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FORTBILDUNG
Bei Polypharmazie genau hinsehen
Nicht allein die Anzahl der Medikamente ist ausschlaggebend
Gerne werden unerwünschte Ereignisse während einer Pharmakotherapie der Polypharmazie zugeschrieben. Dabei ist die schiere Anzahl an Wirkstoffen selten ursächlich, wohl aber maskierend für feine Ungereimtheiten. Wird die Polypharmazie entsprechend als eine Indikation für ein genaueres Hinschauen eingesetzt, kann eine umfassende Medikationsanalyse gewinnbringende Massnahmen für einzelne Wirkstoffe aufzeigen. Was kann dabei alles berücksichtigt werden?
Der «efficacy-effectiveness gap»
Der Umstand, dass Arzneimittel nach deren Marktzulassung kaum den medizinischen Nutzen erreichen, der ihnen in klinischen Studien zugewiesen wurde, wird als der «efficacyeffectiveness gap» bezeichnet. Aus dem Ausmass, in dem ein Arzneimittel unter zwar zunehmend diversen, aber dennoch idealen Umständen mehr Nutzen als Schaden bringt (efficacy, Wirksamkeit), wird unter den üblichen Bedingungen unserer Gesundheitsversorgung ein deutlich kleinerer Effekt (effectiveness, Effektivität) (1). Unter unseren realen Bedingungen werden die Arzneimittel bei Patienten eingesetzt, die in ihrer spezifischen Kombination von Eigenschaften schlicht nicht abgebildet waren. Da sind plötzlich andere Ausgangspunkte
MERKSÄTZE
� Die Definition des Begriffs «Polypharmazie» ist abhängig von der untersuchten Population sowie den untersuchten Outcomes.
� Die Vielfalt an Arzneimittelinteraktionen ist gross und umfasst eine Vielzahl von Faktoren. Dazu gehören Wechselwirkungen zwischen einem einzigen Wirkstoff und einem Nahrungsmittel sowie auch schwierig zu antizipierende pharmakogenetische Besonderheiten.
� Um eine Polypharmazie auf den individuellen Patienten abstimmen zu können, ist eine umfassende Medikationsanalyse kaum ersetzbar. Hilfsmittel können diese zielführend gestalten.
� Gesucht werden sollte nach Arzneimitteln, die entweder keine Indikation (mehr) haben, neu kontraindiziert sind, bei denen die unerwünschten Effekte den Nutzen überwiegen, die keinen präventiven Nutzen (mehr) haben oder Teil einer Verschreibungskaskade sind.
der Erkrankung selbst, die auf Komorbiditäten auch ausserhalb der grossen Gesellschaftserkrankungen treffen, bei Patienten mit Einschränkungen der eliminierenden Organe und hinderlichen Phänotypen der metabolisierenden Enzyme. Die neuen Wirkstoffe werden beeinflusst durch andere vorhandene Wirkstoffe in Körperzusammensetzungen, die in den Zulassungsstudien nicht repräsentiert waren oder schlicht untergehen in aggregierten Daten und errechneten Durchschnitten. Dann kommen unter realen Bedingungen auch noch Verschreibungs-, Abgabe- und Einnahmefehler dazu. Ein plakatives Beispiel: Adhärenzfördernde Wochendosiersysteme, wie die «Dosette», reduzieren gleichzeitig die Kenntnis über den eigenen Medikationsplan und führen bei einer falschen Befüllung zu Unter- und Überdosierungen. Aus der Wirksamkeit wird zuerst die Effektivität und bei Falschanwendung schliesslich Schaden.
