜNDIG
� Jeder Diabetiker soll auf chronische Niereninsuffizienz (CKD) gescreent werden.
� Die CKD-Diagnose beruht auf der glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und dem Albumin-Kreatinin-Quotienten im Urin (uACR).
� Die Therapie erfolgt risikoadaptiert und individuell. Für alle CKD-Patienten wird eine multifaktorielle Begleittherapie (Gewichtsreduktion, Rauchstopp, Blutdruckkontrolle, Lipidtherapie usw.) empfohlen, für Typ-2-Diabetiker kommen zusätzlich RAS-Blocker, SGLT2i und Finerenon als nierenprotektive Substanzen hinzu.
� Kürzlich wurde auch für einen GLP-1-RA ein nierenprotektiver Effekt nachgewiesen.
CKD-Diagnose stellen
Folgende Parameter definieren die CKD: ein erhöhter Albumin-Kreatinin-Quotient im Urin (uACR > 30 mg/g Krea) als Marker einer Nierenschädigung und/oder eine glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) von > 30 ml/min/1,73 m2 für mindestens 3 Monate. Der uACR kann vorübergehend falsch positiv erhöht sein (z. B. bei Sport, Fieber, Harnwegsinfekten). Urinalbumin und eGFR definieren die Risikoklassen bei CKD (Kasten 2) (5). Mindestens 1-mal pro Jahr sollte das Albumin im Urin gemessen werden, wobei es wegen der Abhängigkeit dieses Messwertes von der Trinkmenge wichtig sei, immer auch das Urinkreatinin und den uACR zu bestimmen. «Sonst haben Sie einen unglaublichen Informationsverlust», sagte Ebert. Mit dem Urinkreatininwert wird der Albuminwert in Bezug auf die Trinkmenge adjustiert, denn die Kreatininausscheidung pro Tag ist relativ konstant.
Behandlung und Zielwerte
Zu den allgemeinen Massnahmen zählen Nikotinverzicht, gesunde Ernährung mit wenig Salz, die Normalisierung des Gewichts und die Kontrolle des Blutdrucks (Zielwert individuell < 140 mmHg systolisch, besser < 130/80 mmHg). Eine lipidsenkende Therapie wird bei schwerer Albuminurie (A3: > 300 mg/g Krea) empfohlen oder bei einer eGFR von 45 bis 60 ml/min/1,73 m2 plus moderater Albuminurie (A2: 30–300 mg/g Krea) oder bei einer eGFR < 45 ml/min/1,73 m2 (Hochrisikopatienten). Ziel ist eine Reduktion des LDL-Cholesterins (LDL-C) um mindestens 50 Prozent beziehungsweise ein LDL-C-Zielwert < 1,4 mmol/l (< 55 mg/dl). Für den HbA1c-Wert gilt ein Zielkorridor zwischen 6,5 und 8 Prozent. Für viele orale Antidiabetika ist bei erniedrigter eGFR eine Dosisreduktion erforderlich.
Alle Optionen für jeden Patienten evaluieren
In den verschiedenen Leitlinien werden die vielfältigen Behandlungsempfehlungen grafisch unterschiedlich dargestellt. Bei der KDIGO ist es eine Pyramide mit 4 Kategorien (Lebensstil und Selbstmanagement, First-line-Medikamente, zusätzliche Medikamente mit kardiovaskulärer und renaler Schutzfunktion, Kontrolle zusätzlicher Risikofaktoren) (1).
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Kasten 1:
Wesentliche Punkte der Leitlinien für Patienten mit CKD und Diabetes
Für Typ-1- und Typ-2-Diabetiker mit CKD: ▲ Alle Diabetiker mit CKD sollen grundsätzlich multimodal und inter-
disziplinär behandelt werden. ▲ Statin ▲ RAS-Hemmer bei Hypertonie und Albuminurie
Für Typ-2-Diabetiker mit CKD: ▲ Metformin bei eGFR > 30 ml/min/1,73 m2 ▲ SGLT2i bei eGFR > 20 ml/min/1,73 m2 ▲ GLP-1-RA, wenn die Glukoseziele nicht erreicht werden ▲ nsMRA bei eGFR > 25 ml/min/1,73 m2 und normalem Kaliumspiegel
sowie erhöhtem uACR > 30 mg/g Krea
CVD: kardiovaskuläre Erkrankungen, CKD: chronische Niereninsuffizienz, eGFR: geschätzte glomeruläre Filtrationsrate, GLP-1-RA: GLP-1-Rezeptor-Agonist (GLP: glucagon-like peptide), nsMRA: nicht steroidaler Mineralokortikoidrezeptorantagonist, RAS-Hemmer: Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Systems, SGLT2i: SGLT2-Hemmer (SGLT2: sodium-glucose linked transporter 2), uACR: Albumin-Kreatinin-Quotient im Urin. Quelle: Vortrag von T. Ebert am DDG-Kongress 2024 in Berlin.
