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BERICHT
Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei Diabetes senken
Risikobasierte Medikationsempfehlungen
Die European Society of Cardiology (ESC) hat neue Leitlinien für das Management des erhöhten kardiovaskulären Risikos bei Diabetikern erstellt. Am Diabetes-Kongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Berlin erläuterte Prof. Dirk Müller-Wieland, einer der Task-Force-Koordinatoren dieser Leitlinien, wie man das individuelle kardiovaskuläre Risikoprofil eines Typ-2-Diabetikers ermittelt und welche Medikation sich daraus für die Praxis ergibt.
Jeder Patient mit einer kardiovaskulären Erkrankung (CVD) sollte auf Typ-2-Diabetes getestet werden und umgekehrt auch jeder Typ-2-Diabetiker im Hinblick auf kardiovaskuläre Komorbiditäten und chronische Nierenerkrankung (CKD). Um das erhöhte kardiovaskuläre Risiko von Typ-2-Diabetikern zu senken, wird in den ESC-Leitlinien (1) empfohlen, glukosesenkende Medikamente mit erwiesenem kardiovaskulären Nutzen unabhängig vom Blutzuckerwert einzusetzen. Bei Diabetikern mit einer atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkankung (ASCVD), Herzinsuffizienz oder CKD ist das kardiovaskuläre Risiko sehr hoch und damit das Stellen der Indikation für die von der ESC empfohlenen Substanzen relativ einfach (Abbildung 1). Sie haben ein sehr hohes kardiovaskuläres Risiko von ≥ 20 Prozent, innert 10 Jahren einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Was aber gilt für Typ-2-Diabetiker, wie man sie häufig in der Praxis antrifft, nämlich diejenigen, die bis anhin weder eine manifeste ASCVD noch einen schweren Endorganschaden aufweisen?
Risikoeinschätzung für Diabetiker ohne ASCVD
Um das kardiovaskuläre Risiko bei diesen Patienten einzuschätzen und die Medikation entsprechend auszuwählen, empfiehlt die ESC den SCORE2-Diabetes-Rechner (Systematic Coronary Risk Evaluation 2 Diabetes, s. Linktipps). Der SCORE2-Diabetes sei nicht kompliziert und einer der wenigen Scores, die tatsächlich validiert seien, betonte Prof. Dirk Müller-Wieland, Universitätsklinikum der RWTH Aachen. Der SCORE2-Diabetes wurde anhand der Daten von rund 230 000 Typ-2-Diabetikern erstellt und sodann mit den Daten von weiteren 217000 Typ-2-Diabetikern aus unterschiedlichen Regionen Europas validiert. Der SCORE2-Diabetes unterscheidet 4 Patientengruppen gemäss deren Risiko, in den kommenden 10 Jahren einen tödlichen oder nicht tödlichen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden: s ≤ 20 Prozent: sehr hohes Risiko s 10 bis < 20 Prozent: hohes Risiko s 5 bis < 10 Prozent: mässiges Risiko s < 5 Prozent: niedriges Risiko.
KURZ & BÜNDIG
� Jeder Patient mit einer kardiovaskulären Erkrankung sollte auf Typ-2-Diabetes getestet und jeder Typ-2-Diabetiker im Hinblick auf kardiovaskuläre Komorbiditäten und chronische Niereninsuffizienz untersucht werden.
� Für die kardiovaskuläre Risikoevaluation von Typ-2-Diabetikern ohne atherosklerotisch bedingte kardiovaskuläre Erkankungen oder schwere Endorganschäden wird der SCORE2-Diabetes-Rechner empfohlen.
� Es sollten primär glukosesenkende Medikamente mit erwiesenem kardiovaskulären Nutzen eingesetzt werden.
� Bei chronischer Herzinsuffizienz (HFrEF, HFmrEF, HFpEF) werden SGLT2i empfohlen, unabhängig vom HbA1c-Wert und unabhängig von einer gleichzeitigen Gabe anderer glukosesenkender Medikamente.