Polypharmazie als Erklärung zu einfach
Andere Wirkstoffe können also die Wirksamkeit eines Arzneimittels schmälern. Doch je länger der Medikationsplan, desto grösser die Probleme? Allgemein bekannt als Polypharmazie sind 5 oder mehr Wirkstoffe (2). Die abgezählten 5 Wirkstoffe werden dann umgemünzt in dichotome Variablen (Polypharmazie vorhanden: ja/nein) und korrelieren in Beobachtungsstudien mit allerhand unerwünschten Arzneimittelereignissen: Stürze, Hospitalisierungen und ganz generell Mortalität. Dabei wäre schon die Definition der Polypharmazie nuancierter: So kann die Studienpopulation aus ausschliesslich älteren (76,9 Jahre), männlichen, nicht institutionalisiert lebenden Patienten bestanden haben (3). Und die 5 oder mehr Wirkstoffe sind eigentlich ein Mittelweg, der für alle untersuchten Outcomes funktioniert hat. Für kognitive Einschränkungen wären es (aufgerundet) 4, für Mortalität und Stürze (aufgerundet) 5 und für Gebrechlichkeit (Frailty) eigentlich gar (aufgerundet) 7 Wirkstoffe. In anderen Studien sind es dann für institutionalisiert lebende Ältere (87,5 Jahre), hauptsächlich Patientinnen, 9 oder mehr Wirkstoffe (4). Wobei es auch hier für Stürze 9 oder mehr, für Stürze mit Hospitalisation
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10 oder mehr und für Hospitalisation allgemein sogar 12 oder mehr Wirkstoffe wären, die mit den Outcomes korrelieren. Ja, Polypharmazie erhöht das Risiko für unerwünschte Ereignisse (5), aber ist die abgezählte Anzahl an Wirkstoffen auch die Ursache? Wohl eher die Maske für feine Ungereimtheiten: Eine grosse Anzahl an gleichzeitig eingesetzten Wirkstoffen erhöht schliesslich die Wahrscheinlichkeit für unbeabsichtigte Verschreibungskaskaden, das Vorhandensein von sturzfördernden Arzneimitteln, Verschreibungs- und Einnahmefehlern und vielfältigen Interaktionen.
(Arzneimittel-)Interaktionen
Die Wahrscheinlichkeit für jegliche und schädliche Interaktionen nimmt exponenziell mit der Anzahl an Wirkstoffen zu. Professor Walter Haefeli, Leiter Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, hat in einem 2011 erschienenen Beitrag eine eindrückliche Kombinatorik präsentiert (6): Aus lediglich 5 Wirkstoffen lassen sich 10 verschiedene Paare, 10 Triplets, 5 Quartette und 1 Quintet bilden. Das sind 26 verschiedene Kombinationen, alle mit ihrem eigenen Potenzial für Arzneimittelinteraktionen. Erweitert sich die Pharmakotherapie auf 8 Wirkstoffe, sind es bereits 247 mögliche Kombinationen. Unsere gängigen Interakt ionsdatenbanken arbeiten übrigens ausschliesslich mit P aaren. Arzneimittelinteraktionen können unterteilt werden in 3 grosse Gruppen: pharmakodynamische, pharmakokinetische und pharmazeutische Interaktionen (7). Pharmazeutische Interaktionen sind physikalisch-chemische Reaktionen von 2 oder mehr Wirkstoffen, die meist bereits ausserhalb des Patienten stattfinden. Sie zeigen sich in Ausfällungen, Trübungen oder Verfärbungen von Infusionslösungen in den Beuteln oder Katheterschläuchen. Konsequenzen sind eine fehlende Wirksamkeit oder bei Kristallbildung beispielsweise eine Phlebitis. Pharmakokinetische Interaktionen umschreiben die Einflussnahme eines Wirkstoffs auf 1 oder mehr der 5 wichtigen Kerngrössen der Plasmakonzentrationskurve eines anderen Wirkstoffs: Liberation (die Freisetzung des resorbierbaren Wirkstoffes aus dem