Diese Darstellung ist nach Ansicht von Ebert etwas unglücklich, denn sie suggeriere, dass die Massnahmen und Medikamente je nach Pyramidenstufe etwas mit der Schwere der CKD zu tun haben könnten: «Doch dem ist nicht so. Die KDIGO sagt ganz klar, dass alle Punkte dieser Pyramide für jeden einzelnen Patienten einmal durchgegangen werden müssen», betonte der Referent. Er bevorzugt die Darstellung in den ESC-Leitlinien, in denen die für Patienten mit Diabetes und CKD empfohlene Medikation gemäss ihren Effekten auf kardiovaskuläre und renale Risiken eingeteilt wird (4): s Kardiovaskuläres Risiko mindern: statinbasierte Therapie s Niereninsuffizienrisiko mindern: ACE-Hemmer oder Sartane
s Gleichzeitig kardiovaskuläres und Niereninsuffizienzrisiko mindern: SLGT2i (SGLT2-Hemmer; SGLT2: sodiumglucose linked transporter 2), RAS-Hemmer (Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Systems), Finerenon (nicht steroidaler Mineralokortikoidrezeptorantagonist, nsMRA)
s Zur zusätzlichen Glukosekontrolle: Mit kardiovaskulärem Zusatznutzen: GLP-1-Rezeptor-
Agonisten (GLP-1-RA; GLP: glucagon-like peptide) Ohne kardiovaskulären Zusatznutzen: Metformin (falls
eGFR > 30 ml/min/1,73 m2), DPP-4-Hemmer (Gliptine; DPP: Dipeptidylpeptidase), Insulin.
GLP-1-RA künftig auch als First-line-Option?
Bis anhin gelten 3 Substanzklassen mit nachgewiesener renaler Schutzfunktion für Typ-2-Diabetiker mit CKD als Firstline-Option: RAS-Hemmer, SGLT2i und nsMRA. Möglicherweise könnte künftig auch ein GLP-1-RA dazugehören. Ebert war sich bereits vor der zum Zeitpunkt seines Vortrags noch bevorstehenden Publikation der FLOW-Studie recht sicher, dass sich die Empfehlungen in diese Richtung entwickeln dürften, weil die Studie vorzeitig wegen deutlicher Wirksamkeit der Intervention abgebrochen wurde. Mittlerweile wurde die FLOW-Studie publiziert (6). Sie wurde an 387 Institutionen in 28 Ländern durchgeführt. 3533 erwachsene Typ-2-Diabetiker mit CKD wurden in 2 etwa gleich grosse Gruppen randomisiert. Eine Gruppe erhielt neben ihrer üblichen Therapie 1-mal wöchentlich Semaglutid s.c. (0,25 mg/Woche in den ersten 4 Wochen, 0,5 mg/Woche in den folgenden 4 Wochen, danach 1 mg/Woche), die andere Plazebo. Der primäre Endpunkt war eine Kombination aus Eintreten einer Niereninsuffizienz (Dialyse, Transplantation, eGFR < 15 ml/min/1,73 m2) oder ≥ 50 Prozent Rückgang der eGFR seit Studienbeginn oder renal oder kardiovaskulär bedingtem Tod. Nach einem medianen Follow-up von 3,4 Jahren trat dieser kombinierte Endpunkt bei 18,7 Prozent der Patienten in der Verumgruppe auf (5,8 Ereignisse pro 100 Patientenjahre) und bei 23,3 Prozent in der Plazebogruppe (7,5 Ereignisse pro 100 Patientenjahre). Das entspricht einer relativen
Kasten 2:
CKD-Risikoklassen gemäss glomerulärer Filtrationsrate und Albuminurie
GFR G1 normal oder erhöht
≥ 90
(ml/min/1,73 m2)
G2 leicht verringert
60–89
G3a leicht bis moderat verringert 45–59
G3b moderat bis stark verringert 30–44
G4 stark verringert
15–29
G5 Nierenversagen
< 15
Albuminurie A1 normal bis leicht erhöht < 30 mg/g < 3 mg/mmol
A2
A3
moderat
stark
erhöht
erhöht
30–300 mg/g > 300 mg/g
3–30 mg/mmol > 30 mg/mmol
GFR: glomeruläre Filtrationsrate, grün: tiefes Risiko (ohne andere Marker für Nieren- oder Herzerkrankung), gelb: moderates Risiko, orange: hohes Risiko, rot: sehr hohes Risiko; nach (5)
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Risikominderung für die Semaglutidgruppe um 24 Prozent. Der Rückgang der Nierenfunktion, einer der sekundären Endpunkte, verlief in der Semaglutidgruppe langsamer als in der Plazebogruppe. Schwere Nebenwirkungen waren in der Semaglutidgruppe seltener als in der Plazebogruppe (49,6 vs. 53,8%). Die Studie wurde von NovoNordisk finanziert.
