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BERICHT
15. SFMAD
Update zu unipolarer Depression
Die Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaften für Angst und Depression (SGAD), für Biologische Psychiatrie (SGBP) und für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) wurden aktualisiert. Was dabei neu ist, erläuterte Dr. Joe Hättenschwiler vom Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ) am Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) in Zürich.
Unipolare Depressionen sind häufig, die Lebenszeitprävalenz beträgt bis zu 21 Prozent. Ein relevanter Teil verläuft rezidivierend, wird chronisch und ist schwierig zu behandeln. Bei etwa einem Drittel der Patienten dauert eine Episode > 2 Jahre, was gemäss ICD-11 einer persistierenden depressiven Störung entspricht. Es bestehen eine hohe Komorbidität mit psychischen und somatischen Erkrankungen sowie eine hohe Mortalität. Etwa 60 bis 70 Prozent der Patienten erreichten keine Remission, wie Hättenschwiler darlegte. 20 Prozent von ihnen seien nach 2 Jahren trotz zahlreicher Therapieversuche noch immer depressiv. Durch eine strukturierte Therapie kann die Behandlungsqualität im Vergleich zu einer unstrukturierten jedoch
verbessert werden (1, 2). Um dazu Hand zu bieten, wurden die Schweizer Behandlungsempfehlungen zu unipolaren Depressionen von 2010 und 2016, basierend auf dem neuesten Wissensstand und den aktuellen Leitlinien, überarbeitet. Die wichtigsten Neuerungen sind im Kasten zusammengestellt. Am SFMAD-Symposium von 2024 präsentierte Hättenschwiler den 1. Teil: «Akutbehandlung unipolarer Depressionen».
Akute leichtgradige Depression
In der Akutbehandlung ist die Remission das kurzfristige Ziel. Das bedeutet Symptomfreiheit und Wiederherstellung des prämorbiden psychosozialen Funktionsniveaus. Könne
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keine Remission erreicht werden, blieben Restsymptome, was neben der Erhöhung des Rückfallrisikos und der verminderten Lebensqualität unter anderem auch eine Beeinträchtigung verschiedener Hirnstrukturen zur Folge habe (3), so der Experte. Gemäss den neuen Behandlungsempfehlungen sollen bei erstmaligem Auftreten von leichten akuten depressiven Episoden niedrig intensive Interventionen, das heisst angeleitete Selbsthilfe, hausärztliche psychosomatische Grundversorgung oder eine psychiatrische, psychosomatische beziehungsweise psychotherapeutische Basisbehandlung angeboten werden. Tritt innert 14 Tagen keine Besserung ein, soll eine Psychotherapie zum Einsatz kommen. Wichtig sind hierbei auch die Empfehlung zur Aufklärung über Nebenwirkungen einer Psychotherapie zu Beginn und deren Besprechung bei Auftreten im Therapieverlauf (4). Zeige eine Psychotherapie nach 6 bis 10 Sitzungen kein Ansprechen, müsse die Ursache dafür gesucht werden, so Hättenschwiler weiter. Falls verfügbar, sollen auch internet- und mobilbasierte Interventionen, eingebettet in ein therapeutisches Gesamtkonzept, angeboten werden, deren Adhärenz und Wirksamkeit jedoch monitorisiert werden sollen (4). Wenn sich die Symptomatik nicht verbessert oder gar verschlechtert sowie bei rezidivierenden leichtgradigen akuten Episoden, sollte eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva erwogen werden (4). Wichtig zur Verlaufsbeurteilung sei die Erhebung eines Ausgangswerts der depressiven Symptome, zum Beispiel mit dem Beck-Depressions-Inventar (BDI). Dieser nehme zirka 5 Minuten in Anspruch und könne als Selbsttest angewendet werden. Er eigne sich als Screening und zur Verlaufskontrolle, so Hättenschwiler.
Akute mittelgradige und schwere Episode
Bei akuter mittelgradiger Episode sollen gleichwertig Psychotherapie oder medikamentöse Therapie angeboten werden, bei schweren Episoden vorzugsweise eine Kombination der beiden (4). Benzodiazepine und Z-Substanzen können in der Akutbehandlung von schweren depressiven Episoden zusätzlich zu Antidepressiva und Psychotherapie angeboten werden. Benzodiazepine sollen bei akuter Suizidalität und stark belastenden Schlafstörungen oder starker Unruhe bei engmaschiger Überwachung sowie unter Beachtung der Kontraindikationen für eine Dauer von 2 (maximal 4) Wochen angeboten werden. Bei einer psychotischen Depression kommen Antidepressiva und Antipsychotika zum Einsatz (4).
