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Volkskrankheit Reizmagen und Reizdarm
Aktuelles Management
BERICHT
Reizmagen und Reizdarm können die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Beides sind Ausschlussdiagnosen, bei denen an viele Differenzialdiagnosen gedacht werden muss. Die Therapie bei Reizdarm, besteht in einer Stufentherapie, an deren Anfang eine Ernährungsumstellung steht. Auch Phytotherapeutika könnten hier gute Dienste leisten, erklärte Prof. Stephan Vavricka, Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie, Zürich, am Forum für medizinische Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin in Zürich.
Der Reizmagen (funktionelle Dyspepsie) definiert sich aus dem Vorhandensein von mindestens 1 ROME-Kriterium, wie postprandiales Völlegefühl, frühes Sättigungsgefühl, epigastrische Schmerzen und epigastrisches Brennen. Wenn diese Symptome in den letzten 3 Monaten auftraten, der Symptombeginn über ein halbes Jahr zurückliegt und keine Evidenz für eine strukturelle Erkrankung vorliegt, handelt es sich um einen Reizmagen (1, 2). Diese Symptome können aufgrund von verschiedenen pathophysiologischen Mechanismen entstehen. Dazu zählten Hypersensitivität gegenüber mechanischen Stimuli, die gestörte postprandiale gastrale Akkomodation/Relaxation, verzögerte Magenentleerung oder tiefgradige Entzündung im Duodenum, so Vavricka. Oft (zu ca. 10%) tritt der Reizmagen nach einem MagenDarm-Infekt auf (3). Bei der Abklärung der funktionellen Dyspepsie kann ein Therapieversuch mit Protonenpumpenhemmern (PPI) gestartet werden. Dies mit Dosierungen zwischen 20 und 80 mg während 2 bis 4 Wochen, sofern die Patienten ≤ 50 Jahre alt seien, so Vavricka. Bringen die PPI keine Symptomlinderung, lohnt sich die Suche nach einer Besiedelung mit Helicobacter pylori. Im positiven Fall bringt eine Eradikation eine Symptomlinderung (4) Im negativen Fall und bei einem Alter ≥ 50 Jahren empfiehlt sich eine endoskopische Untersuchung zum Ausschluss einer erosiven Ösophagitis, eines Barrett-Ösophagus, eines pepti-
KURZ & BÜNDIG
� Reizdarm ist häufig und führt zu einer eingeschränkten Lebensqualität.
� FODMAP sind wichtige Trigger.
� Bei jedem Patienten mit Verdacht auf Reizdarm sollte eine Zöliakie ausgeschlossen werden.
� Die medikamentöse Reizdarmtherapie erfolgt in Stufen.
� Phytotherapie wirkt in dieser Indikation gut.
schen Ulkus oder eines gastroösophagealen Tumors. Gemäss einer Metaanalyse über 9 Studien (n = 5389) lassen sich bei etwa einem Viertel der Dyspepsiepatienten solche Befunde finden (5).
Zwei Typen von Reizdarm
Reizdarm (irritable bowel syndrome, IBS) ist eine sehr häufige chronische gastrointestinale Erkrankung mit einer Inzidenz von 2 bis 70/1000 Patientenjahre und einer Prävalenz von zirka 10 Prozent. Der Reizdarm kann diarrhö- (IBS-D) oder obstipationsbetont (IBS-C) sein, ein Wechsel kommt aber häufig vor. Betroffen sind mehr Frauen als Männer (2:1); im Alter ist der Geschlechterunterschied allerdings weniger stark ausgeprägt. Psychiatrische Komorbiditäten wie somatoforme Störungen, Angststörungen und Depressionen sind bei diesen Patienten häufig. Die Lebensqualität ist stark eingeschränkt (6, 7). Diagnostische Kriterien (ROME IV) umfassen rezidivierende Abdominalschmerzen an mindestens 1 Tag während der letzten 3 Monate mit zusätzlich weiteren Symptomen. Dazu gehören die Schmerzlinderung nach Defäkation sowie die Veränderung von Stuhlfrequenz und Stuhlkonsistenz (8). Um den Patienten die Beschreibung der Stuhlkonsistenz zu erleichtern, eignet sich die Bristol Stool Scale mit Abbildungen für jeden Konsistenztyp (von hart bis wässrig).