Arzneimittel), Absorption, Distribution, Metabolismus und Elimination. Konsequenzen sind hier ein zu schnelles oder zu langsames Anfluten, suboder supratherapeutische Wirkstoffspiegel, eine Akkumu lation oder eine zu kurze Wirkdauer. Populäres, aber noch immer oft gesehenes Beispiel hierfür ist die Kombination von Atorvastatin mit Clarithromycin: Durch die Inhibierung des metabolisierenden Cytochrom-P450-Isoenzyms 3A4 (CYP3A4) durch Clarithromycin wird ungefähr eine 4,5-fache Konzentration von Atorvastatin erreicht (8), was bei hohen eingesetzten Dosen von Atorvastatin zu den bekannten Myotoxizitäten führen kann. Pharmakodynamische Interaktionen sind die gleichzeitige Einwirkung zweier Wirkstoffe an einem Rezeptor oder in einem Organ. Hier sind Wirkungsabschwächungen oder -verstärkungen die Konsequenz. Beispiele hierfür sind der Wirkungsverlust von Levodopa bei gleichzeitiger Gabe von Metoclopramid als zentralgängigen Dopaminantagonisten oder die additive, potenzielle QT-Intervall-Verlängerung von Ondansetron und Escitalopram. Für Interaktionen reicht allerdings bereits 1 einziger Wirkstoff: Metoclopramid braucht nicht Levodopa, um beispielsweise bei Patienten mit Morbus Parkinson pharmakodynamisch
eine Dyskinesie auszulösen (sogenannte Drug-DiseaseInteraktionen). Und Grapefruitsaft ist ein Beispiel für ein pharmakokinetisch interagierendes Nahrungsmittel (DrugFood-Interaktionen): 1 Glas Grapefruitsaft reicht, um das metabolisierende CYP3A4 in den Enterozyten des intestinalen Epitheliums für 24 bis 48 Stunden zu inhibieren (9). Durch diese Inhibierung gelangt beispielsweise 3-mal mehr Felodipin in die Pfortader. Obschon der First-Pass-Effekt der Leber die schliesslich erreichte Plasmakonzentration gleichermassen um etwa 50 Prozent reduziert, bleibt unter dem Strich dennoch 3-mal mehr Wirkstoff zur Verfügung, mit klaren Effekten auf den systolischen und diastolischen Blutdruck sowie reaktiv auf die Herzfrequenz. Schliesslich können zusätzlich zu einer Interaktion zwischen 2 Wirkstoffen auch genetisch bedingte Veränderungen in der Aktivität von metabolisierenden Enzymen und Arzneimitteltransportern eine Rolle spielen. Kollegen aus der Hirslanden-Klinik in Zürich haben einen Fall einer starken Sedierung und kognitiver Einschränkung durch Duloxetin beschrieben (10). Duloxetin wird sowohl über CYP2D6 als auch über CYP1A2 relevant metabolisiert. Durch eine Hemmung von CYP1A2 durch das ebenfalls vorhandene Ciprofloxacin und einer zusätzlich genetisch bedingten fehlenden Aktivität von CYP2D6 kam es vermutlich zu einer Plasmaspiegelerhöhung um das 16,6-fache von Duloxetin. Die Einschränkungen waren reversibel nach Absetzen von Duloxetin. Es muss jedoch nicht pharmakologisch komplex sein, damit Ungereimtheiten unter dem Deckmantel der Polypharmazie Schaden anrichten können. Aus eigener Praxis waren es wohl die total 19 Wirkstoffe, die eine einfache und schon lange beschriebene Komplexbildung von Ciprofloxacin mit gleichzeitig verabreichter Kalziumsubstitution (11) hinter einer schier unendlich wirkenden Liste an potenziellen, weit weniger relevanten Interaktionsmeldungen versteckt haben – das Therapieversagen der Antibiose durch fehlende Absorption von Ciprofloxacin also als Resultat eines Over-Alerting zu Arzneimittelinteraktionen mit subsequenter, nachvollziehbarer Alert-Fatigue bei den verschreibenden Kolleginnen und Kollegen (12).