Einsatz von Antidepressiva
Hinsichtlich Pharmakologie und Wirkmechanismen gebe es zwar verschiedene Substanzklassen, doch unterschieden sie sich bezüglich der depressionslösenden Effektivität nur unwesentlich, so Hättenschwiler. Die Wahl des Antidepressivums orientiert sich daher mehr an der Patientenpräferenz, früheren Erfahrungen, den Nebenwirkungen, der Toxizität und dem Interaktionspotenzial. In der Schweiz verfügbare Antidepressiva sind in Tabelle 1 aufgeführt. Wenn die Therapie anspricht, tritt meist nach 7 bis 14 Tagen ein spürbarer Effekt ein. Über 80 Prozent der Responder erleben eine erste Besserung innerhalb von 2 bis 3 Wochen, nach diesem Zeitpunkt bleibt die Ansprechrate eher gering.
Tabelle 1:
In der Schweiz verfügbare Antidepressiva
Substanzklasse
TZA Amitriptylin
Clomipramin
Doxepin
Imipramin
Nortriptylin
Trimipramin
TetraZA Mianserin
NDRI Bupropion
SSRI Citalopram
Escitalopram
Fluoxetin
Fluvoxamin
Paroxetin
Sertralin
SNRI Duloxetin
Milnacipran*
Venlafaxin
MAO-Hemmer
Moclobemid (reversibler Hemmer)
Tranylcypromin*
NaSSA Mirtazapin
NARI Reboxetin
Multimodales AD Vortioxetin
SARI Trazodon
MASSA Agomelatin
Phytopharmakon Johanniskraut/Hypericum
* über die internationale Apotheke erhältlich Abkürzungen: TZA: trizyklische Antidepressiva, TetraZA: tetrazyklische Antidepressiva, NDRI: Noradrenalin-Dopamin-WiederaufnahmeHemmer, SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, MAO-Hemmer: Monoaminoxidasehemmer, NaSSA: noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum, NARI: selektive Noradrenalinwiederaufnahmehemmer, MASSA: Melatoninrezeptoragonist und Serotoninrezeptorantagonist Quelle: J. Hättenschwiler, SFMAD 2024, Zürich
Sprechen die Patienten nach 4 Wochen nicht auf eine Antidepressivamonotherapie an, sollen zunächst die Ursachen dafür evaluiert werden. Dazu gehören eine mögliche Fehldiagnose, fehlende Adhärenz, zu tiefe Dosierung oder ein zu tiefer Serumspiegel. Eine somatische oder psychische Komorbidität und eine depressiogene Komedikation müssen ebenfalls ausgeschlossen werden (4). Falls das Aufdosieren der Substanz allein nicht ausreichen sollte, sind mehrere Strategien möglich: Medikamentenwechsel, Kombination und Augmentation. Für einen Medikamentenwechsel können Äquivalenzdosen (Tabelle 2) hilfreich sein. Berechnungsbasis für die Dosis von anderen Antidepressiva in dieser Liste ist Fluoxetin 40 mg/Tag. Ein Medikamentenwechsel sollte möglichst nur 1-mal erfolgen, ein guter Zeitpunkt dafür sei das Auftreten von Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen, so Hättenschwiler. Beim Wechsel sollte das alte Antidepressivum aus- und das neue Antidepressivum eingeschlichen werden. Als zweite Strategie kann die Kombination von Antidepressiva mit Psychotherapie oder mit weiteren Antidepressiva hilfreich sein. Als dritte mögliche Strategie kann die Wirkung
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Kasten:
Update Behandlungsempfehlungen unipolare Depression 2024
Was ist neu? ▲ ICF-basierte Diagnostik: unter anderem Schärfung der Schweregrad-
einstufung, Erfassung subjektiver Symptome und Berücksichtigung des biopsychosozialen Modells gemäss der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ▲ Therapieprinzipien der Psychotherapie analog zu vorhandenen Inhalten zu Pharmakotherapie ▲ Massnahmen bei Nichtansprechen einer Psychotherapie ▲ internet- und mobilbasierte Interventionen ▲ pharmakogenetische Testung ▲ Entscheidung über Arbeitsfähigkeit ▲ Esketamin intranasal, Ketamin i.v. ▲ ernährungsbasierte Interventionen
Inhaltliche Änderungen: ▲ Massnahmen bei Nichtansprechen von Antidepressiva:
– neue Empfehlung zur Kombination mit Psychotherapie – Änderung der Empfehlungsgrade für einige Behandlungsstrate-
gien – neue Empfehlung zur Kombination mit repetitiver Magnetsti-
mulation (rTMS) ▲ Massnahmen bei Therapieresistenz: Erhöhung Empfehlungsgrad
für rTMS ▲ Lichttherapie: zusätzliche Empfehlung bei Depressionen ohne sai-
sonales Muster
des Antidepressivums durch Zugabe einer Substanz, die selbst kein Antidepressivum ist (z. B. Lithium, atypisches Antipsychotikum), «augmentiert» werden. Als vierte Möglichkeit besteht die Zugabe von Esketamin als Add-on bei Therapieresistenz.