Mindestens Zöliakie ausschliessen
Bevor die Diagnose Reizdarm gestellt wird, sollten verschiedene Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden. Beispielsweise sind laut Vavricka 50 Prozent der Zöliakiepatienten mit IBS fehldiagnostiziert. Bei Zöliakiepatienten würden in der Regel 60 bis 90 Monate bis zur richtigen Diagnosestellung vergehen, so der Gastroenterologe weiter. Des Weiteren könne eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, insbesondere ein Morbus Crohn in Remission, zu ähnlichen Symptomen wie Reizdarm führen, so auch das kolorektale Karzinom oder auch ein Ovarialtumor. Bei bestimmten Symptomen bedarf es jedoch einer weiteren Abklärung. Solche Red Flags sind beispielsweise ein Symptombeginn im Alter von > 50 Jahren, Gewichtsverlust, Blut
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ab ano, nächtliche Symptome sowie eine Familienanamnese für kolorektales Karzinom, chronisch entzündliche Erkrankungen oder Ovarialkarzinom. Bei allen Reizdarmpatienten sollte ausserdem eine altersentsprechende Altersvorsorge durchgeführt und eine Zöliakie ausgeschlossen werden. Bei diarrhölastigem oder gemischtem Reizdarm empfiehlt sich die Bestimmung des Calprotectinwerts zur Abgrenzung von entzündlichen zu nicht entzündlichen Darmerkrankungen. Eine Koloskopie mit Stufenbiopsien zum Ausschluss einer mikroskopischen Colitis vervollständigt die Ausschlussstrategie. Bei obstipationslastigem Reizdarm, der auf einfache Laxanzien nicht mehr anspricht, kann entweder eine Slow-transit-Obstipation oder ein Problem am Darmende (Outlet-Obstruktion) der Grund für die Symptomatik sein. Mit der Bestimmung der Kolontransitzeit, einer Analmanometrie und gegebenenfalls einer magnetresonanztomografischen Defäkografie kann dies unterschieden werden. Eine parasitologische Untersuchung kann bei positiver Reiseanamnese einen Ansatz liefern. Liegen fakultativ pathogene Keime vor (z. B. Blastocystis hominis), kann sich durch entsprechende Behandlung die Reizdarmsymptomatik bessern. Auch eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms (small intestinal bacterial overgrowth, SIBO) kann zu reizdarmähnlichen Symptomen führen. Ein Lactuloseatemtest oder eine Gastroskopie mit Duodenalsaftaspirat liefert den Nachweis einer vermehrten Bakterienzahl.
Therapiekonzepte bei Reizdarm/Reizmagen
Wichtig sind laut Vavricka eine klare und umfassende Diagnosevermittlung und der Aufbau einer patientenzentrierten Kommunikation. Dabei sollten die Ängste des Patienten empathisch ernst genommen und die Erwartungen an die Therapie geklärt werden. Für die Therapie sollen Zeitlimits gesetzt, realistische Ziele formuliert und die Patienten in die Behandlung eingebunden werden. In einem ersten Schritt sollte eine Ernährungsanpassung erfolgen. Denn zu den häufigen Auslösern eines Reizdarms gehören Nahrungsmittel infolge Unverträglichkeiten. Führend dabei sind Milchprodukte, Hülsenfrüchte, Weizen und fetthaltige Speisen. Meist finden sich keine Hinweise auf Nahrungsmittelallergien (9). Es können aber auch FODMAP-haltige (FODMAP: fermentable oligosaccharides disaccharides monosaccharides and polyols) Nahrungsmittel eine Rolle spielen, die aufgrund ihrer zuckerhaltigen Zusammensetzung bei ihrer Metabolisierung vermehrt zu Blähungen führen können. Bei Patienten mit Reizdarm könne eine Überweisung zu einer Ernährungs-
beratung sinnvoll sein, so der Experte. Diese kann einen
Weglassversuch von FODMAP oder auch Mahlzeiten mit
wenig FODMAP begleiten. Daten zeigten, dass eine
FODMAP-arme Ernährung bei etwa drei Viertel der IBS-
Patienten wirksam sei, so Vavricka.