Deprescribing als Weg aus der Polypharmazie
Wie lässt sich nun aufräumen? Hier kommt der Begriff «Deprescribing» ins Spiel: der Prozess des Absetzens eines unangemessenen Arzneimittels unter Aufsicht einer medizinischen Fachkraft mit dem Ziel, die Polypharmazie zu managen und die Outcomes zu verbessern (13). Deprescribing ist – als Teil der guten Verschreibungspraxis – eine positive, patientenzentrierte Intervention für Arzneimittel, bei welchen (manifeste oder potenzielle) Risiken und Schäden den (manifesten oder potenziellen) Nutzen überwiegen (14). Sind noch alle Medikamente indiziert, oder ist deren nützliche Therapiedauer abgelaufen? Gibt es neue Indikationen, die den Einsatz bestimmter Wirkstoffklassen einschränken? Ist die erwartete Lebensdauer kürzer als der prophylaktische Nutzen der Therapie? Tatsächlich entsprechen solche Überlegungen einem Patientenbedürfnis: Gefragt, ob sie gerne die Anzahl der Arzneimittel reduzieren möchten, antwortet die Mehrzahl der Patienten mit Ja (15). Dieselben Patienten sind aber mehrheitlich der Meinung, dass alle ihre Arzneimittel notwendig sind. Das ist gut für die Adhärenz und zeigt den Bedarf an Auf-
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1. Kein Nutzen Erhebliche Toxizität ODER keine Indikation ODER offensichtliche Kontraindikation ODER Verschreibungskaskade?
Nein 2. Der Schaden überwiegt den Nutzen Überwiegen die unerwünschten Wirkungen die symptomatische Wirkung oder den potenziellen künftigen Nutzen?
Nein 3. Symptomatische Arzneimittel Symptome stabil oder nicht vorhanden?
Nein 4. Vorbeugende Arzneimittel Potenzieller Nutzen aufgrund der begrenzten Lebenserwartung unwahrscheinlich?
Nein
Medikamentöse Therapie fortsetzen
Ja Ja Ja
Ja Absetzphänomene oder Wiederauftreten der Krankheit bei Absetzen der Arzneimitteltherapie wahrscheinlich?
Nein Ja
Absetzen der medikamentösen Therapie
Ja
Dosis reduzieren und auf unerwünschte Absetzpänomene überwachen Symptome stabil oder nicht vorhanden?
Nein Wiederaufnahme der Arzneimitteltherapie
Abbildung: Algorithmus zum Absetzen von Medikamenten (nach [14])
klärung, falls dann doch ein Arzneimittel aus dem Medikationsplan verschwinden soll. Ein Team aus Australien hat als Entscheidungshilfe beim Absetzen von Arzneimitteln einen Algorithmus definiert (14): Schritt für Schritt wird nach Arzneimitteln gesucht, die entweder keine Indikation (mehr) haben, neu kontraindiziert sind, bei denen die unerwünschten Effekte den Nutzen überwiegen, die keinen präventiven Nutzen (mehr) haben oder Teil einer Verschreibungskaskade sind (siehe Abbildung). Eine häufige Kaskade ist beispielsweise das Behandeln von Knöchelödemen mit Schleifendiuretika, kurz nachdem ein ursächlicher Kalziumantagonist in die Pharmakotherapie mit aufgenommen wurde (16). Ist ein Arzneimittel für den Stopp ausgewählt, muss anhand des Risikos für Absetzphänomene überlegt werden, ob dieses abrupt gestoppt werden kann oder ausgeschlichen werden muss (14, 17). Betablockern wird beispielsweise ein Rebound-Phänomen attestiert (18). Aber auch Antidepressiva können mit unterschiedlichem Risiko gerade in den letzten Dosierungsschritten Absetzphänomene
Klinische Pharmarzie
«Die klinische Pharmazie kümmert sich um die Entwicklung und Förderung einer geeigneten, sicheren und ökonomisch sinnvollen Anwendung von Arzneimitteln. Im Spital sind es patientenorientierte Aktivitäten, welche auf Pflegestationen in enger Zusammenarbeit mit weiteren Gesundheitsberufen wie den Ärzten und der Pflege entwickelt wurden. Die Aufgaben der klinischen Pharmazie können in 3 Bereiche unterteilt werden: patientenorientierte Aktivitäten (Patientenschulung, Seamless Care), therapieorientierte Aktivitäten (Therapieoptimierung), prozessorientierte Aktivitäten (Sicherung der Versorgung mit dem richtigen Arzneimittel zum rechten Zeitpunkt). Der klinische Apotheker hat eine angemessene Ausbildung für seine Tätigkeiten und übernimmt die Verantwortung für seine Tätigkeiten.» (gsasa.ch)
auslösen, die mit dem Akronym FINISH (flu-like, insomnia, nausea, imbalance, sensory disturbance, hyperarousal) zusammengefasst werden können (19–21).
