Transkript
FORTBILDUNG
Aktualisiert: Schweizer Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen
Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) hat ihre Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen in einer vollständig überarbeiteten Version neu herausgegeben. Der folgende Beitrag beinhaltet die allgemeinen Empfehlungen zur Behandlung der wichtigsten Kopfschmerzarten bei Erwachsenen.
SKG
Die Therapieempfehlungen der SKG richten sich vor allem an Hausärzte und fassen den aktuellen Stand der evidenzbasierten Kopfschmerztherapie zusammen. Um die Anwendbarkeit in der klinischen Praxis zu gewährleisten, konzentriert sich die Guideline auf die zentralen Aspekte der Therapie bei Kopfschmerzen. Als Ergänzung zur vertieften Information empfehlen die SKG-Experten die deutschsprachigen Leitlinien zur Behandlung von Kopfschmerzen, die gemeinsam von den deutschen, österreichischen und schweizerischen Fachgesellschaften erarbeitet wurden (siehe Linktipps). Bei primären Kopfschmerzen sind definitionsgemäss keine anderen zugrunde liegenden Leiden bekannt und keine organischen Läsionen nachweisbar. Als wichtigste primäre Kopfschmerzformen gelten Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerzen, die jeweils episodisch oder chronisch auftreten können. Die Diagnose erfolgt nach den aktuellen Kriterien der International Headache Society (International Classification of Headache Disorders, 3rd edition; ICHD-3) sowie der International Classification of Orofacial Pain, 1st edition (ICOP; siehe Linktipps). In einem Algorithmus haben die Experten die Vorgehensweise zur Diagnose der verschiedenen Erscheinungsformen im Überblick dargestellt (Abbildung).
Management
Das oberste Ziel der Behandlung von Patienten mit primären Kopfschmerzen besteht in einer Verbesserung der Lebensqualität. Dazu wird ein personalisierter und den Symptomen angepasster Therapieplan erstellt. Im Rahmen des Managements soll die Eigenverantwortung des Patienten gestützt und
MERKSÄTZE
� Bei primären Kopfschmerzen sind keine anderen zugrunde liegenden Ursachen nachweisbar.
� Als wichtigste primäre Kopfschmerzarten gelten Migräne, Cluster- und Spannungskopfschmerzen.
� Bei einer Daueranwendung von Akutmedikamenten kann es zu Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜKS) kommen.
Steckbrief
Wer hat die Guideline erstellt? Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG)
Wann wurde sie erstellt? 2023
Für welche Patienten? Erwachsene, Jugendliche und Kinder mit primären Kopfschmerzen.
Was ist neu? ▲ Alle Empfehlungen wurden umfassend überarbeitet.
von einer unkontrollierten Selbstmedikation − insbesondere mit Analgetika − abgeraten werden. Die Behandlung erfolgt in erster Linie durch den Hausarzt. Eine Überweisung zum Spezialisten ist nur bei diagnostischer Unsicherheit oder Therapieresistenz erforderlich.
Migräne
Akute Migräneattacken: Das Ziel der Attackentherapie besteht in einer möglichst schnellen und deutlichen Linderung der Kopfschmerzen und der damit verbundenen Symptome. Bei leichten Kopfschmerzen reichen oft nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Acetylsalicylsäure (ASS; Aspirin® und Generika), Diclofenac (Voltaren® und Generika), Ibuprofen (Brufen® und Generika), Mefenaminsäure (Ponstan® und Generika), Naproxen (Apranax® und Generika) oder andere Analgetika wie Metamizol (Novalgin® und Generika) oder Paracetamol (Panadol® und Generika) aus. Letzteres gilt als Medikament der zweiten Wahl, wenn eine Kontraindikation gegen NSAR vorliegt. Bei mittelgradigen und starken Kopfschmerzen sind die migränespezifischen Triptane Almotriptan (Almogran® ), Eletriptan (Relpax® und Generika), Frovatriptan (Menamig® ), Naratriptan (Naramig® ), Rizatriptan (Maltax® und Generika), Sumatriptan (Imigran® und Generika) oder Zolmitriptan (Zomig® und Generika) eine geeignete Option. Zur Sicherstellung der Resorption der Akutmedikamente kann bei einer relevanten Einschränkung der Gastrokinetik die Applikation der Antiemetika Domperidon (Motilium®
ARS MEDICI 15+16 | 2024
351
FORTBILDUNG
Kopfschmerzen ohne akute oder chronische Warnsignale für Läsionen
Kopfschmerzcharakter
andauernd, wellenförmig, dumpf, meist bilateral
anfallsartig, heftig, meist einseitig
Kopfschmerzdauer
ab 15 Tage pro Monat
30 Minuten bis 7 Tage bis 15 Tage pro Monat
pro Attacke < 3 Minuten; wdh. Attacken, elektrisierender Schmerz 15 Minuten bis 3 Stunden 4 Stunden bis 3 Tage (auch bilateral) Kopfschmerztyp chronische Spannungskopfschmerzen episodische Spannungskopfschmerzen Neuralgie Clusterkopf- schmerzen Migräne Warnsignale: 1. neurologische Ausfälle 2. systemische Zeichen (Fieber, Meningismus) 3. allgemeine internistische Zeichen 4. Bewusstseinsstörungen 5. Alter > 50 Jahre 6. ungewohnte Intensität und Dauer der Schmerzen 7. progrediente Schmerzen 8. Therapieresistenz
Im Nottfall oder bei Warnsignalen: Überweisung an Spital oder Spezialisten.