In den SCORE2-Diabetes gehen neben allgemeinen kardiovaskulären Risikofaktoren (Alter, Geschlecht, Rauchen, Diabetes, systolischer Blutdruck, Gesamt- und HDL-Cholesterin) zusätzlich das Alter bei Diabetesdiagnose, der HbA1c und die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) ein. Berücksichtig wird ausserdem, dass das generelle kardiovaskuläre Risiko in der Bevölkerung in verschiedenen Regionen Europas unterschiedlich hoch ist. Der SCORE2-Diabetes ist für Patienten im Alter von 40 bis 70 Jahren gedacht. Falls man ihn bei älteren Patienten anwenden möchte, um eine grobe Schätzung der Grössenordnung ihres kardiovaskulären Risikos zu erhalten, könne man 69 Jahre in den Rechner eintragen, wobei man sich selbstverständlich im Klaren darüber sein müsse, dass das tatsächliche Risiko in diesem Fall höher sei als das errechnete, sagte Müller-Wieland.
Medikation gemäss CVD-Risiko
Für die Gabe von glukosesenkenden Medikamenten ergeben sich anhand der Risikostratifizierung mit dem SCORE2-
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Erstdiagnose
Kardiovaskuläre Erkrankung (CVD)
Typ-2-Diabetes
Evaluation Diagnose
Typ-2-Diabetes?
CVD?
Ja CVD + Typ-2-Diabetes
Ja
Typ-2-Diabetes und atherosklerotische CVD
Typ-2-Diabetes und Herzinsuffizienz (HF)
Chronische NierenErkrankung (CKD)?
Ja Typ-2-Diabetes und
CKD
Behandlung
unabhängig von der Blutzuckerkontrolle und zusätzlich zur Standardtherapie
GLP-1-RA SGLTi
CVD-Risiko unabhängig von Glukosekontrolle
SGLT2i
Hospitalisationsrate für alle HFPatienten (HFpEF, HFmrEF, HFrEF) mit Typ-2-Diabetes
SGLTi oder/und Finerenon
Risiken für CVD und Nierenversagen
Abbildung 1: Empfehlungen zur blutzuckerunabhängigen Behandlung (zusätzlich zur Standardbehandlung) von Typ-2-Diabetikern mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD), Herzinsuffizienz (HF) oder chronischer Nierenerkrankung (CKD) zur Reduktion kardiorenaler Risiken gemäss den Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC): Diese Empfehlungen bedeuten nicht zwingend, dass für die entsprechenden Medikamente bereits entsprechende Zulassungen der zuständigen Arzneimittelbehörden bestehen (nach Marx N et al.: 2023 [1]; GLP-1-RA: GLP[glucagon-like peptide]-1-Rezeptor-Agonist, HFpEF: Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion, HFmrEF: Herzinsuffizienz mit mässig reduzierter Ejektionsfraktion, HFrEF: Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion, SLGT2i: SGLT2[sodium-glucose linked transporter 2]-Hemmer).
Abbildung 2: Blutzuckersenkende Medikation gemäss kardiovaskulärem Risiko (gelb: Evidenzklasse IIa [sollte], orange: Evidenzklasse IIb [kann], grün: Evidenzklasse I [wird empfohlen, ist indiziert], SGLT2: sodium-glucose linked transporter 2, GLP-1-RA: GLP[glucagon-like peptide]-1-Rezeptor-Agonist, ASCVD: atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung, SCORE2-Diabetes: Systematic Coronary Risk Evaluation 2 Diabetes; nach Marx N et al. 2023 [1]).
Diabetes die in Abbildung 2 skizzierten Empfehlungen (1). Für Patienten mit einem sehr hohen Risiko gibt die ESC eine klare Klasse-I-Empfehlung für GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA; GLP: glucagon-like peptide) beziehungsweise SGLT2i (SGLT2-Hemmer; SGLT2: sodium-glucose linked transporter 2). Für Patienten mit hohem, mässigem oder niedrigem Risiko sei die Evidenzlage weniger eindeutig, sodass hier vieles der Einschätzung im individuellen Fall vorbehalten bleibe, sagte Müller-Wieland. Die ab hohem Risiko empfohlene Gabe von GLP-1-RA bestehe unabhängig vom Körpergewicht, fügte er auf Nachfrage hinzu.