Und jetzt: Alles zusammen oder nach und nach?
In einem Streitgespräch gingen PD Dr. med. Uta Kunter, Universitätsklinikum Aachen, und der niedergelasse Internist Dr. med. Ludwig Merker, Haan, der Frage nach, ob nun die «fantastic 4» in der Nephrologie (RAS-Blocker, SGLT2i, nsMRA, GLP-1-RA) einem Typ-2-Diabetiker mit CKD gleich alle zusammen oder nach und nach gegeben werden sollten. Kunters Pro-Argumentation stützte sich mangels Kombinationsstudien in erster Linie auf die Überlegung, dass es immer gut sei, den «Feind auf verschiedenen Wegen zu bekämpfen». Deshalb plädierte sie für die Kombination der 4 Substanzklassen mit deren jeweils unterschiedlichen Wirkmechanismen ihrer kardiorenalen Schutzfunktion. Die Sicht des Praktikers war, wie zu erwarten, eine ganz andere: «Alles zusammen ist weltfremd in der Medizin», sagte Merker. Ausserdem erschwere «alles zusammen» die Beurteilung von Wirkungen und Nebenwirkungen, und obendrein gebe es dafür mangels entsprechender Kombinationsstudien auch keine Evidenz. Merker riet deshalb zu einem schrittweisen, evidenzbasierten und individuellen Vorgehen: «Vor-
sicht ist die Mutter der Porzellankiste, und das hilft dem Patienten am meisten.» Letztlich stimmte ihm auch Kunter zu. Sie bemerkte augenzwinkernd, dass sie den Pro-Standpunkt nur vertreten habe, weil man sie darum gebeten hätte. s
Renate Bonifer
Quellen: Vorträge von Prof. Thomas Ebert an den Symposien «Leitlinien zum Management kardiorenaler Erkrankungen bei Diabetes: EASD/ADA, ESC und KDIGO» und «Fokus Nephropathie bei Diabetes». PD Dr. med. Uta Kunter: «Die ‹fantastic 4› in der Nephrologie: alle zusammen: Jawohl!» und Dr. med. Ludwig Merker: «Die ‹fantastic 4› in der Nephrologie: alle zusammen: Keinesfalls!» am Symposium «Fokus Nephropathie bei Diabetes». DiabetesKongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin, 9. Mai 2024.
Literatur: 1. Rossing P et al.: Executive summary of the KDIGO 2022 Clinical Practice
Guideline for Diabetes Management in Chronic Kidney Disease: an update based on rapidly emerging new evidence. Kidney Int. 2022;102(5):990999. 2. American Diabetes Association Professional Practice Committee: 11. Chronic Kidney Disease and Risk Management: Standards of Care in Diabetes-2024. Diabetes Care. 2024;47(Suppl 1):S219-S230. 3. de Boer IH et al.: Diabetes Management in Chronic Kidney Disease: A Consensus Report by the American Diabetes Association (ADA) and Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO). Diabetes Care. 2022;45(12):3075-3090. 4. Marx N et al.: 2023 ESC Guidelines for the management of cardiovascular disease in patients with diabetes. Eur Heart J. 2023;44(39):4043-4140. 5. Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) CKD Work Group: KDIGO 2024 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease. Kidney Int. 2024;105(4S):S117-S314. 6. Perkovic V et al.: Effects of Semaglutide on Chronic Kidney Disease in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2024;391(2):109-121.
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