Abbildung: Algorithmus zur Diagnose primärer Kopfschmerzen (adaptiert nach SGK).
und Generika) oder Metoclopramid (Primpéran® , Paspertin®) erwogen werden. Bei Kontraindikationen oder Wirkungslosigkeit oraler Analgetika können ASS, Diclofenac oder Metamizol intravenös appliziert werden. Zur nasalen Anwendung stehen Sumatriptan (auch subkutan) oder Zolmitriptan zur Verfügung.
Langzeitprophylaxe Eine Langzeitprophylaxe ist bei mehr als 3 Attacken im Monat oder einer Dauer von mehr als 5 Tagen sowie bei sehr schweren oder lang andauernden Attacken, ungenügender Wirksamkeit von Akutmedikamenten und Medikamentenübergebrauch sinnvoll. Zur Langzeitprophylaxe können nicht medikamentöse Massnahmen wie aerobes Ausdauertraining, eine psychotherapeutische Begleitung (z. B. Verhaltenstherapie), Entspannungstechniken (z. B. progressive Muskelrelaxation, autogenes Training, Biofeedback) oder Akupunktur von Nutzen sein. Als evidenzbasierte nicht invasive neuromodulative Verfahren stehen die transdermale Elektrostimulation des Trigeminus- beziehungsweise des Vagusnervs (TNS/VNS), zum Beispiel mit Cefaly® (TNS) oder gammaCore® (VNS), die REN (remote electrical neuromodulation), die transkranielle Gleichstromstimulation (transcranial direct current stimulation, tDCS) und die transkranielle Magnetstimulation (TMS) zur Verfügung. Zur medikamentösen Langzeitprophylaxe eignen sich die Antidepressiva Amitryptilin (Saroten® ), Duloxetin (Cymbalta® und Generika), Trimipramin (Surmontil® und Generika) und Venlafaxin (Efexor® und Generika), die Antikonvulsiva Lamotrigin (Lamictal® und Generika), Topiramat (Topamax® und Generika) und Valproat (Depakine® und Generika). Da sich Topriamat und Valproat in Studien als teratogen erwiesen haben, ist vor und während der Behandlung eine sichere Antikonzeption erforderlich. Zur Blutdruck-
senkung empfehlen die Experten Bisoprolol (Concor® und Generika), Metoprolol (Beloc ZOK® und Generika), Propranolol (Inderal® und Generika), Candesartan (Atacand® und Genrika) oder Lisinopril. Als natürliche Substanzen sind Coenzym Q10, Magnesium, Melatonin, Pestwurz oder Riboflavin (Vitamin B2) bei manchen Patienten zur Prophylaxe von Nutzen. Die CGRP(calcitonin gene-related peptide)-Antikörper Eptinezumab (Vyepti® ), Erenumab (Aimovig® ), Fremanezumab (Ajovy® ) oder Galcazenumab (Emgality® ) sind nur vom Neurologen verschreibbar. Medikamente zur Behandlung akuter Migräneattacken sollen aufgrund des Risikos für die Entwicklung von Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen (MÜKS) nicht über einen längeren Zeitraum angewendet werden.
Chronische Migräne Zur Therapie der chronischen Migräne empfehlen die SKG-Experten Botulinumtoxin Typ A, die oben genannten CGRP-Rezeptor-Antikörper oder Topiramat sowie die CGRP-Antagonisten Rimegepant (Vydura® ) oder Atogepant (Aquipta® ).