Identifikation von möglicherweise unangebrachten Arzneimitteln
Wie lassen sich Arzneimittel identifizieren, bei denen über ein Deprescibing nachgedacht werden sollte? Der Algorithmus aus Australien stellt bereits die übergeordnet wichtigen Fragen nach Indikationsverlust, Schaden und potenziell überwiegenden Risiken. Die Antworten darauf brauchen eine klinische Einschätzung, bei der implizite und explizite Kriterien für potenziell unangebrachte Arzneimittel weiterhelfen können (22). Explizite Kriterien sind rigide, teils regelmässig aktualisierte Listen von Wirkstoffen, die für eine bestimmte Patientenpopulation – meist ältere Patienten – mit unerwünschten Ereignissen wie Stürzen korrelieren. Listen wie die Beers Criteria der American Geriatrics Society oder die PRICUS 2.0 aus Deutschland sind das Resultat von Evidenzbewertungen und helfen bei der schnellen Identifikation von Absetzkandidaten (23, 24). Von Beobachtungsstudien zwar gerne als weitere Zählweise nebst der Polypharmazie verwendet, ist die eigene Patientensituation aber meist individueller und damit komplexer. Vielleicht ist das potenziell erhöhte Sturzrisiko akzeptabel, wenn dafür gleichzeitig die Depression behandelt werden kann. Die PRISCUS-2.0-Liste gibt hierzu jeweils Wirkstoffe an, die als sicherere Alternative in Betracht gezogen werden können. Im Gegensatz zu den expliziten Kriterien sind implizite Kriterien Fragen, die zu jedem Arzneimittel beantwortet werden – eine Art geführte Medikationsanalyse. Sie sind damit sehr patientenspezifisch, aber auch zeitintensiv und abhängig von den Fähigkeiten der Anwenderin und den ihr zur Verfügung stehenden Informationen. In der Forschung gerne auch verwendet für Studien zu Medikationsoptimierungen, stellt der Medication Appropriateness Index (MAI) 10 Fragen (25, 26): Gibt es eine Indikation? Ist das Arzneimittel effektiv? Ist die Dosierung korrekt? Sind die Anwendungshinweise kor-
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rekt? Sind die Anwendungshinweise praktikabel? Gibt es signifikante Drug-Drug-Interaktionen? Gibt es signifikante Drug-Disease-Interaktionen? Liegt eine unzweckmässige Duplikation vor? Ist die Therapiedauer akzeptabel? Existiert eine kostengünstigere Alternative? Bei 5 Wirkstoffen sind das bereits 50 zu beantwortende Fragen, was sich nur für ausgewählte Situationen eignet: eben beispielsweise für Patienten mit Polypharmazie und einem erhöhten Risiko für unerwünschte Ereignisse. Dafür liegt beim Abschluss des MAI eine Hitparade der optimierungsbedürftigsten Arzneimittel vor, und der Absetzkandidat hat die meisten (unehrenhaften) Punkte. Werden diese teils bekannten, teils unbekannten Kriterien und Hilfsmittel vorgestellt, kommt jeweils die Rückfrage nach der Umsetzbarkeit in der Praxis bei eingeschränkten zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen. Wünschenswert wäre, wenn unser Gesundheitssystem (interprofessionelle) Medikationsanalysen und -optimierungen fördern würde, wie beispielsweise das P3S-Projekt «Physicians and pharmacists together improving patient’s medication safety» (sichere-medikation.ch). Bis dahin ist eine mögliche, alternative Antwort: Oft sind es wiederkehrende Wirkstoffklassen, die nicht mehr ganz in einen Medikationsplan passen. So erscheint es bei mangelnden Ressourcen als ein vertretbarer Weg, eine explizite Liste in einer ruhigen Stunde eingehend durchzusehen oder aber gar eine ausführliche Medikationsanalyse mit dem MAI 1-malig durchzuführen, um im Alltag dann mit einem Bauchgefühl und gesetzten orangen Warnlampen zu arbeiten.