Über die Frage, ob man den Gebrauch von GLP-1-RA und SGLT2i mit einem «Und» oder einem «Oder» verknüpfen sollte, habe man beim Erstellen der Guidelines wochenlang diskutiert, sagte der Referent. In den Empfehlungen der US-amerikanischen und der europäischen Diabetologen sei es ein «Entweder/Oder», das heisst, dass man zunächst nur eine der beiden Substanzen gebe und erst bei ungenügender Blutzuckerkontrolle beide in Kombination. Für diese Vorgehensweise gebe es allerdings «null Evidenz», weil Kombinationsstudien fehlten. Für die Kombination gebe es aber auch keine Evidenz, sodass man in die ESC-Leitlinien, welche sich grundsätzlich an der Evidenz orientierten, kein «Und» eingesetzt habe. Aber: «Die beiden Substanzklassen haben grundsätzlich unterschiedliche Wirkmechanismen, und wenn Sie die Studien betrachten, in denen Patienten beides bekommen haben, bestand ein zusätzlicher und unabhängiger Effekt», gab Müller-Wieland zu bedenken. Deshalb solle man die Indikation von GLP-1-RA und SGLT2i unabhängig voneinander für den jeweiligen Patienten einschätzen (Kontraindikationen? Zu erwartende Nebenwirkungen?) und die Medikamente unabhängig voneinander verordnen beziehungsweise nicht verordnen. In der Praxis dürfte das häufig bedeuten, dass dem Patienten beide Substanzen gegeben werden. Auch für die anzustrebenden Lipidwerte spielt die kardiovaskuläre Risikostratifizierung eine Rolle. So gelten bei einem sehr hohen Risiko für das LDL-Cholesterin (LDL-C) Grenzwerte von < 1,4 mmol/l (< 55 mg/dl), bei hohem Risiko gemäss SCORE2-Diabetes sind es < 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl) und bei mässigem Risiko < 2,6 mmol/l (< 100 mg/dl). In diesem Zusammenhang wies MüllerWieland darauf hin, dass alle Non-HDL-Cholesterine (Non-HDL-C) atherogen seien. Deshalb müsse die Differenz zwischen dem Non-HDL-C und dem LDL-C 30 mg/dl betragen. Wenn zum Beispiel das LDL-C unter 70 mg/dl liegen solle, dürfe das Non-HDL-C nicht über 100 mg/dl liegen: «Wenn es 110 sind, sind Sie noch nicht am Ziel!», sagte Müller-Wieland.
SGLT2i für alle Formen der Herzinsuffizienz
In der von vielen Kardiologen und Diabetologen als «game changer» bezeichneten EMPA-REG-Studie zeigte sich, dass unter der Behandlung mit dem SGLT2i Empagliflozin unabhängig vom ursprünglichen HbA1c-Wert der Probanden im Vergleich zu Plazebo weniger kardiovaskuläre Ereignisse (3,7 vs. 5,9%) und weniger Hospitalisationen wegen Herzinsuffizienz bei Patienten mit reduzierter Auswurffraktion (HFrEF) auftraten (2,7 vs. 4,1%); auch der Anteil der kardiovaskulär bedingten Todesfälle war mit dem SGLT2i kleiner (10,5 vs. 12,2%) (2). Nachfolgende Studien mit anderen SGLT2i ergaben nicht nur, dass es sich um einen Klasseneffekt dieser Substanzgruppe handelt, sondern dass er gleichermassen auch bei Nichtdiabetikern auftritt (3, 4). «Das veränderte nicht nur die Diabetologie, sondern auch die Kardiologie», sagte Müller-Wieland. Bereits 2021 integrierte die ESC die SGLT2i als therapeutische Option für HFrEF-Patienten. Mittlerweile weiss man, dass auch Patienten mit erhaltener linksventrikulärer Funktion (HFpEF) von einem SGLT2iHemmer profitieren können (5), was sich in einem entspre-
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Linktipps
SCORE2-Diabetes-Rechner www.rosenfluh.ch/qr/score2-diabetes
ESC-Leitlinien zum kardiovaskulären Management bei Diabetes www.rosenfluh.ch/qr/esc-cvd-diabetes
«Sick day rules» Weil mit der zunehmenden Verbreitung der SGLT2i mit einer Zunahme (euglykämer) Ketoazidosen zu rechnen sei, hat die Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) eine Karte zum Abgeben an Patienten gestaltet, auf der Vorsichtsmassnahmen und Instruktionen für den Fall des Auftretens entsprechender Symptome notiert werden können: www.rosenfluh.ch/qr/sick-day-rules
chenden Update der ESC-Leitlinien zur Herzinsuffizienz niedergeschlagen hat (6). Für Typ-2-Diabetiker mit jedem Typ von Herzinsuffizienz (HFrEF, HFmrEF, HFpEF) wird in den aktuellen ESC-Leitlinien ein SGLT2i empfohlen, unabhängig vom HbA1c-Wert und unabhängig von einer gleichzeitigen Gabe anderer glukosesenkender Medikamente (1). Bei Letzteren kommen Substanzen mit neutralem Effekt in Bezug auf die Herzinsuffizienz infrage (GLP-1-RA, Sitagliptin, Linagliptin, Metformin, Insulin glargin, Insulin decludec). In diesem Zusammenhang wies Müller-Wieland darauf hin, dass Pioglitazon und Saxagliptin bei Herzinsuffizienzpatienten nicht eingesetzt werden sollten, weil sie mit einem erhöhten Risiko für herzinsuffizienzbedingte Hospitalisationen assoziiert seien.