Wenn diese Massnahme nicht ausreicht, können Phytothera-
peutika eine Option sein. Dazu geeignet sind gemäss Vavri-
cka beispielsweise Iberogast®, das 9 Pflanzenextrakte ent-
hält, oder Carmenthin® mit einer Kombination aus Pfeffer-
minzöl und Kümmelöl.
Iberogast® hat in einer Multizenterstudie mit 135 Patienten
mit funktioneller Dyspepsie nach 4 und 8 Wochen zu einer si-
gnifikanten Symptomverbesserung geführt (10). Carmenthin®
wirkt durch seine beiden Komponenten entspannend auf die
glatte Muskulatur des Darms, moduliert die Darmmotilität,
ist analgetisch, hemmt die Gas- und Schaumbildung und sti-
muliert die Gallensekretion (11).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Volkskrankheit Reizmagen und Reizdarm», Forum für medizinische Fortbildung (FOMF) Allgemeine Innere Medizin, 17.11.2023 in Zürich.
Referenzen: 1. Tack J et al.: Functional dyspepsia and gastroparesis. Curr Opin Gastro-
enterol.2017Nov;33(6):446-454.doi:10.1097/MOG.0000000000000393. 2. Stanghellini V et al.: Gastroduodenal disorders. Gastroenterology. 2016
May;150(6):1380-92. doi: 10.1053/j.gastro.2016.02.011. 3. Halvorson HA et al.: Postinfectious irritable bowel syndrome – a me-
ta-analysis. Am J Gastroenterol. 2006 Aug;101(8):1894-9; quiz 1942. doi: 10.1111/j.1572-0241.2006.00654.x. PMID: 16928253. 4. Moayyedi P et al.: ACG and CAG Clinical Guideline: Management of Dyspepsia [published correction appears in Am J Gastroenterol. 2017 Sep;112(9):1484]. Am J Gastroenterol. 2017;112(7):988-1013. doi:10.1038/ ajg.2017.154. 5. Ford AC et al.: What is the prevalence of clinically significant endoscopic findings in subjects with dyspepsia? Systematic review and meta-analysis. Clin Gastroenterol Hepatol. 2010;8(10):830-837.e8372. doi:10.1016/j. cgh.2010.05.031. 6. Layer P et al.: S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Gemeinsame Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM). Z Gastroenterol. 2011;49(2):237-293. doi:10.1055/s-0029-1245976. 7. Lovell RM et al.: Global prevalence of and risk factors for irritable bowel syndrome: a meta-analysis. Clin Gastroenterol Hepatol. 2012;10(7):712721.e4. doi:10.1016/j.cgh.2012.02.029. 8. Lacy BE et al.: Bowel disorders. Gastroenterology. 2016;150:1393-1407. 9. Böhn L et al.: Self-reported food-related gastrointestinal symptoms in IBS are common and associated with more severe symptoms and reduced quality of life. Am J Gastroenterol. 2013;108(5):634-641. doi:10.1038/ ajg.2013.105. 10. von Arnim U et al.: STW 5, a phytopharmacon for patients with functional dyspepsia: results of a multicenter, placebo-controlled double-blind study. Am J Gastroenterol. 2007;102(6):1268-1275. doi:10.1111/j.1572-0241.2006.01183.x 11. Fachinformation Carmenthin®, www.compendium.ch. Letzter Abruf: 2.2.2024.
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