Hilfsmittel für die Praxis
Zur Bearbeitung von klinisch-pharmazeutischen Fragestellungen wie kompletten Medikationsanalysen oder dem besten Ausschleichprozedere wird hin und wieder auf Informationsressourcen zugegriffen. Einige dieser frei zugänglichen Ressourcen sollen hier kurz vorgestellt werden. Die kuratierten Informationen sind sicherlich nicht immer über jeden Zweifel erhaben, können aber als erster Ankerpunkt für eigene Überlegungen dienen.
Lesetipps
▲ Wer noch mehr internationale Tools und Ressourcen kennenlernen möchte, insbesondere zum Thema Deprescribing, der sei auf den Übersichtsartikel von Emily Reeve aufmerksam gemacht: «Deprescribing tools: a review of the types of tools available to aid deprescribing in clinical practice» (28).
▲ Ein kürzlich erschienener systematischer Review mit Metaanalyse fasst die aktuelle Evidenz zu Medikationsanalysen und Deprescribing zusammen: «Clinical impact of medication review and deprescribing in older inpatients: a systematic review and meta-analysis» (29).
▲ Wer sich genauer mit dem Prozess von Deprescribing und der damit verbundenen Güterabwägung beschäftigen möchte, der darf sich bei der Publikation von Ian Scott inspirieren lassen: «Reducing inappropriate polypharmacy: the process of deprescribing» (14).
Deprescribing-Netzwerke und -Algorithmen Die Webseite deprescribing.org des auf Altersmedizin spezialisierten Bruyère Research Institute in Montréal wird mit viel Energie von Dr. Barbara Farrell betrieben. Die Webseite listet sogleich verschiedenste Deprescribing-Netzwerke von überall auf der Welt, wiederum mit eigenen hilfreichen Ressourcen. Deprescribing.org bietet für ausgewählte WirkstoffklassenEntscheidungsalgorithmenundkonkreteAbsetzprozedere, so auch für Protonenpumpeninhibitoren, die oft über ihre nutzbringende Zeit hinaus auf Medikationslisten bleiben oder aber nach einem allzu abrupten Stopp mit Rebound doch wieder einer Indikation zugewiesen werden.
Medstopper Kann das Medikament sofort gestoppt werden, oder sollte es langsamer ausgeschlichen werden? Welche Symptome könnten denn bei zu schnellem Absetzen auftreten? Die Webseite medstopper.com liefert hierzu erste Antworten. Gefüttert wird die Webseite, die sich seit Jahren in der Beta-Version befindet, von einem internationalen, interdisziplinären Team. Medstopper bietet wie auch TaperMD.com hinsichtlich Absetzprozederen angenehm konkrete Empfehlungen und weist auch auf Absetzsymptome hin.
The NNT Wird von Nutzen und Risiken gesprochen, fällt bald auch der Begriff «Evidenz». Bei der heutigen Forschungsgeschwindigkeit hierzu den Überblick zu behalten, ist schwierig. Sich von raffinierten Studiendesigns nicht blenden zu lassen ebenfalls. Hier helfen Veröffentlichungen wie pharma-kritik von Dr. Etzel Gysling oder das französische Prescrire ungemein. Die englische Webseite thennt.com (von «number needed to treat») macht die kritische Durchsicht der Evidenz noch etwas plakativer und präsentiert deshalb gleich nackte Zahlen und einen Farbencode.