Clusterkopfschmerzen
Patienten mit Clusterkopfschmerzen sollen vom Hausarzt und einem Neurologen gemeinsam betreut werden. Zur Akutbehandlung eignen sich eine Inhalation von 100-prozentigem Sauerstoff (O2) über eine Maske sowie Sumatriptan (s.c. oder Nasenspray) oder ein Zolmitriptannasenspray. Zur kurzfristigen Linderung kann auch ein wiederholter Prednisonstoss (p.o.) oder eine Infiltration des Nervus occipitalis major (beim Spezialisten) vorgenommen werden. Für die Langzeitprophylaxe von Clusterkopfschmerzen empfehlen die Experten Verapamil (Isoptin® und Genrika), Lithium (z. B. Quilonorm® ), Melatonin (Circadin® und Generika), Topiramat oder Valproat. In therapierefraktären Fällen
352
ARS MEDICI 15+16 | 2024
LINKTIPPS
FORTBILDUNG
Leitlinien zur Behandlung von Kopfschmerzen
Verfügung. Multidisziplinäre Behandlungsprogramme sind bei Patienten mit Spannungskopfschmerzen erfolgreicher als medikamentöse oder nicht medikamentöse Verfahren allein.
https://www.rosenfluh.ch/qr/dgn-leitlinien-zur-behandlung-von-kopfschmerzen
International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (ICHD-3)
https://www.rosenfluh.ch/qr/ichd-3-am
International Classification of Orofacial Pain, 1st edition (ICOP)
Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen
Bei häufiger Einnahme von Akutmedikamenten (Analgetika und Triptane) besteht die Gefahr einer Chronifizierung zu MÜKS. Alle Patienten − und vor allem diejenigen mit chronischer Migräne oder chronischem Spannungskopfschmerz − und/oder Personen, die Akutmedikamente an mehr als 10 Tagen/Monat einnehmen, sollten über dieses Risiko aufgeklärt werden. Bei MÜKS ist eine Medikamentenpause (Entzug) über 2 bis 4 Wochen eine wirksame Behandlungsoption. In leichteren Fällen kann der Entzug ambulant erfolgen. Währenddessen sind eine engmaschige ärztliche Betreuung und die Einleitung einer medikamentösen Prophylaxe erforderlich. Falls der Entzug misslingt oder ein Scheitern voraussehbar ist, erfolgt das Absetzen der Medikamente in einer spezialisierten Klinik. Hier beträgt die Aufenthaltsdauer für den alleinigen Entzug 7 bis 14 Tage. In schwierigen Fällen kann eine spezifische rehabilitative Weiterbehandlung über 2 bis 4 Wochen erforderlich sein.
https://www.rosenfluh.ch/qr/icop-1
kann eine bilaterale Stimulation des N. occipitalis erwogen werden.
Spannungskopfschmerzen
Zur Akutbehandlung von Kopfschmerzen vom Spannungstyp sind Analgetika/NSAR an maximal 10 Tagen pro Monat in adäquater Dosierung eine geeignete Option. In manchen Fällen sind auch nicht medikamentöse Optionen wie das lokale Einmassieren von Pfefferminzöl, Entspannungsübungen oder körperliche Aktivität von Nutzen. Zur Langzeitprophylaxe chronischer Spannungskopf schmerzen eignen sich tägliche Entspannungsübungen, Ausdauertraining (3-mal wöchentlich 30–45 min), Biofeedback, manuelle Therapien in Kombination mit Sport und/oder Elektrostimulation. Für eine medikamentöse Behandlung stehen die Antidepressiva Amitriptylin, Duloxetin, Mirtazapin oder Venlafaxin zur
Trigeminusneuralgie und andere kraniale Neuralgien
Bei Neuralgien empfehlen die Experten Carbamazepin (Tegretol® und Generika) als Medikament der 1. Wahl. Während der Behandlung ist eine Kontrolle der Leberparameter und Elektrolytwerte (Hyponatriämie) erforderlich. Auch ist zu beachten, dass es zu allergischen Reaktionen oder kognitiven Nebenwirkungen kommen kann. Medikamente der 2. Wahl sind Oxcarbazepin (Trileptal®; cave: Hyponatriämie, allergische Hautreaktionen), Gabapentin (Neurontin® und Generika), Pregabalin (Lyrica® und Generika), Lamotrigin und Valproat. Als Medikamente der 3. Wahl können Clonazepam (Rivotril®) und trizyklische Antidepressiva wie Clomipramin (Anafranil®) und Amitryptilin erwogen werden.
Weitere Empfehlungen
Ergänzend zu diesen allgemeinen Empfehlungen beinhaltet
die überarbeitete Leitlinienfassung spezielle Empfehlungen
zur Behandlung von Kopfschmerzen bei Frauen, Kindern und
Jugendlichen sowie zu chirurgischen Eingriffen und interven-
tionellen Therapien.
s
Petra Stölting
Therapieempfehlungen für primären Kopfschmerz der Kopfwehgesellschaft
https://www.rosenfluh.ch/qr/therapie_prim_kopfschmerz
Quelle: Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG): Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen – inklusive Kopfschmerzalgorithmus für die Hausärztin und den Hausarzt. Stand: 2023.
In den Empfehlungen werden lediglich generische Namen genannt, die Beispielangaben in Klammern wurden zur leichteren Orientierung durch die Redaktion ergänzt.
ARS MEDICI 15+16 | 2024
353