Komorbiditäten beachten
Doch bevor die Diagnose Depression definitiv gestellt werde, sollten somatische Ursachen für eine Depression abgeklärt werden, betonte Prof. Annette Brühl, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Klinik für Erwachsene, Zentrum für Affektive, Stress- und Schlafstörungen und Zentrum für Alterspsychiatrie. Denn verschiedene somatische Erkrankungen können auch eine Depression zur Folge haben beziehungsweise mit Depressionen einhergehen. So gibt es eine hohe Prävalenz von komorbiden Depressionen bei Patienten mit chronischen somatischen Erkrankungen wie Tumor-, kardiovaskulären oder entzündlichen Erkrankungen wie zum Beispiel rheumatische oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen (5). Des Weiteren weisen über 60 Prozent der Patienten noch mindestens 1 weitere psychische Störung auf, etwa ein Viertel hat mindestens 3 weitere Diagnosen. Bestehen psychische Komorbiditäten, ist der Verlauf ungünstiger und das Ansprechen auf die Medikation schlechter. Des Weiteren ist das Chronifizierungsrisiko höher, auch jenes für Suizid. Häufig handelt es sich bei den komorbiden psychischen Störungen um Angststörungen (50%), Alkohol-, Medikamenten- und
Tabelle 2:
Äquivalenzdosen von Antidepressiva
Basis: Fluoxetin
40 mg/Tag
Agomelatin
53,2 mg/Tag
Amitriptylin
122,3 mg/Tag
Bupropion
348,5 mg/Tag
Clomipramin
116,1 mg/Tag
Escitalopram
18,0 mg/Tag
Imipramin
137,2 mg/Tag
Mirtazapin
50,9 mg/Tag
Paroxetin
34,0 mg/Tag
Reboxetin
11,5 mg/Tag
Sertralin
98,5 mg/Tag
Venlafaxin
149,5 mg/Tag
Lesebeispiel: Fluoxetin 40 mg/Tag entspricht Agomelatin
in einer Dosis von 53,2 mg/Tag.
Quelle: J. Hättenschwiler, SFMAD 2024, Zürich (mod. nach [5])
Drogenabhängigkeit, Essstörungen, somatoforme Störungen,
Persönlichkeits- und Zwangsstörungen.
Im Rahmen der Abklärung von Depression sollten bei jedem
Patienten somatische Basisparameter bestimmt werden. Sie
dienten nicht nur dem Ausschluss somatischer Erkrankun-
gen, sondern seien auch Ausgangswerte für die Verlaufs-
kontrollen, so Brühl. Dazu gehörten Laborparameter wie ein
grosses Blutbild, Schilddrüsentests (fT3, fT4, TSH), Ferritin,
Vitamin B12, HbA1c, CRP, Leberfunktionstest (inkl. Gam-
ma-GT), ggf. menopausale Marker bei Frauen (FSH, LH),
Testosteron bei Männern. Vitalparameter und die quantita-
tive Erfassung von Symptomen und Kognition ergeben wei-
tere Ausgangswerte.
s
Valérie Herzog
Quelle: Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD), 11. April 2024 in Zürich.
Referenzen: 1. Adli M et al.: Effectiveness and feasibility of a standardized stepwise drug
treatment regimen algorithm for inpatients with depressive disorders: results of a 2-year observational algorithm study. J Clin Psychiatry. 2002;63(9):782-790. doi:10.4088/jcp.v63n0906. 2. Zhang H et al.: Evaluating the efficacy and moderators of algorithm-guided antidepressant treatments of major depressive disorder. J Affect Disord. 2022;297:68-75. doi:10.1016/j.jad.2021.10.011. 3. Frodl TS et al.: Depression-related variation in brain morphology over 3 years: effects of stress? Arch Gen Psychiatry. 2008;65(10):1156-1165. doi:10.1001/archpsyc.65.10.1156. 4. Die Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2024, Teil 1: Die Akutbehandlung depressiver Episoden. Schweizerische Gesellschaften für Angst und Depression (SGAD), für Biologische Psychiatrie (SGBP) und für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP). In Bearbeitung. 5. Hayasaka Y et al.: Dose equivalents of antidepressants: Evidence-based recommendations from randomized controlled trials. J Affect Disord 2015;180:179-184. doi:10.1016/j.jad.2015.03.021. 6. Gold SM et al.: Comorbid depression in medical diseases. Nat Rev Dis Primers. 2020;6(1):69. Published 2020 Aug 20. doi:10.1038/s41572-0200200-2.
S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie «Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). 3. Auflage, Version 3.2, Juli 2023. www.versorgungsleitlinien.de.
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