Interaktionsdatenbanken In den meisten Praxis-, Apotheken- und Kliniksystemen sind heute automatische Interaktionsprüfungen hinterlegt. Trotz Over-Alerting und Alert-Fatigue bieten die Systeme ein schnelles Screeninginstrument. Wird die gewünschte Interaktionsstufe erhöht, kann die Sensitivität etwas reduziert werden. Die Systeme greifen auf kuratierte Datenbanken zu, weshalb sich die Informationen und Einschätzungen je nach bearbeitendem Team unterscheiden können. Deshalb kann es hilfreich sein, bei kritischeren Fragestellungen einen Vergleich zu machen. mediQ.ch ist eine weitere, kostenpflichtige Datenbank, die von den Psychiatrischen Diensten Aargau und von Kooperationskliniken gepflegt wird. Die Darstellung bleibt auch bei vielen Wirkstoffen übersichtlich, und die Interaktionstexte sind nuanciert. Ebenso übersichtlich ist die tabellarische Darstellung der Substrate der CytochromP450-Isoenzyme und des P-Glykoproteins (P-gp), entwickelt durch die Spitalapotheke der Hopitaux Universitaires Geneve (HUG). Das PDF ist im Internet frei verfügbar und eignet sich als kleines Poster. Noch etwas weiter geht DDI-predictor.org, entstanden aus einer Arbeitsgruppe aus Lyon: DDI-predictor quantifiziert das Ausmass von pharmakokinetischen und pharmakogenetischen Interaktionen sogar. Durch die Angabe der erwarteten Veränderung in der Plasmakonzentrations-
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LINKTIPPS
Deprescribing � deprescribing.org rosenfluh.ch/qr/deprescribing
� medstopper.com rosenfluh.ch/qr/medstopper
� TaperMD.com rosenfluh.ch/qr/tapermd
Evidenz
� pharma-kritik rosenfluh.ch/qr/pharma-kritik
� thennt.com rosenfluh.ch/qr/thennt
� Prescrire rosenfluh.ch/qr/prescrire
Interaktionsdatenbanken � mediQ.ch rosenfluh.ch/qr/mediq
� DDI-predictor.org rosenfluh.ch/qr/ddi-predictor
QT-Intervall-Verlängerung � CredibleMeds.org rosenfluh.ch/qr/crediblemeds
� MedSafetyScan.org rosenfluh.ch/qr/medsafetyscan
STOPP- und START-Kriterien � PIMCheck.org rosenfluh.ch/qr/pmcheck
� Referenz 27 (O›Mahony et al. 2015, siehe Appendix)
rosenfluh.ch/qr/stoppstart-omahonyetal
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kurve lassen sich so notwendige Dosisanpassungen vorhersagen. So finden sich dort auch die bereits erwähnten Beispiele zu Clarithromycin-Atorvastatin und Ciprofloxacin- CYP2D6Polymorphismus-Duloxetin.
QT-Intervall-Verlängerung
Oft finden sich in den Fachinformationen Hinweise zu potenziellen QT-Intervall-Verlängerungen. Die daraus resultierenden Interaktionsmeldungen sind wenig nuanciert und generieren gerade im Bereich der Psychopharmaka häufig Rückfragen und Unsicherheiten. CredibleMeds.org bietet nach kostenloser Registrierung Zugriff auf eine sorgfältig kuratierte Datenbank, die sogar beim vorsichtigen Quantifizieren des Risikos durch die einzelnen Arzneimittel helfen kann. Die Weiterentwicklung MedSafetyScan.org geht dabei einen Schritt weiter und berücksichtigt auch aktuell vorliegende Komorbiditäten und Elektrolytstörungen, bevor das Tool durch einen Abgleich mit einem Patientenkollektiv sogar Empfehlungen abgibt.
Die START-Kriterien
Vor lauter Hinterfragen und Absetzen sollte nicht vergessen
werden, dass Arzneimittel auch Gutes bewirken. Mit ihren
START(Screening Tool to Alert to Right Treatment)-Kriterien
haben irische Forscher deshalb eine Checkliste für einige
wichtige Therapien zusammengestellt und diese neben den
gegenteiligen STOPP-Kriterien frei verfügbar publiziert; ein
nützliches Tool, um nebst dem Overprescribing auch das
Underprescribing bei älteren Patienten anzugehen. Die tat-
sächlichen Kriterien sind im Appendix des Onlineartikels
versteckt (27). Übrigens bieten die HUG via PIMCheck.org
eine kleine Applikation, die je nach Indikation direkt zu Star-
tendes oder zu Stoppendes vorschlägt.
s
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Dominik Stämpfli
Eidg. dipl. Apotheker, Fähigkeitsausweis FPH klinische Phar-
mazie
Fachspezialist, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften,
ETH Zürich
Apotheker, Spitalapotheke, Kantonsspital Baden
dominik.staempfli@pharma.ethz.ch
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