Diabetiker auf pAVK screenen
Alle Diabetiker sollten regelmässig auf klinische Symptome einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) untersucht werden. Die pAVK-Prävalenz liegt bei Diabetikern bei 20 bis 30 Prozent. Weil etwa die Hälfte von ihnen keine klinischen Symptome aufweist, empfiehlt die ESC, auch bei Diabetikern ohne klinische pAVK-Symptome den Knö-
chel-Arm-Index zu bestimmen (ABI: ankle-brachial-index; Quotient aus den Blutdruckwerten am Unterschenkel und am Oberarm). Ist dieser ≤ 0,9 (Hinweis auf pAVK) oder > 1,4 (falsch hohe Werte wg. anderer Ursachen), sind weitere Abklärungen notwendig (1). Eine evidenzbasierte Empfehlung für das Screeningintervall gebe es nicht, sagte Müller-Wieland. Gemäss den ESC-Leitlinien ist für Diabetiker mit symptomatischer pAVK die Therapie mit Plättchenhemmern indiziert. Bei Diabetikern mit chronischer, symptomatischer pAVK ohne hohes Blutungsrisiko sollte eine Kombination aus niedrig dosiertem Rivaroxaban und Acetylsalicylsäure (ASS) erwogen werden. Da Diabetiker mit pAVK ein sehr hohes kardiovaskuläres Risiko tragen, gelten für sie ein LDL-C-Zielwert von < 1,4 mmol/l (< 55 mg/dl) und eine LDL-C-Reduktion von mindestens 50 Prozent.
Zu wenig Forschung zu CVD bei Typ-1-Diabetes
In den fast 100 Seiten umfassenden ESC-Guidelines finden
sich zu CVD und Typ-1-Diabetes nicht mehr als 2 Seiten. Der
Referent beklagte die mangelhafte Datenlage: «Diese Patien-
ten sind nicht nur 3 Jahre alt, sie werden erwachsen, sie haben
alle Komorbiditäten, bekommen Herzinsuffizienz – und wir
haben keine Daten dazu. Es muss aufhören, dass diese Patien-
ten immer aus Studien ausgeschlossen werden!»
s
Renate Bonifer
Quellen: Prof. Dirk Müller-Wieland: «Typ-2-Diabetes, Herzinsuffizienz und periphere Gefäßerkrankungen: Sektorenübergreifende leitliniengerechte Therapie und Perspektiven» und «Kardiovaskuläre Risikostratifizierung und -kategorisierung» am DDG-Symposium «Leitlinien zum Management kardiorenaler Erkrankungen bei Diabetes: EASD/ADA, ESC und KDIGO». DiabetesKongress der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Berlin, 9. Mai 2024.
Literatur: 1. Marx N et al.: 2023 ESC Guidelines for the management of cardiovascular
disease in patients with diabetes. Eur Heart J. 2023;44(39):4043-4140. 2. Zinman B et al.: Empagliflozin, Cardiovascular Outcomes, and Mortality
in Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2015;373(22):2117-2128. 3. McMurray JJV et al.: Dapagliflozin in Patients with Heart Failure and Re-
duced Ejection Fraction. N Engl J Med. 2019;381(21):1995-2008. 4. Packer M et al.: Cardiovascular and Renal Outcomes with Empagliflozin
in Heart Failure. N Engl J Med. 2020;383(15):1413-1424. 5. Vaduganathan M et al.: SGLT-2 inhibitors in patients with heart failure: a
comprehensive meta-analysis of five randomised controlled trials. Lancet. 2022;400(10354):757-767. 6. McDonagh TA et al.: 2023 Focused Update of the 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure. Eur Heart J. 2023;44(37):3627-3639.
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